„Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“
Christen und Juden – Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum
von Ernst Lippold

Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum – das sind Schritte auf einem langen Weg. Was wir sehen können, wenn wir auf den Weg der Geschichte zurückblicken, der hinter uns liegt, und was wir gerade als Deutsche da auch sehen müssen, will ich zu Beginn kurz ansprechen. Wenn wir uns heute die Frage nach dem Verhältnis von Christen und Juden stellen – wo kommen wir da her?

Das Verhältnis der Kirche zum Judentum war niemals unproblematisch. Seit die christliche Kirche am Ende des Römischen Weltreiches und im beginnenden Mittelalter zur bestimmenden Geistesmacht in Europa geworden war, ja weithin auch zu einer mitbestimmenden Macht im politischen Raum, gibt es antijudaistische Motive, Einstellungen, Kräfte, Maßnahmen. Ohne Zweifel hat das eine christliche Wurzel. Davon werden wir zu reden haben. Aber auch anderes spielt mit: Juden waren die einzigen „Fremden“ in der christlich geprägten Gesellschaft in den europäischen Ländern. Eine verbreitete emotionale Ablehnung begegnete ihnen, nicht nur in Deutschland. Territoriale Herrscher hatten ein Interesse an der religiösen Einheitlichkeit ihres Gebietes – da störten nicht nur Juden, sondern – je nach Situation – auch Protestanten oder Täufer. Hinzu kam nicht selten wirtschaftlicher Neid: das Zerrbild des Geldjuden ist ein Ausdruck dafür. Und nicht unwichtig: die Juden waren eine Minderheit, das prädestinierte sie für die Rolle von Sündenböcken, wo immer Schuldige gesucht wurden für große Schicksalsschläge wie Seuchen oder wirtschaftliche Notlagen. Die klassischen Beschuldigungen, die zu Pogromen führten, waren Brunnenvergiftung, Hostienfrevel und Ritualmord. Es ist eigentlich unfassbar, wie solche böswillig erfundenen Beschuldigungen für glaubwürdig und juristisch verfolgbar gehalten werden konnten. Und sie hatten Folgen: Tod auf dem Scheiterhaufen, Enteignung, Vertreibung.

Ein betrübliches Kapitel in dieser unheilvollen Geschichte, gerade für uns Deutsche, ist der Antijudaismus Luthers in seinen späten Schriften. Hatte er sich noch in seiner frühen Schrift von 1523 „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ noch gegen die Diskriminierung von Juden und jüdischen Lebensformen gewandt und ihre Integrierung in die Gesellschaft befürwortet, so verfällt er 20 Jahre später in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ in den gängigen Trend verwurzelter Judenfeindschaft. Vielleicht spielte da auch Enttäuschung mit darüber, dass die Reformation, trotz ihres Rufs zur Freiheit, die Juden nicht für Christus gewinnen konnte. Luther geht jetzt soweit, der Obrigkeit ein Verbot jüdischer Religionsausübung zu empfehlen – bis hin zur Verbrennung von Synagogen - ein Berufsverbot für jüdische Händler, ja, Zwangsarbeit für junge jüdische Menschen. Er sieht in der gesellschaftlichen Präsenz von Juden jetzt eine Gefahr für das Land und die Kirche. Was er vertritt, nennt er „eine scharfe Barmherzigkeit“ – da klingt noch mit, dass er sich eigentlich die Bekehrung der Juden zum christlichen Glauben gewünscht hätte und immer noch hofft, dass sich doch der eine oder andere Jude durch die zu treffenden Maßnahmen von seinem bösen Wesen bekehrt. Er stellt die Juden jetzt in die Reihe der großen Gefährdungen: Juden, Türken und Papst stehen in einer Reihe und sind abzuwehren. - Das war wohl nicht der große Reformator, der da sprach, sondern „ein irregeleiteter Theologieprofessor“ , aber eben doch derselbe Luther. Luthers später Antijudaismus war übrigens kein Merkmal der Reformation insgesamt: Urbanus Rhegius, Justus Jonas und Andreas Osiander z. B. machten da nicht mit.

