Mein Koran
Wer als Christ die Heilige Schrift der Muslime liest, entdeckt Dinge, mit denen er nie rechnete. Auch ich hatte ja keine Ahnung ...
von Karl-Josef Kuschel

Das hätte uns gerade noch gefehlt: eine öffentliche, medial verbreitete Verbrennung des Korans durch einen Christen! Eigentlich unvorstellbar im Land der Religionsfreiheit. Und eigentlich unvorstellbar, dass die Irrsinnsidee eines einzelnen evangelikalen Hasspredigers namens Terry Jones – Vorsteher einer Glaubensgemeinschaft mit nicht mehr als fünfzig Mitgliedern –, am 9. Jahrestag des 11. September in Florida 200 Korane auf einmal zu verbrennen, eine weltweite Empörungswelle unter Muslimen auslösen und gleich die gesamte Spitze der amerikanischen Administration auf den Plan rufen könnte: Außen- und Verteidigungsminister, Weißes Haus und FBI. Doch genau das geschah. Jones nahm daraufhin von seinem Plan Abstand. Doch andere handelten: Der Koran brannte zum Beispiel im US-Bundesstaat Kansas, wo ihn eine Baptistengemeinde anzündete. Sie fand weit weniger Beachtung als der so entsetzlich berühmte Terry Jones. Die Tat macht das um keinen Deut besser.

Dabei haben wir in Europa schon Mühe genug, den Wahlerfolg eines holländischen Islamhassers namens Geert Wilders zu verarbeiten. Zur drittstärksten Kraft wurde bei den letzten Parlamentswahlen in Holland seine Freiheitsliste. Unter Freiheit verstand Wilders vor allem die Freiheit zu einer beispiellosen Hetztirade gegen »den Islam«. Wilders Ausbrüche gipfelten in der öffentlichen Forderung nach einem »Verbot des Korans«. Denn in diesem Buch würde dazu aufgerufen, »Christen, Juden, Dissidenten und Ungläubige zu unterdrücken, zu verfolgen und zu töten, Frauen zu schlagen und zu vergewaltigen und gewaltsam einen islamischen Staat zu errichten«. Der Koran sei ein »faschistisches Buch«.

Lohnt eine Auseinandersetzung mit solchen Schmähungen? Nein. Sie sind allzu durchsichtige Propaganda, die das reproduziert, was sie zu bekämpfen sucht. Demagogie gepaart mit Ignoranz und Verblendung widerlegt sich selbst. Etwas anderes allerdings ist dringend erforderlich: Wo die Heilige Schrift einer Religion derart verunglimpft wird, sind alle Gläubigen gefragt. Ökumenische Geschwisterlichkeit ist angesagt. Und da die geschilderten Vorfälle in Ländern christlicher Herkunft stattfinden, sind insbesondere Christen herausgefordert, zum Koran Stellung zu nehmen. Was bedeutet uns Christen dieses Buch? Kennen wir es gründlich genug? Wenn nein, warum haben wir es bisher ignoriert? Wenn ja, warum sagen wir nicht, ob und warum uns dieses Buch etwas zu sagen hat?

Ich selbst will mich nicht drücken – und von einigen meiner Erfahrungen mit diesem Buch berichten.

Lesen im Rückwärtsgang. Zunächst ist festzuhalten: Wir Christen tun uns mit der Lektüre des Korans schwer. Das hat vor allem zwei Gründe: Lesewiderstand und Abwehr bestimmter Inhalte. Lesewiderstand erzeugt der Koran schon durch seinen äußeren Aufbau. Die 114 Suren dieses Buches sind nicht wie die Bibel nach Gattungen, sondern nach Längen geordnet, beginnend mit den längsten Suren: 2, 3, 4 und 5. Und diese längeren Suren sind in der Regel auch die späteren. Sie enthalten neben der üblichen Grundbotschaft viel rechtliches Material, das für die Ordnung einer Gemeinde erforderlich ist. Selbst ein gutwilliger Leser verliert bei dieser Lektüre die Geduld.

