Urteil und Vorurteil. Heute:
Reformation und Antijudaismus: Luther

von Klaus-Peter Lehmann

Das Problem
Der große Reformator Martin Luther (1483-1546) ist bekannt für seine heftige Judenfeindschaft. Besonders seine Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) ist voll von tiradenartigen Anwürfen, die auf tief liegenden Hass deuten. Julius Streicher, der Herausgeber des NS-Hetzblattes „Der Stürmer“, hatte sich im Nürnberger Prozess mit dem Hinweis auf dieses Pamphlet gerechtfertigt.
Ob die antijüdischen Schmähungen des älteren Luther schon in seinen frühen Werken sich vorbereiten, ist umstritten. Gerne verweist man auf seine Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523), die für ihre Zeit bahnbrechend judenfreundlich war und viele Hoffnungen weckte, weil sich Luther in ihr zum freundlichen Gespräch mit den Juden bekannte, wenn auch in missionarischer Absicht. Aber Luthers frühe Haltung erscheint ambivalent, sein Verhalten eigenartig mitleidlos. Angefragt um eine Stellungnahme zur Vertreibung der Juden aus Regensburg (1519), kritisierte er die bei Pogromen hektisch auflebende Marienfrömmigkeit und äußerte sich mit keinem Wort zum Schicksal der Juden.

Die Ambivalenz der frühen Jahre
In seiner Psalmenvorlesung (1513-16) hält Luther den Juden immer wieder Unbußfertigkeit, Selbst- und Werkgerechtigkeit vor. Wer seine eigene Gerechtigkeit aufrichtet, sich nicht selbst verurteilt, sich nicht anklagt, vielmehr meint, er handele gut und selbstgefällig, der liebt sich selbst und sein Leben in dieser Welt. ‚Daher werden die Gottlosen nicht bestehen im Gericht’ (Ps 1,5), weil die Juden ihren Irrtum nicht eingestehen und sich nicht anklagen... Die Juden, die Häretiker und auch alle Abergläubischen sind solche, die ihre Sünde aufgrund ihrer Werke vergeben haben wollen und durch ihre Werke gerechtfertigt sein wollen.
Luther stellte die angebliche jüdische Werkgerechtigkeit und ihre Ablehnung Christi immer wieder der Gerechtwerdung durch die Gnade Christi gegenüber. Er lehrte, die Synagoge habe vor der Ankunft Christi geistliche Einsicht gehabt und sei nach seiner Verwerfung in reinem Buchstabenglauben erstarrt. Der Talmud sei voller Lügen und verdrehe die Schrift. Der Fall der Juden, ihr unsicheres und unstetes Leben, sei ein Beispiel des Zornes Gottes, wodurch ihre Bosheit und Treulosigkeit gegen Christus, ihre geheimen Gedanken gegen ihn und die Seinen angezeigt würden. Die Kirche sei die wahrhaftige Synagoge (fidelem synagogam), die Synagoge der Vorhof der Kirche (synagogam atrium fuit ecclesiae, Ps 120,2).
Kurfürst Friedrich der Weise ließ 1513 ein Gutachten zur sog. Reuchlinfehde bei Luther anfordern. Es ging darum, ob der Talmud den Juden genommen werden solle. Der Konvertit Johannes Pfefferkorn hatte bei Kaiser Maximilian auf ein entsprechendes Edikt gedrängt. >Reuchlin hatte sich dagegen ausgesprochen. Luther unterstützte ihn und meinte, die Christen sollten zunächst die hundertfach schlimmeren geistlichen Götzenbilder im eigenen Haus abschaffen. Es sei töricht, unsere Angelegenheiten zu vernachlässigen und die fremden doch nicht zu verbessern. Die Juden würden zwar Gott und Christus lästern, aber es sei Gottes Werk, ihre Verstockung zu lösen. Nähme man ihnen den Talmud, würden sie umso schlimmere Lästerungen begehen. Denn jeder Unverbesserliche wird durch Korrektur schlimmer und niemals gereinigt.
Luthers Römerbriefvorlesung (1516) ist das einzige Dokument ohne antijüdische Anwürfe. Er spricht davon, dass Israel erwählt bleibe. Gott hat sein Volk nicht verstoßen. Das zeige sich an der Berufung des Paulus, also der Kirche. Er lässt die bleibende Erwählung Israels in der >Enterbungslehre untergehen.

