Verleumdung des Talmud
von Klaus-Peter Lehmann

Das christliche Vorurteil gegen den Talmud

Seit der Antike galt der Talmud in der Kirche als das Dokument jüdischer Irrlehre, in dem das Alte Testament verdreht ausgelegt wird und böswillige Lügen über Jesus und die Christen verbreitet werden. Starre Gesetzlichkeit, sture Kasuistik, überheblicher Erwählungsanspruch, Hass auf Christus und die Kirche, Lasterhaftigkeit und Götzendienst zeichne die Verfasser des Talmuds und seine Lehre aus und präge infolgedessen auch den Charakter des jüdischen Volkes. Schon der Kirchenvater Johannes Chrysostomus (354-407) fragte, ob Christen mit Menschen, die von bösen Geistern besessen und in Verbrechen und Mord aufgewachsen seien, Umgang pflegen dürfen: man solle sie fliehen wie die Pest. Das verleumderische Zerrbild von den Juden und ihrer Religion konzentrierte sich von der Antike bis ins 19. Jahrhundert immer wieder auf den Talmud, dessen teuflische Irrlehren  (1)  für den gottesmörderischen Charakter der Juden verantwortlich seien. Diese verleumderische Saat fiel umso leichter auf fruchtbaren Boden, weil es über Jahrhunderte kaum Christen gab, die das schwer zugängliche Kompendium in seiner unübersehbaren Fülle von Überlieferungen  zu lesen oder auszulegen verstanden. Eine Bemühung darum kann der geschichtliche Rückblick aber auch nicht entdecken.

Der Talmud enthält zwar Elemente möglicher antichristlicher Polemik, allerdings in verschwindend geringer Zahl. Zudem bleiben die Adressaten unklar. Für die Beschuldigungen von christlicher Seite fehlt jeder Anhalt. Es handelt sich um freie Erfindungen und böswillige Gemeinheiten, die darin gipfelten, der Talmud mache es Juden zur Pflicht, Christen zu verfluchen und ihr Blut für rituelle Zwecke zu gebrauchen (> Ritualmordlegenden).

Talmudverbrennungen im Mittelalter

Die von den Kirchenvätern oft maßlos geübte „Adversus-Judaeos-Polemik“  (2)  ließ das Bewusstsein für die gemeinsamen Wurzeln von Judentum und Christentum immer mehr verblassen. An seine Stelle trat auf kirchlicher Seite eine systematische Schmähung der Juden und ihrer Lehre. Sie sei reiner Aberglaube und die Beobachtung der Gebote nach den Weisungen des Talmud  (3)  eine ständige Beleidigung für Gott.

Im hohen Mittelalter kam es zu kirchlichen Maßnahmen gegen den Talmud. Sie stehen im Zusammenhang mit den Kreuzzügen, in deren Folge die Judenfeindschaft sich ins Pogromhafte steigerte, und mit der gewachsenen Macht des Papsttums, das im 13. Jahrhundert die häretischen Bewegungen der Albigenser und Katharer erfolgreich niederkämpfte.

Den Anlass für die erste Talmudverbrennung gab der getaufte Jude Donin, der eine 35 Artikel umfassende, verleumderische Anklageschrift gegen den Talmud an Papst Gregor IX. übermittelte. Dieser erließ im Juni 1239 eine Bulle, die für Frankreich, England und die spanischen Länder die Konfiskation sämtlicher Talmudexemplare anordnete. Sie sollten den Franziskanern und Dominikanern übergeben werden, um sie auf Donins Anwürfe hin zu untersuchen. Sollten diese sich bestätigen, seien die jüdischen Bücher öffentlich zu verbrennen. Nur in Frankreich, wo der eben mündig gewordene und von Geistlichen beherrschte Ludwig IX. regierte, wurde mit dem päpstlichen Edikt Ernst gemacht. Am 25. Juni 1240 fand am königlichen Hof im Beisein von Bischöfen und Dominikanern eine „Disputation“, d.h. zwei Verhöre von Rabbinern statt, die unabhängig voneinander aussagten, dass im Talmud zwar Gehässiges von einem Jesus, dem Sohne Pantheras, erzählt wird. Dieser sei aber nur ein Namensverwandter des Nazareners, der lange vorher gelebt habe. Daraufhin setzte ein einflussreicher Prälat durch, die konfiszierten Bücher den Juden zurückzugeben. Da er jedoch bald darauf starb, sahen die fanatisierten antijüdischen Dominikaner darin eine Strafe des Himmels für den Begünstiger der Juden und erwirkten eine erneute Konfiskation. 24 Wagen voll jüdischer Schriften wurden auf einem Platz in Paris zusammen gekarrt und verbrannt (1242). Lange Zeit begingen die Juden in Europa den Jahrestag dieser Verbrennung mit Fasten.