Ich selber habe deshalb vor Jahren schon auf einen älteren Kollegen gehört, der mir riet, den Koran vom Ende her zu lesen, also mit Sure 114 zu beginnen. Erstens dringe man dann schneller in den Koran ein, zweitens sei die Lektüre durch die Kürze der Texte abwechslungsreicher, und drittens bekäme man in den kurzen, oft frühesten Suren noch etwas von der ursprünglichen Wucht und Kraft der prophetischen Botschaft mit. Für die ersten vierzig Suren – vom Ende her gelesen – trifft zweifellos zu, was mir beschrieben wurde.

Zum anderen ist der Lesewiderstand in der »Unübersetzbarkeit« des Korans begründet. Jeder nicht Arabisch sprechende Leser oder Hörer (und das ist die große Mehrheit auch der Muslime weltweit) muss sich stets klar sein: Das originale Arabisch des Korans hat eine einzigartige sprachliche und poetische Form. Die Suren bestehen aus Versen, ausgestattet zwar mit unregelmäßigem Rhythmus, am Ende aber stets mit einem Reimpaar. In einer fremden Sprache ist das kaum darstellbar.

Deutschsprachige Übersetzungen beschränken sich denn auch in der Regel auf Prosaparaphrasen (Adel Th. Khoury) oder sind durchsetzt mit hochkomplexer Philologie (Rudi Paret). Von der Kraft und Schönheit des arabischen Originals bleibt nichts mehr übrig. Erst die neueren Übersetzungen von Hans Zirker (2003) und Hartmut Bobzin (2010) versuchen, zumindest durch Vers-Absetzungen oder Zeileneinrückungen etwas von der rhetorischen Form, poetischen Kraft und inneren dramatischen Struktur der Suren sichtbar zu machen.

Über die sprachliche Genialität eines Friedrich Rückert verfügen aber auch sie nicht. Dieser große Schriftsteller und begnadeter Philologe hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine (leider unvollendete) Koran-Übertragung geschaffen, die im Deutschen zumindest ahnen lässt, wie Muslime die sprachliche Energie des Korans spüren müssen.

Es ist schon ein Unterschied, ob man mit Khoury paraphrasierend daherkommt: »Bei denen, die schnaubend laufen und die Funken stieben lassen und die am Morgen stürmen und damit Staub aufwirbeln und dadurch in die Mitte (der Feinde) eindringen!« – oder ob man Sure 100, Vers 1 bis 3 wie Rückert so übersetzt:

»Die schnaubenden, die jagenden, / Mit Hufschlag Funken schlagenden, / Den Morgenangriff wagenden, / Die Staub aufwühlen mit dem Tritte, / Und dringen in des Heeres Mitte!«

Als Deutsche und als Christen sind wir so von vornherein in doppelter Distanz zum Koran: Seine sprachliche Kraft ist uns gleichermaßen schwer zugänglich wie sein formaler Aufbau. Schon das sollte bei Urteilen zur Zurückhaltung führen. Viele Christen können sich nicht vorstellen, dass der Koran für Muslime ein Hör-Erlebnis sein kann, das sie schon durch Klang, Rhythmus und Bildwahl zu Tränen rührt.

Der Koran ist kein Steinbruch. Schwer tue auch ich mich mit der Akzeptanz bestimmter Inhalte des Korans. Auch ich bin oft genug befremdet über die durchgängige Polemik gegen »die Ungläubigen«, über die ständigen Androhungen von Gericht und Höllenstrafe. Auch ich bin oft genug erschrocken über die vielen Schmähungen, Strafreden und Kampfaufrufe. Auch ich kenne Verse wie Sure 2, 191, wo vom Erschlagen und Vertreiben von Ungläubigen die Rede ist. Ich will das nicht verharmlosen, schon deshalb nicht, weil gerade heute solche und andere »Koranstellen« politisch missbraucht werden, entweder dazu, menschenverachtende Praktiken zu legitimieren (bis hin zu Terror und Mord) oder »den Islam« pauschal als Religion der Intoleranz und Gewalt zu verunglimpfen.

Ich denke aber nicht daran, mit dem Koran wieder das zu tun, was ich mir als christlicher Theologe bei der Bibelauslegung verboten habe: »Steinbruch-Exegese« zu betreiben. Will sagen: Man bricht sich aus einem gewachsenen Ganzen »Stellen«, Brocken, heraus, macht sie kontext- und geschichtslos und benutzt sie als Wurfgeschosse im Religionen-Gezänk. Als hätte nicht auch der Koran als geschichtliches Dokument Anspruch auf eine geschichtssensible Auslegung!