Hoffnung auf Bekehrung der Juden
Luther unterstützte hebräische Sprachstudien, denn: Die Ebräer trinken aus der Bornquelle, die Griechen aber aus den Wässerlin, die aus der Quelle fließen, die Lateiner aber aus den Pfützen. Im Oktober 1518 verwandte er sich für den getauften Juden Johann Böschenstein als Hebräischlehrer an der Universität Wittenberg. Als diesen der Vorwurf traf, wie ein Jude zu lehren, meinte auch Luther: Dieser unser Bossenstein, dem Namen nach ein Christ, in Wahrheit ein Erzjude.  (1)  Böschenstein musste den Lehrstuhl aufgeben. Er hatte sein hebräisches Wissen nicht für die Missionierung der Juden verwendet, sondern dafür, sie besser zu verstehen.
Auch Luthers vielbeachtete und gelobte Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei hatte judenmissionarische Absichten. Sie wurde ins Spanische, Lateinische und Hebräische übersetzt; sie fand unter Juden große Verbreitung. Die neuen Töne, die Luther anschlug, beförderten die Hoffnung auf ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen.  (2)   
Die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen, haben nicht mehr kundgetan als sie schelten und ihr Gut nehmen, wenn man sie getauft hat… Ich hoffe, wenn man mit den Juden freundlich handelt und sie aus der heiligen Schrift säuberlich unterweist, so sollten ihre viele rechte Christen werden. Ob etliche halsstarrig sind, was liegt dran? Sind wir doch auch nicht alle gute Christen.
Luther hatte sogar vorgeschlagen, die Juden zu allen Berufen zuzulassen, damit sie nicht zum schmutzigen Zinswucher gezwungen seien. Das offene Wort gegen ihre soziale Diskriminierung nährte bei ihnen die Hoffnung auf eine neue Ära.
Doch der lutherischen Seite ging es um Mission. Sie setzte ihre Absichtenen kräftig in Szene. In Wittenberg hatte die Konversion des Rabbiners Jakob Gipher (Taufname Bernhard), der unter dem Eindruck von Luthers Vorlesungen ein wirklicher Christ geworden sei, die Erwartung geweckt, dass unter dem neu aufgegangenen Licht des Evangeliums viele Juden zu Christen bekehrt werden würden.  (3)  Die Taufe des Konvertitenkindes wurde wie die erste Mönchshochzeit unter Beteiligung der Wittenberger Prominenz gefeiert, als Proklamation einer neuen Ära. Man hatte euphorische Erwartungen im Blick auf die neue Missionsstrategie, bruderlich mit den Juden zu handeln, ob wyr etlich bekeren mochten.

Wurzel des Antijudaismus
Die Hoffnung auf den Übertritt einer bedeutsamen Zahl von Juden zum Christentum erfüllte sich nicht. In der Enttäuschung darüber sehen viele den Grund für die Judenfeindlichkeit des älteren Luther. Sicher greift Altersstarrsinn als Erklärung zu kurz. Auch der Hinweis auf Luther als Lehrwächter im sich konsolidierenden evangelischen Landeskirchentum kann nicht erschöpfend sein. Seine Theologie hatte von Anfang an Anteil an einer seit Jahrhunderten herrschenden unbiblischen Befangenheit. Dazu gehören zwei Grundannahmen: 

  1. Gott hat die Juden als Bundesvolk verworfen, weil sie Christus ermordet haben (>Enterbungslehre, >Gottesmordlüge).
  2. Der jüdische Glaube ist Christus feindlich, lästert ihn in Schriften und Gebeten (>Verleumdung des Talmud).