Gibt es von Luther eine direkte Linie zum Antisemitismus Hitlers? Nein, das nicht. Für Luther war es undenkbar, dass die Juden ermordet werden sollten. Der Antisemitismus des deutschen Nationalsozialismus richtete sich gegen die Juden nicht deshalb, weil sie keine Christen sein wollten, dieser Gedanke spielte für sie keine Rolle. Sie waren zur Ausrottung verdammt, weil sie angeblich einer „Rasse“ angehörten, die für alles Unglück in der Weltgeschichte verantwortlich gemacht wurde. Dazu gehörte die hanebüchene Behauptung, die Juden strebten eine Weltherrschaft an. Das Programm einer „Endlösung der Judenfrage“, nämlich ihrer organisierten Ermordung, wie es auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 beschlossen wurde, fällt heraus aus der ohnehin schon üblen Weltgeschichte der Judendiskriminierung, das war eine neue Qualität. Die Shoa setzt ein Datum, von dem her das Verhältnis von Kirche und Judentum ganz neu zu bedenken und zu gestalten ist.

Man wird allerdings zugestehen müssen, dass der gängige christliche Antijudaismus mit dazu beigetragen hat, einen Boden zu bereiten, auf dem auch Hitlers Antisemitismus gedeihen konnte. Insofern können wir uns als evangelische und katholische Christen nicht einfach freisprechen.

Noch einen Blick in die deutsche Geisteslage in der Zeit vor dem Nationalsozialismus. Wie war da die Stimmung gegenüber Juden? Ich zitiere Wilhelm Busch. In seiner Bildergeschichte von den beiden Hunden Plisch und Plum stellt er einen Juden vor, dem die beiden schlecht erzogenen Hunde die Hose zerrissen haben, sehr zum Entsetzen des Herrn Fittich, eines typischen deutschen Spießbürgers, der mit saurer Miene nun bezahlen muss. Also, wie sieht der Jude aus?

Kurz die Hose, lang der Rock,
Krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau –
So ist Schmulchen Schievelbeiner,
(Schöner ist doch unsereiner).

Das ist gewiss nicht freundlich gesagt und strotzt von Vorurteilen. Emotionale Abneigung ist offenkundig. Dennoch ist Wilhelm Busch kein erklärter Antisemit gewesen. Ähnliche Karikaturen hat er auch vom Pater Filucius, dem Jesuiten, geliefert oder vom Lehrer Lämpel oder dem Predigtkandidaten Jobst. Also doch nur Scherz? Oder doch Gehässigkeit?

Ein Gegenbeispiel für das Bild eines Juden, sogar eines typischen „Geldjuden“, liefert Fritz Reuter in „Ut mine Stromtid“ . Der jüdische Geldverleiher Moses aus Rahnstädt (ein Abbild des Bankiers Moses Isaak Salomon aus Stavenhagen) ist der einzige wirklich anständige und gerecht denkende Mensch in einem Umfeld, wo verkrachte Gutsbesitzer und – pächter einander begaunern und ums Geld bringen wollen.

Meine Großeltern in Stargard/Pommern (heute Polen) wohnten in einem Haus, das dem jüdischen Seifenfabrikanten Ephraim gehörte. Dessen Familie wohnte unten, oben im Haus meine Großeltern mit Sohn, Schwiegertochter und Enkeln. Die Familien waren eng befreundet, mir wurde erzählt: zu Weihnachten kamen die jüdischen Kinder nach oben, zu Chanukka die christlichen nach unten. 1938 war das zuende, die jüdische Familie zog nach Berlin, von dort weiter, wer weiß wohin? Im November brannte auch die Stargarder Synagoge. Was danach kam, war nicht nur für uns, sondern auch für viele Juden unvorstellbar. Wir müssen ganz von neuem anfangen mit dem Nachdenken über das Verhältnis von Christen und Juden.

Die Stunde dafür war gekommen, als der 2. Weltkrieg zuende war und Deutschland politisch, wirtschaftlich, ja gutenteils auch kirchlich vor lauter Trümmerhaufen stand. Ein erstes Signal war das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ des Rates der EKD vom 19. Oktober 1945. Gegenüber Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen, die gekommen waren, wurde ausgesprochen: „Wir sind für diesen Besuch umso dankbarer, als wir uns mit unserm Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden … Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Das waren wichtige Worte. Aber die brennende Wunde, die theologische Frage nach dem Verhältnis zum Judentum, blieb unbehandelt.