Muslimische Gelehrte – etwa der Ankaraner Schule – betreiben sie heute selber, unbeschadet der Tatsache, dass für sie als Muslime die koranische Botschaft göttlichen Ursprungs ist und bleibt. Aber Gott hat nun einmal Menschen und Zeitumstände des 7. Jahrhunderts benutzt, um seinen Willen definitiv kundzutun. Er nutzt den »Code« einer konkreten Kultur, bindet sich an den Verstehenshorizont konkreter Menschen. Eine dilettantische Eins-zu-eins-Übertragung bestimmter koranischer »Stellen« vom Damals ins Heute kann tödliche Folgen haben, zumal dann, wenn sich der hermeneutische Dilettantismus mit religiöser Verblendung paart. Als ob nicht eine der wichtigsten Botschaften des Korans lautete: »Wenn einer jemanden tötet, dann ist das, als ob er die Menschen allesamt tötet. Wenn aber einer jemandem Leben schenkt, dann ist das, als ob er den Menschen allesamt Leben geschenkt hätte« (Sure 5, 32).

Die Gewaltstellen gibt es, aber damit wird der Koran nicht zu einem Buch der Gewalt. Genauso wenig wie es die Hebräische Bibel wird. Man lese nur die Bücher Josua und Richter. Man lese einige Fluch- und Rachepsalmen – und jede selbstgerechte Heuchelei von Christen gegenüber Muslimen wird absurd.

Ich erinnere mich genau an ein 1992 veröffentlichtes Buch des Freiburger Psychologen Franz Buggle mit dem Titel »Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann«, 2004 in erweiterter Form neu vorgelegt. Auf Dutzenden von Seiten sind hier Bibelstellen zusammengetragen, die zu Unduldsamkeit, Gewalt, ja Mord an Ungläubigen oder Nichtisraeliten aufrufen. Sie gibt es, diese »Stellen«, sie sind zahlreich. Dieser Befund schockierte einen kritischen Zeitgenossen wie Buggle derart, dass er die Bibel aus einer demokratischen Erziehung (etwa zur Einhaltung der Menschenrechte) verbannt haben wollte.

Das Drama der Schöpfung. Die Grundbotschaft vom »erbarmenden und barmherzigen Gott« – so programmatisch der Auftakt jeder Sure – ist eine andere, ob im Koran oder in der Hebräischen Bibel. Beeindruckt hat mich stets aufs Neue, wie der Koran das Drama der Schöpfung beschreibt: der Schöpfung der Welt und der Schöpfung des Menschen. Und dies nicht in erzählerischer Form wie in der Genesis, sondern oft in Form beschwörender Erinnerungsarbeit.

Der Prophet hatte es anfangs in Mekka mit Leuten zu tun, die an eine soziale Verantwortung vor Gott keinen Gedanken verschwendeten. Dagegen stellt der Prophet mit aller rhetorischen Kraft und bildlichen Prägnanz die Botschaft von der Erschaffenheit jedes einzelnen Menschen. Gott verdankt der Mensch alles, dem Schöpfer gegenüber bleibt der Mensch bis zu seinem und der Welt Ende verantwortlich – als sein »Stellvertreter« auf Erden.

Die Masse der Menschen aber verdrängt diese Verantwortung. Ihnen wird – zum Beispiel in Sure 82 – in dramatischer Sprache gesagt: »Wann die Himmel zerkloben sind, und die Sterne zerstoben sind, wann die Sterne sind verschäumt, und die Gräber sind geräumt; wird eine Seele wissen, was sie hat getan und was versäumt. O Mensch, wie bist du deinem Herrn, dem gütigen, entronnen! Der dich gebildet und geschlichtet und eingerichtet, in welche Form er wollte, dich gedichtet. Doch leugnet ihr den Tag, an dem er richtet.«

Alles inhaltlich nichts Neues? Kann man schon in der Hebräischen Bibel nachlesen? Christen legen oft diese herablassende Arroganz dem Koran gegenüber an den Tag. Sie begreifen nicht, dass die »Originalität« dieses Buches weniger im Inhaltlichen liegt und liegen soll, sondern dass der Koran ausdrücklich die früheren Offenbarungen in Tora (Mose), Psalter (David) und Evangelium (Jesus) bestätigt. Keine »Spaltung« soll es geben in dem, was Gott von Noah über Abraham und Mose bis Jesus »an Religion verordnet« hat (Sure 42, 13).