Unter reformatorischen Vorzeichen arbeitete Luther folgenden Aspekt heraus:

  1. Der jüdische Glaube ist Selbstrechtfertigung und Werkgerechtigkeit. Er steht exemplarisch für die Blindheit aller nichtevangelischen Religionen gegenüber der Gnade Gottes in Jesus Christus.

Immer wieder sprach Luther von den „werkgerechten Religionen.“ In variierenden Dreierreihungen zählte er dazu Juden, Häretiker, Papisten, Schwärmer, Türken, Heiden. Die Reihung von antigöttlichen Mächten ist eine Konstante in seiner Theologie. Der Gebrauch dieser Negativfolie in der Erklärung des Apostolikums deutet auf ihre zentrale Bedeutung. Für Luther gibt es keine Gnade außerhalb des Glaubens an Jesus Christus.  (4)  Auch das Alte Testament rede nur davon. Die jüdischen Schriftausleger würden Säuen gleichen, die in die Schrift einbrechen, sie hätten einen Sauglauben. (5)  Die Juden seien exemplarisch, die Gottlosen, von denen alle anderen Satanskinder abstammen. In dieser Theologie liegt eine Wurzel von Luthers Antijudaismus.

Judenhass und Vertreibungspolitik
Die Wende zur offenen Judenfeindschaft vollzog Luther in den 1530er Jahren, als mit der Herausbildung des landesherrlichen Kirchenregiments auch die Frage nach der rechtlichen Stellung der Juden aufkam.
1536 erließ Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen ein Ausweisungsmandat gegen die Juden. Josel von Rosheim wollte bei Luther vorsprechen, um den Fürsten umzustimmen (>Reformation und Antijudaismus). Luther lehnte eine Intervention ab, empfing Josel nicht und schrieb an ihn: Die Juden selber hätten ihm allen Grund für eine Fürsprache genommen, weil sie seine frühere Freundlichkeit so schändlich missbraucht hätten; sie würden Jesus fluchen und lästern, und wenn ihr könntet, alle die seinen um alles brächtet, was sie sind und was sie haben.  (6) 
Doch scheint sich Luther in jenen Jahren zunächst zurückgehalten zu haben. In seiner Schrift An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen (1540) spielen die Juden überraschend keine Rolle. Er äußerte sich zu Pogromen, man solle es nicht tun, vor allem weil sie Geleit haben.  (7)  Es war wohl die Schrift eines Rabbiners, der gegen Luthers antijüdisches Traktat Wider die Sabather Stellung bezog und zum Übertritt der Christen zum jüdischen Glauben aufforderte, die Luther aus der Reserve lockte und zu seinem berühmt-berüchtigten Pamphlet Von den Juden und ihren Lügen veranlasste. Dessen Spitze sind sieben Ratschläge an die Landesherren, im Sinne einer scharfen Barmherzigkeit mit den Juden zu verfahren: die Synagogen zu verbrennen; ihre Häuser zu zerstören; den Talmud zu beschlagnahmen; den Rabbinern Lehrverbot zu erteilen; die Schutzgeleite für Juden aufzuheben; sie von ihrer Barschaft zu enteignen; ihnen Zwangsarbeit aufzuerlegen.  (8)  Wie sehr diese Ratschläge von Hass diktiert sind, mag folgende Passage aus der derselben Schrift verdeutlichen.
Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes und durchteufeltes Ding ist’s um diese Juden, so diese 1400 Jahre lang unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Wenn ich könnte, so würde ich ihn niederstrecken und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren. Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und wohl von unserem erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein… sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.
Luther bezog sich sogar auf die Ritualmordlegenden. Daher gibt man ihnen oft in den Historien Schuld, dass sie die Brunnen vergiftet, Kinder gestohlen und zerpfriemet haben, wie zu Trent, Weissensee usw. Sie sagen wohl nein dazu. Aber es sei oder nicht, so weiß ich wohl, dass es am vollen, ganzen, bereiten Willen bei ihnen nicht fehle, wo sie mit der tat dazu kommen können, heimlich oder offenbar.  (9)
Zweifellos spiegelt sich in diesen Worten die judenfeindliche Volksstimmung, in der Luther mitschwamm. Er ging soweit, den Juden die Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft abzusprechen. Die wahnhaften Vorurteile und der verbreitete Judenhass sind offenbar die zweite Wurzel seines Antijudaismus. Der von ihm initiierte Neuansatz in der Theologie ging nicht weit genug, um davor bewahren zu können.  (10) 
Luthers Stellung zu den Juden, wie sie für seine ganze Lebenszeit gilt, geben seine eigenen Worte wieder: Wo sie sich bekehren, ihren Wucher lassen und Christus annehmen, so wollen wir sie gerne als unsere Brüder halten.  (11) 