Nachdem Innozenz IV. die Anordnung seines Vorgängers mit der Begründung die jüdischen Schriften würden Gott, Christus und Maria lästern und die Juden daran hindern, die christliche Botschaft anzunehmen, erneuert hatte, brannte der Talmud in Frankreich (1244). Vier Tage dauerte eine vom Königshof Aragoniens angeordnete und von Dominikanern geforderte Disputation in Barcelona (1263). Sie fand zwischen dem getauften Juden und ersten Judenmissionsprediger Pablo Chrstiani, einem Gesinnungsgenossen Donins, und Rabbi Moses ben Nachman oder Nachmanides aus Gerona statt. Es wurde nur um die Messiasfrage diskutiert, ob er schon erschienen sei, ob er als Mensch oder als Gott zu betrachten sei. Aus der Tatsache des sozialen Elends der Juden und der Macht der Kirche schloss der Christ, dass der Messias gekommen sei und den Herrscherstab von Juda genommen habe. In seiner mutigen Erwiderung wies Nachmanides daraufhin, dass die für die Messiaszeit verheißene sittliche Gehobenheit und die allgemeine Friedenszeit augenscheinlich noch nicht angebrochen sei. Vielmehr habe Krieg und Blutvergießen seit Christi Geburt zugenommen, weil christliche Völker von allen am meisten kriegerisch gesinnt seien. Obwohl Nachmanides die Disputation als Sieger beendete, wühlte Christiani weiter für die Ächtung des Talmud. Papst Clemens IV. ordnete in einer Bulle seine Konfiszierung und Verbrennung an. Die königliche Zensurbehörde ordnete mildernd an, angeblich gotteslästerliche Stellen im Talmud zu streichen, er dürfe nicht ganz vernichtet werden, weil andere Stellen angeblich die Wahrheit des Christentums bezeugten. Außerdem erwirkten die Dominikaner, dass Nachmanides für seine nachträgliche Darstellung der Disputation bestraft würde. Der 70jährige verließ daraufhin das Land.

Öffentliche Verbrennungen des Talmud mit vorangehenden Zwangsdisputationen gab es im Mittelalter wiederholt, vornehmlich in Frankreich. Aber auch noch 1533 wurden jüdische Bücher in Rom und Venedig verbrannt.

Fortbestand der Vorurteile bis in die Neuzeit

Auch Humanismus und Reformation brachten keine Wende. Der ehemalige Jude Johannes Pfefferkorn forderte 1505 in seinem Judenspiegel, den Juden ihre gotteslästerlichen Schriften wegzunehmen. 1509 erließ Kaiser Maximilian I. eine Ermächtigung für Pfefferkorn jüdische Bücher zu konfiszieren. Die Universitäten Erfurt, Heidelberg und Köln sprachen sich für eine Konfiskation aus. Nur der Humanist und Hebraist, der Verfasser der ersten brauchbaren hebräischen Sprachlehre auf Deutsch, Johannes >Reuchlin votierte öffentlich für den Erhalt der jüdischen Literatur: Zuletzt soll der Christenmensch den Juden liebhaben als Nächsten. Zwischen Dominikanern und Reuchlinisten entspann sich ein heftiger Federkrieg, in dessen Verlauf der Kaiser die Verteidigungsschrift Reuchlins einzog und diesem der Prozess gemacht wurde. Der endete 1520 mit einem päpstlichen Breve, das Reuchlin verurteilte. Diesem war aber der moralische Sieg nicht zu nehmen, vor allem weil jüngere Humanisten in den satirischen „Dunkelmännerbriefen“ (1515/17) die Kölner Dominikaner treffend karikierten.

In Luthers Äußerung zur sog. Reuchlinistenfehde zeigt sich das traditionelle Zerrbild vom Talmud. Nur um Schlimmeres zu verhüten, riet er von einer Konfiszierung ab: Wenn jene Lästerungen (der Talmud) von ihnen genommen werden, so werden sie (die Juden) schlimmere begehen. Sie sind nämlich durch den Zorn Gottes so sehr in verworfenem Sinn dahingegeben, dass sie unverbesserlich sind. Jeder Unverbesserliche aber wird durch Korrektur schlimmer und niemals gereinigt.  (4)  Später empfahl auch Luther der Obrigkeit, den Juden alle ihre Betbüchlein und Talmudisten zu nehmen, in denen solche Abgötterei, Lügen und Lästerungen gelehrt werden.  (5)

Im Jahre 1659 veröffentlichte der getaufte Jude Christian Gerson ein Buch, in welchem er viele der gehässigen Vorurteile gegen den Talmud sammelte: Gott habe alle Menschen vor dem Talmud gewarnt, weil er allergreulichsten und abscheulichsten Wort wider den Herrn Messiam Jesum von Nazareth  ausspeiet, er sei voller Greuel, Zauberei und Aberglauben und von Gottlosen, Mördern, Ehebrechern, Hurern, Zänkern, Zauberern und Lügnern geschrieben, also seien die gottlosen Rabbinen des Teufels Werkzeug, dass sein höllisch Reich gemehret werde und dem Reich des Messias Abbruch geschehen möge. Der Talmud sei zwar ganz und gar ein Götzenleiter, aber doch nicht zu verbieten, weil er als lehrreicher Spiegel des göttlichen Zorns gegen das jüdische Volk diene.