Wo aber liegt dann die »Originalität« des Korans? Sie liegt vor allem in der sprachlichen Form, im rhetorischen Gestus, in der bildlichen Kraft, in der direkten existenziellen Anrede an jeden Einzelnen. Viele Suren sind buchstäblich »er-greifend«: Die Adressaten sehen sich »gestellt«, aufgerüttelt, ermahnt, beschworen, erinnert, getröstet.

Sure 55 ist hier besonders eindrucksvoll. In knapp achtzig Versen wird den Adressaten ein Panorama der Schöpfung vor Augen gestellt und Punkt für Punkt daran erinnert, was Gott möglich gemacht hat. Und nach jedem »Merkpunkt« erfolgt die Rückfrage: »Welche Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?« (Zirker). Dreißig Mal wird diese Frage wiederholt. Sie wird zum Mantra. Das einschärfende Wiederholen bringt sie ins Ohr, ins Herz, in den Körper, bis sie alles durchdringt.

Kampf gegen die Machthaber. Wichtig ist mir auch: Im Koran treffe ich als Christ vertraute Stoffe und Figuren wieder. Das hat mich zu umfangreichen Vergleichsstudien zwischen Bibel und Koran herausgefordert. Ich hatte lange Zeit keine Ahnung, dass der Koran Figuren wie Adam, Noah, Abraham oder Mose nicht nur irgendwo kurz erwähnt, sondern deren Geschichten breit entfaltet und aktualisiert.

In rund 40 von 114 Suren kommt allein die Geschichte des Mose und sein Konflikt mit dem ägyptischen Pharao vor. Schon in der Verkündigung von Mekka wird sie so genutzt, dass die Adressaten im Kampf des Mose gegen die Machthaber seiner Zeit ihre eigene Konfliktsituation wiedererkennen, insbesondere den Kampf des Propheten gegen das politische und wirtschaftliche Machtkartell in Mekka. Man lese nur, wie in Sure 20 oder 28 der von Gott Beauftragte es wagt, dem Gewaltherrscher gegenüberzutreten, und man wird spüren: Ein religionsgeschichtlicher Urkonflikt ist hier aktualisiert – das Prophetische gegen das Cäsarische, Gottes Wille gegen den Willen der Mächtigen der Welt.

Durchgängig geschieht Erinnerungsarbeit im Koran im Interesse der Vergegenwärtigung. Seine »relecture« großer Geschichten – deren Kenntnis der Prophet bei seinen Adressaten offensichtlich voraussetzen konnte – verschränkt die Zeiten. Die Form der Aktualisierung ist vielfach dem Drama entlehnt. Bis zu vier, fünf Personen lässt der Koran bisweilen »auftreten«, die in dramatischer Wechselrede die jeweilige Geschichte aktualisieren. Die Stilmittel des Korans sind nicht traditioneller Bibelprosa vergleichbar, sondern denen des modernen Bibliodrama. Und da alles im Koran Gottesrede ist, folgt daraus, dass Gott sich im Koran als Dramatiker zeigt, der seine Freude hat an Rollenspiel und Wechselrede.

Man begreift nichts vom Koran, wenn man ihn nur nach »Inhalten« absucht. Die komplexe Formen- und Bildersprache, seine rhetorischen und dramaturgischen Stilmittel gehören zum Verstehen dazu. Je länger ich die Überlieferungen studierte, die der Koran mit der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament teilt, desto mehr wurde mir die innere Verwandtschaft der drei Religionen bewusst. Als Christ muss ich einem Muslim nicht lange erklären, wer zum Beispiel Joseph war. Denn der Koran hat der Josephs-Geschichte (arabisch Jussuf), wie sie in der Genesis überliefert ist, eine eigene große Sure gewidmet: Sure 12.