In diese Lücke hinein, im Jahr 1948, meldete sich der Bruderrat der EKD (früher „Reichsbruderrat“) mit seiner ganz traditionellen Auffassung: „ Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und Bestimmung verworfen. … Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, aus Juden und Heiden, übergegangen. … Daß Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals. “ Da hatte man also gar nichts gelernt! Das konnte so nicht stehen bleiben. Die Synode der EKD widersprach deutlich mit ihrem „Wort zur Judenfrage“ von April 1950. Da hieß es dann: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist. Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.“ Ein weiterer wichtiger Schritt! Aber noch einmal folgte ein langes Schweigen.

Erst 1967 berief der Rat der EKD seine Studienkommission „Kirche und Judentum“ und erst 1975 trat er mit der Veröffentlichung der Studie „Christen und Juden“ (I) an die Öffentlichkeit. Diese Studie beschreibt die gemeinsamen Wurzeln von Kirche und Judentum, das Auseinandergehen der Wege und die Situation von Christen und Juden heute. Sie ist bemüht um Verständigung und beweist Achtung vor dem Judentum, die theologischen Fragen werden aber eher angedeutet als bearbeitet. Das war vielleicht auch gar nicht verkehrt, denn nun wurde das Thema in den Landeskirchen der EKD aktuell.

 Einen Paukenschlag setzte die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland 1980 mit ihrer Erklärung „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“. Darin heißt es: „Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet. Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Volk Gottes und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit Israel hineingenommen ist.“ Dem folgt die Synode Evangelisch-reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland. Sie nimmt 1988 einen vergleichbaren Satz in ihre Kirchenordnung auf. „Gott hat Israel zu seinem Volk erwählt und nie verworfen. Er hat in Jesus Christus die Kirche in seinen Bund hineingenommen. Deshalb gehört zum Wesen und Auftrag der Kirche, Begegnung und Versöhnung mit dem Volk Israel zu suchen.“ In den Bund Gottes mit seinem Volk Israel hineingenommen?! Das ist eine sehr diskussionswürdige Formulierung. Schießt das nun nicht über das Ziel hinaus? Gibt es denn gar keinen neuen Bund in Christus, sondern nur eine Eingemeindung in den „alten“ Bund Israels? Was werden denn Juden sagen zu dieser - ich möchte fast sagen: Einquartierung? Immerhin: eine theologische Debatte war damit eröffnet.

Acht weitere Landeskirchen haben sich in der Folge zur Frage geäußert, Synodalbeschlüsse erfolgten 1984 in Baden, in der ev.-ref. Kirche in Nordwestdeutschland und in Berlin-Brandenburg (West), 1985 in Greifswald, 1988 in Württemberg und Sachsen, 1990 in Berlin-Brandenburg (Ost) und in der Pfalz. Dazu kamen Erklärungen der VELKD, der EKD zusammen mit dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und des Reformierten Bundes.

Im Jahr 1991 veröffentlichte der Rat der EKD dann seine Studie „Christen und Juden“ (II). Sie trägt den Untertitel „Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum“. Der bisher erreichte Konsens wird umrissen: gemeinsam ist allen maßgeblichen kirchlichen Voten die Absage an den Antisemitismus, das Eingeständnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust, die unlösbare Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum, die bleibende Erwählung Israels und die Anerkennung dessen, dass der Staat Israel für das Judentum religiöse Bedeutung hat. Und die theologische Diskussion wird fortgesetzt. Das gilt auch wiederum für die Landeskirchen. Bis zum Jahr 2000 haben weitere Landeskirchen sich zur Sache geäußert. Sieben Landeskirchen haben eine Aussage zum Verhältnis zum Judentum sogar in ihre Grundordnungen, also in ihre Krchenverfassung, aufgenommen. Das waren, bereits1988, die Ref. Kirche, 1991 Hessen und Nassau, 1995 die Pfalz, 1996 das Rheinland und Berlin-Brandenburg, 1997 Pommern, 1998 Lippe. In Bayern wird gegenwärtig heftig darüber diskutiert.