Verfolgungswahn?
Möglicherweise hatte Luthers Antijudaismus weitere Gründe. Immerhin beschwören die letzten Briefe an seine Frau im Nachhinein das Bild, als wäre der Wiederentdecker des Evangeliums auf einer winterlichen Reise von den Juden getötet worden.
Wir mussten durch ein Dorf hart vor Eisleben, da viel Juden inne wohnen; vielleicht haben sie mich so hart angefahren… Wahr ist’s, da ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen ein auf meinen Kopf, als wollt mir’s das Hirn zu Eis machen.
Ich denke, dass die Helle und ganze Welt musse itzt ledig sein von allen Teufeln, die vielleicht alle um meinetwillen hie zu Eisleben zusammengekommen sind… Itzt sagt man, dass zu Rißdorf, daselbst ich krank ward im Einfahren, sollen aus- und einreiten bei vierhundert Juden.  (12)
Elf Tage später starb Martin Luther.

 

    1. Ille  noster Bossenstein, nomine Christianus, re vera Judaissimus  (M. Luther, Brief an J. Lang, 13.4.1519).
    2. Die Marranen in Antwerpen schickten Luthers Traktat an ihre verfolgten Glaubensbrüder in Spanien, damit sie Trost und Hoffnung daraus schöpfen möchten.
    3. Da jetzt aufgeht das goldene Licht des Evangeliums, besteht Hoffnung, daß viele Juden, sich ernsthaft und gläubig bekehren und so von Herzen zu Christus hingerissen werden, wie du hingerissen worden bist  (M. Luther, Brief an Bernhard, Juni 1523). Die Judenbekehrung war für die Kirche immer von besonderer Bedeutung. Die Zustimmung aus dem Volk der Schrift für die kirchliche Schriftauslegung galt als eine Art Wahrheitsbeweis.
    4. Ich glaub, das niemant kann selig werden, der nit ynn dißer gemeyne erffunden wirt,… keyn Jude, Ketzer, Heyd oder sunder,… es sey dan, das er sich mit yhr versune, vereynige und yhr gleychformig werde, in allen dingen (Eine kurze Form der zehen Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers.  1520).
    5. M. Luther, Predigt 15.10.1529.
    6. Brief Luthers an Josel von Rosheim, 11.6.1537.
    7. Gemeint sind kaiserliche Schutzbriefe; Tischreden, Frühjahr 1543.
    8. Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen werden würde (Julius Streicher, 29.4.1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg).
    9. W. Kampmann, Deutsche und Juden,, S. 46.
    10. Der Schritt wäre erst getan, wo die Lehre von Christus die Tür zu einer freundschaftlichen und dialogischen statt zu einer exklusiven und zerstörerischen Konkurrenz zwischen Juden und Christen in der Auslegung des Alten Testaments führt und damit dem Bekehrungsgebot (Judenmission) den Boden enzieht.
    11.  Luthers letzte Kanzelabkündigung am 15.2.1546.
    12. Zwei Briefe Luthers an seine Frau vom 1.2. und 7.2.1546.

     

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