Als Christ muss ich einem Muslim nicht lange erklären, wer Jesus und seine Mutter Maria waren (arabisch: Isa und Maryam). Denn der Koran erzählt die Geschichte rund um die Geburt Jesu in zwei Suren sehr ausführlich: Sure 19 und 3.

Wir Christen teilen mit Muslimen und Juden Überlieferungen, die wir mit Angehörigen anderer Religionen nicht teilen. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung, aus der folgt: Juden, Christen und Muslime bilden eine Glaubensgemeinschaft mit einem eigenen unverwechselbaren Profil. Es ist hohe Zeit, sie für ein Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung zu nutzen, sich etwa zu vernetzen bei der Ausbildung von Rabbinern, Pfarrern und Mullahs. »Trialogisch« denken lernen sollte die Parole der Zukunft lauten.

Christus, geopfert am Kreuz? In vielen Aspekten seiner Grundbotschaft bestärkt mich der Koran in meinem christlichen Glauben. In anderen Punkten aber bleibt ein Grunddissens: Christen und Muslime werden die Person Jesu theologisch stets verschieden werten. Für Christen ist Gottes Wort in Jesus »Fleisch« geworden. Für Muslime ist Gottes Wort im Koran Buch geworden.

Und doch hört damit das Gespräch nicht auf. Denn der Koran ist für mich als Christ auch eine konkrete Infragestellung meines Christusglaubens. Es ist eine Infragestellung, die ich ernst nehmen muss. In Sure 4 zum Beispiel kommt der Koran auf die Kreuzigung Jesu zu sprechen. Er zitiert in Vers 157 Gegner Jesu, die behaupten, Jesus getötet zu haben, und hält entschieden dagegen: »Sie haben ihn aber nicht getötet und gekreuzigt ..., sondern Gott hat ihn zu sich erhoben.«

Sehr viel gegenseitige Polemik zwischen Christen und Muslimen hat dieser Koranvers ausgelöst. Christen haben sich empört, dass ein für ihren Glauben zentrales »Geheimnis«, die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Christi, nicht nur geleugnet, sondern in seinem historischen Fundament sogar bestritten wird. Muslime ihrerseits haben Christen ein unsägliches Gottesverständnis vorgeworfen. Wie könne man an einen Gott glauben, der einen von ihm Gesandten einem derartigen Schandtod aussetze? Nein, Gott habe dafür gesorgt, dass Jesus zu ihm »erhoben« worden sei.

Ich muss zugeben: Zwar steht für mich das Faktum einer Kreuzigung Jesu fest; ich habe selbst unter Wahrung strengster historischer Maßstäbe keinen Grund, dieses im Neuen Testament von Anfang bis Ende bezeugte »Ereignis« zu bestreiten. Hier kann ich dem Koran nicht folgen. Aber mit einer Theologisierung des Sterbens Jesu am Kreuz tue ich mich auch als Christ heute schwer. Dass ausgerechnet durch einen solch grauenhaften Tod eines Menschen Gott seine liebende Versöhnung mit der Menschheit bezeugt haben soll, provoziert seit jeher in mir Rückfragen an ein solches Liebes- und Gottesverständnis.

Hier verstehe ich die Einrede des Korans. Er tut das ganz offensichtlich nicht um billiger Polemik gegen ein christliches »Glaubensgeheimnis« willen. Er tut das um Gottes und Jesu willen. Das nehme ich ernst. Hier wird mir der Koran zur Herausforderung. Seit ich diese Stelle kenne, denke ich über die Bedeutung des Kreuzes Christi nach, indem ich die Perspektive des Korans mit bedenke. Weiß Gott: Es lohnt sich, ihn zu lesen.

Karl-Josef Kuschel, geboren 1948 in Oberhausen, ist Professor in Tübingen und lehrt Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Katholisch-Theologischen Fakultät. Mit Büchern wie »Juden – Christen – Muslime: Herkunft und Zukunft« (2007) sowie »Weihnachten und der Koran« (2008) erweist er sich als Kenner des interreligiösen Dialogs.

Publik-Forum, Nr. 19, 8.10.2010

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email