Der Satz, den die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau 1991 in ihre Kirchenordnung eingefügt hat, lautet: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ Die Pfalz hat sich wie die Reformierte Kirche bei ihrer Verfassungsänderung 1995 von der Rheinischen Hineinnahme-These inspirieren lassen. Ihre Formulierung lautet. „Durch ihren Herrn Jesus Christus weiß sie sich hineingenommen in die Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk Israel – zum Heil für alle Menschen. Zur Umkehr gerufen, sucht sie Versöhnung mit dem jüdischen Volk und tritt jeder Form von Judenfeindschaft entgegen.“ Das ist etwas vorsichtiger formuliert: hineingenommen nicht in den Bund Israels, sondern in die Verheißungsgeschichte Israels, wobei man allerdings hinzudenken muss, dass diese Geschichte in Christus auch über Israel hinausgeht. Neuerdings hat die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, entstanden aus der Fusion der Kirchen in Thüringen und der Kirchenprovinz Sachsen, diese mildere aber doch nicht völlig klare Formulierung in ihre neue Kirchenverfassung aufgenommen. Es heißt dort: “Durch Jesus Christus steht die Kirche in der Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel, bleibend gültig für alle Menschen.“ Was meint da „bleibend gültig“? Wenn der Bund Gottes mit Israel gemeint ist, dann liegt das im breiten Konsens. „Für alle Menschen gültig“ ist aber doch nicht der Israelbund, sondern der neue, der in Christus gestiftete Bund, der über Israel hinausreicht und eine über Israel hinausreichende Verheißung hat. - Die Rheinische Landessynode hat übrigens 16 Jahre nach ihrer Erklärung von 1980, die die Wellen der theologischen Diskussion so hoch gehen ließ, eine verhältnismäßig kurze Formulierung für ihre Kirchenordnung beschlossen. Es heißt jetzt dort: „Sie bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Die Hineinnahme-These ist im Rheinland nicht in die Kirchenordnung aufgenommen worden.

Im Jahr 2000 erschien dann die dritte und abschließende Studie der EKD „Christen und Juden“ (III). Es wird wiederum die Entwicklung seit der Studie II resumiert. Neue landeskirchliche Erklärungen sind hinzugekommen: 1993 Oldenburg, 1994 Westfalen, 1995 Hannover, 1997 Hessen und Nassau, 1998 Bayern und Mecklenburg. Dann wendet sich die Studie aber den beiden großen immer noch offenen Fragen zu: Wie ist der Bund Gottes – mit Israel, mit der Kirche? – theologisch zu denken? Und: Was bedeutet die bleibende Erwählung Israels im Blick auf den christlichen Missionsauftrag, also die Frage der Judenmission. Mit beidem werden wir uns zu beschäftigen haben. Schließlich werden Handlungsfelder beschrieben, auf denen Christen und Juden gerufen sind, gemeinsam aktiv zu sein. Da geht es um Menschenrechte, Bewahrung der Schöpfung, Sonntagsschutz bzw. Sabbatruhe, Minderheitenschutz, Formen des Gedenkens und – besonders aktuell – Land und Staat Israel.

Mit dem Abschluss der EKD-Studien ist es schwieriger geworden, die weitere Entwicklung zu verfolgen. Auch die verdienstvollen Dokumentenbände „Die Kirchen und das Judentum“ hrsg. von Rolf Rendtorff, Hans Herman Henrix und Wolfgang Kraus haben (bisher) über das Jahr 2000 hinaus keine Fortsetzung gefunden. An den theologischen Fragen muss jedoch weiter gearbeitet werden. Einen Einblick in die bestehenden Fragen wollen wir an drei Punkten versuchen.

Zuerst: Wie verhält sich die Berufung der Kirche zur Erwählung Israels? Israel ist Gottes Bundesvolk, das ist biblisch unstrittig, aber auch die Kirche versteht sich als Volk Gottes, als Volk des neuen Bundes.  Locus classicus dafür ist die Abendmahlsüberlieferung: „Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ (Mk14,24, Mt 26,28). Ist damit gemeint: der Israelbund ist erledigt, ist ersetzt durch den neuen Bund in Christi Blut? Manche Stellen bei den Synoptikern scheinen das so zu verstehen. Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern etwa, die auf die Sendboten des Herrn des Weinbergs nicht hören und dessen Sohn am Ende töten, denen wird der Weinberg genommen und andern gegeben (Mk 12, 1 – 12 parr.). Das ist doch Enterbung, jedenfalls als Androhung. Oder der Hebräerbrief, der den ersten Bund mit Mose in schroffen Gegensatz setzt zu Christus, dem wahren Hohepriester und Mittler des neuen Bundes. Im 11. Kapitel wird der Glaubensweg des alten Bundes mit den tragenden Personen ausführlich nachgezeichnet und dann heißt es: „Diese alle haben durch den Glauben Gottes Zeugnis empfangen und doch nicht erlangt, was verheißen war, weil Gott etwas Besseres für uns vorgesehen hat“ (Hebr 1139f.). Der alte Bund läuft ins Leere, der neue Bund allein führt an das Ziel der Verheißungen Gottes.

Diesen Stimmen im Neuen Testament setzt Paulus in Röm 9 – 11 dann aber eine ganz andere Wertung entgegen. Auch Paulus sieht es und leidet darunter, dass sich Israel der Glaubensgerechtigkeit in Christus weitgehend verschließt. Bedeutet dies aber, dass Israel seiner Heilsgüter und seines Bundes verlustig geht und ewig verloren ist? „So frage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne!“ (R11,1). Das heißt: davon kann keine Rede sein! Den Israeliten gehört nach wie vor „die Kindschaft und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen“ (R 9,4). Wenn Israel sich auch für eine Zeit der werdenden Kirche verschließt – und so den Heiden eine Chance gibt, zum Glauben zu kommen – dann wird doch am Ende „ganz Israel gerettet werden“ (R 9, 26). Denn „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“

(R 9, 29). Das ist die Botschaft des Neuen Testaments, auf die wir bauen und die uns den Weg weist zu einem neuen Verhältnis von Christen und Juden. Das wird der Gottesbeziehung beider gerecht und spielt nicht eins gegen das andere aus. Gewiss bedeutet das eine Schwerpunktsetzung in Neuen Testament, bei der wir vor allem auf Paulus hören. Mit dem Hebräerbrief und manchen Synoptikerperikopen mögen sich in dieser Sache die Gelehrten herumschlagen. Wir bleiben da ganz nahe bei dem Reformator Luther, der seine Rechtfertigungslehre ja auch vor allem bei Paulus gefunden und die ganze Bibel in diesem Licht gelesen hat.

Sodann: Was ergibt sich von hier für die umstrittene Frage der Judenmission? Paulus war Jude und alle Apostel waren Juden, und sie haben Juden und Heiden gepredigt. Kann und soll die Kirche das auch tun? Auch wenn sie heute ganz überwiegend aus „Heidenchristen“ besteht, also aus Menschen, die nicht zum jüdischen Volk gehören? Ich denke, wir sind das Zeugnis unseres christlichen Glaubens allen Menschen schuldig, Juden dabei nicht ausgenommen. Das Zeugnis gegenüber Juden hat aber keine besondere Dringlichkeit und verträgt schon gar keine Zudringlichkeit, denn sie sind uns durch die Bibel, durch das gemeinsame Alte Testament, ohnehin eng verbunden. Vor allem aber: Gottes Verheißung für sie wird sich am Ende erfüllen, wenn Christus wiederkommt und Gottes Werk vollendet. Deshalb betreiben unsere Kirchen auch keine Missionsarbeit, die sich speziell an Juden richten würde. Deshalb beschreiben die Begriffe Zeugnis, Begegnung, Dialog die Beziehung zum Judentum besser und sachgemäßer. Beide Seiten, Christen und Juden, können dabei etwas voneinander lernen – vor allem dies: einander zu respektieren und zu achten. Es gibt allerdings in letzter Zeit auch eine christliche Zuneigung zum Judentum, die manchmal auch übertreibt und den jüdischen Partner geradezu vereinnahmt, ihn sozusagen als den eigentlich besseren Christen versteht. Dazu sagt die Studie III der EKD: „Soll das christlich-jüdische Verhältnis auf eine neuen Basis gestellt werden, so muss an die Stelle der besitzergreifenden Umarmung eine behutsame Freundschaft treten mit soviel Distanz, wie der andere sie braucht.“

Schließlich: wie stehen wir als Christen zum Staat Israel? Für viele gläubige Juden ist Israel das verheißene Land, also nicht nur eine politische, sondern eine religiöse Gegebenheit. Auch knüpft die Gründungsurkunde des Staates Israel ausdrücklich an biblische Traditionen an. Andererseits lebten und leben in dem Land, das seit Jahrhunderten Palästina hieß, auch die Palästinenser (soweit sie nicht geflohen sind oder vertrieben wurden). Wie stehen wir dazu? Eine religiöse Begründung für den Staat Israel macht sich die Synodalerklärung der Rheinischen Kirche von 1980 zu eigen, nämlich „ die Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk Israel sind“ Ähnlich, wenn auch etwas zurückhaltender, hat sich 1990 der Reformierte Bund geäußert.

Die EKD-Studie III weist zwar auch hin auf die enge Verbindung von Bundesverheißung und Landverheißung im Alten Testament, sie respektiert, dass das Land also für das Judentum auch eine religiöse Bedeutung hat. Aber sie sieht auch die „Gefahr missbräuchlicher Benutzung biblischer Texte für die eigenen Interessen“ und sagt dann zum Staat Israel „Sein Existenzrecht ist völkerrechtlich unbestreitbar und bedarf keiner theologischen Legitimation.“ Und weiter heißt es: „Eine religiöse Überhöhung des Staates Israel ist theologisch unzulässig und gefährdet die Bemühungen um einen friedlichen Interessenausgleich zwischen den Bürgern des Staates und seinen arabischen Nachbarn.“ Dem kann ich mich anschließen. Und das bedeutet dann auch, dass eine Kritik an der Politik des Staates Israel, etwa am Siedlungsbau in den besetzten Palästinensergebieten oder an unverhältnismäßigen militärischen Aktionen im Gazastreifen nicht sofort als antisemitisch verdächtigt werden dürfen.

Zum Schluss die Frage: Wie reagieren jüdische Partner auf die Bemühungen der christlichen Seite, das Verhältnis zum Judentum neu zu bedenken und zu gestalten? Nennen möchte ich da zuerst die jüdische Stellungnahme „Dabru Emet“ (Sagt die Wahrheit) aus dem Jahr 2000, die von ca. 170 Frauen und Männern der jüdischen Gelehrsamkeit und des synagogalen Lebens in den USA vorgestellt worden ist. Die Erklärung stellt fest, dass die Christenheit ihre Einstellung zum Judentum nach dem Holocaust dramatisch verändert hat. Sie hat ihre Reue über die Misshandlungen von Juden und Judentum zum Ausdruck gebracht und den unverändert gültigen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anerkannt. Christen respektieren nun auch den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel. Der Nationalsozialismus, so urteilen die jüdischen Verfasser, war kein christliches Phänomen, er hätte sich, nach einer Vernichtung der Juden, auch gegen die Christen gerichtet. „Christen wissen von Gott und dienen ihm durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden wissen und dienen Gott durch die Thora und die jüdische Tradition.“ Dieser Unterschied wird bleiben. Aber: „Getrennt und vereint müssen wir daran arbeiten, dass Gerechtigkeit und Frieden in unsere Welt einziehen.“

Ein neueres Dokument stammt von der Tagung des Internationalen Rates der Christen und Juden (ICCJ) von Juli 2009 in Berlin. Das Dokument trägt die Überschrift: “A Time for Recommitment – Building the new Relationship between Jews and Christians”. In einem ersten Teil werden Christen und christliche Gemeinden dazu aufgerufen, den Antisemitismus in allen seinen Formen zu bekämpfen und für den Frieden Jerusalems zu beten. Der interreligiöse Dialog mit Juden ist zu fördern, um ein theologisches Verständnis des Judentum in seiner Integrität, d. h. so, wie es sich selbst versteht, zu erreichen.

Neu ist dann aber der zweite Teil, der sich an Juden und jüdische Gemeinden wendet.

Sie werden aufgerufen, die Bemühungen der christlichen Seite anzuerkennen, mit denen sie ihr Verhalten gegenüber Juden verändert haben. Jüdische Texte und Liturgien sind im Lichte dieser neuen Situation zu überprüfen, denn sie enthalten auch problematische Passagen. Zwischen fairer Kritik am Staat Israel und dem Antisemitismus ist zu unterscheiden. Schließlich ist der Staat Israel darin stark zu machen, auch religiösen und ethnischen Minderheiten gleiche Rechte einzuräumen und eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zustande zu bringen.

Beiden Seiten wird ins Stammbuch geschrieben, Gefühle religiöser Überlegenheit, verbunden mit der Geringschätzung der anderen Religion, aufzuspüren, gerade auch da, wo sie sich in der eigenen Tradition melden, und ihnen entgegen zu treten. Dass der Internationale Rat der Christen und Juden sich so deutlich an beide Seiten wendet, ist ein Zeichen dafür, dass sich unser Verhältnis zunehmend normalisiert.

Lassen Sie mich da noch einmal anknüpfen an „Dabru Emet“, „Sagt die Wahrheit“ und eine Anekdote erzählen, die die Schwierigkeiten mit der Wahrheit auf den verschiedenen Seiten pointiert. Im New York der Prohibitionszeit war auch das Pokerspielen verboten. Da versammeln sich in einem Keller ein katholischer Priester, ein evangelischer Pfarrer und ein jüdischer Rabbi und was tun sie? Sie spielen Poker. Als plötzlich ein Polizist hereinkommt lassen sie die Karten gerade noch verschwinden. Der Polizist wendet sich an den Priester und fragt: „Sagen Sie die Wahrheit: Haben sie Poker gespielt?“ Der denkt: jetzt soll mit mir die reine und heilige Mutter Kirche schlecht gemacht werden, das kann ich nicht zulassen, und er sagt: „Nein.“ Der Polizist wendet sich an den Pfarrer: „Haben Sie Poker gespielt?“ Und der denkt: die Katholischen drücken sich, und wir sollen die Bösen sein, so geht das nicht, und er sagt auch: „Nein.“ Und dann fragt der Polizist den Rabbiner: „Haben Sie Poker gespielt?“ Und der antwortet: „Herr Polizist, haben sie schon einmal gesehen, einen Mann allein pokern?“

Ich muss das nicht weiter kommentieren. Ich denke aber, wir sind auf dem Weg der Verständigung und der gegenseitigen Wahrnehmung, samt unsern Stärken und Schwächen, doch ein ganzes Stück weiter gekommen. Und die gegenseitige Achtung ist gewachsen. Unsere Zuversicht am Ende aber ist: Wenn unser Weg dereinst in Gottes Ewigkeit mündet, werden wir erkennen, was wir geglaubt haben. Und da wird vor Gottes Angesicht zwischen Christen und Juden auch in Glaubensdingen kein Unterschied mehr sein.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Vortrag vor dem Freundeskreis des Evangelischen Bundes in Hessen und Nassau am 27. Oktober 2010 in Bad Nauheim. Der Autor, Pfarrer Ernst Lippold (Jahrgang 1935), wurde 1980 zum Oberkirchenrat ins Kirchenamt der EKD berufen, Bereiche Innerdeutsche Ökumene, Kirchliche Werke und Dienste, Judentum. Wichtige Aufgaben: (Nach)revision des Neuen Testaments der Lutherbibel (1984), Geschäftsführung für das Evangelische Gesangbuch (1993) und die EKD-Studien Christen und Juden II und III (1991 und 2000). Seit 2000 im Ruhestand in Garbsen bei Hannover.


WA 53, 522,34

Thomas Kaufmann, zitiert bei Hans-Martin Barth, die Theologie Martin Luthers, S. 63

Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 – 1985, S. 528

Ebd. S. 542

Ebd. S. 549

EBD. S. 594

Die Kirchen und das Judentum, Dokumente von 1986 – 2000, S. 567

Ebd. S. 669

Ebd. S. 699

Vgl. internet zu EMK, Verfassung

Die Kirchen und das Judentum, Dokumente von 1986 – 2000, S. 744

Christen und Juden I – III (2002). S. 169

Die Kirchen und das Judentum, Dokumente von 1945 – 1985. S. 594

Christen und Juden I – III (2002), S. 193 f.

Die Kirchen und das Judentum, Dokumente von 1986 – 2000, S. 974 - 976

 

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email