Nachdem in vielen derartigen Pamphleten die verwerflichen Lehren der Juden zusammengestellt worden waren, fehlte noch, sie in ein anti-talmudisches System zu bringen. Dafür steht das 1700 fertiggestellte zweibändige Monumental-Pamphlet Entdecktes Judentum von Johann Andreas Eisenmenger. Der Orientalist unternahm es unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Autorität, alle Lügenmärchen wie Brunnenvergiftung und Ritualmord und alle theologischen und moralischen Vorurteile über die Juden zu beweisen. Ihren angeblichen Aberglauben und ihre moralische Verderbtheit „belegte“ er mit genauer Stellenangabe aus der jüdischen Literatur. Auf jüdischer Seite erkannte man die Gefahr, die von diesem Elaborat ausging. Man erwirkte die Konfiskation der Erstauflage durch Kaiser Leopold I. Dennoch wurde es nach Eisenmengers Tod (1704) auf Betreiben seiner Erben 1711 durch den Preußenkönig Friedrich I. in Königsberg (reichsextern) gedruckt.

Im 18. Jahrhundert begann das Zeitalter des nationalpolitisch grundierten Antisemitismus, der sich später rassistisch färbte. Daneben wirkte der religiöse Antijudaismus und auch die Schmähung des Talmud bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts fort. Die Beilage einer angesehenen Zeitung veröffentlichte folgenden Text: Ohne Kenntnis des Talmud ist ein Verständnis der Judenfrage absolut unmöglich. Der Talmud ist die Ausgeburt des jüdischen Gehirns, er ist dem Volke zum Fluch geworden, welchen es nie loswerden kann. Aus Talmud ist der Jude geknetet, er liegt ihm im Blut, in ihm ist sein ganzes Sinnen und Trachten, sein Denken und Fühlen, sein ganzes Sein zu Papier gebracht. Es spricht aus diesem Teufelswerke der entsetzliche, abgrundtiefe Hass gegen alle Nichtjuden, speziell Christen, es zeugt von der Feigheit, dem Misstrauen und Schamlosigkeit des Judentums, seinen widerlichen Hochmut, Dünkel, seiner Auserwähltheit, es erhebt dem Nichtjuden gegenüber zur Tugend, was jedes andere Geschöpf mit Menschenantlitz zum Verbrechen stempelt.  (6)

Talmud, Judentum und Kirche

Die Schmähung des Talmud ist das Komplement zum Vorurteil gegen die Pharisäer. Beides richtet sich gegen die Existenz des nachbiblischen Judentums. Nach der Zerstörung des Herodianischen Tempels und seiner politischen Selbständigkeit überlebte das jüdische Volk durch die Zentrierung seines Lebens um die Weisungen der Tora, wie sie von den Rabbinern, den Nachfolgern der Pharisäer, ausgelegt wurden. Diese über Jahrhunderte gehenden Auslegungs- und Lehrgespräche sind im Talmud gesammelt.

So ist der Talmud die jüdische Auslegung oder Fortsetzung des Alten Testamentes, während das Neue Testament die für die Kirche geltende Auslegung desselben ist. Diese Konstellation ist in der Religionsgeschichte ohne Analogie. Aus ihr entwickelte sich eine Konkurrenz um die richtige Auslegung des Alten Testamentes, die unter dem messianischen Erfüllungsanspruch  (7)  und mit dem Gewinn und der Handhabung politischer Macht von seiten der Kirche immer mehr gewaltsame Züge annahm.

(1) „Der Anlass zur Verblendung und Verhärtung der Juden ist besonders die böse Lehre, die, von einigen Söhnen Satans erfunden, unter dem Namen Talmud in verschiedenen Büchern geschrieben worden ist,... Der Talmud ist nach dem Zeugnis neubekehrter Christen von den Söhnen des Teufels in der Zeit nach Christi Geburt vollendet...“ (v. Papst Benedikt XIII. 1415 erlassene Judenbulle).
(2) „Polemik gegen die Juden“ findet sich u.a. bei Justinus Martyr (110-165), Origenes (185-254), Gregor von Nyssa (335-394), Johannes Chrysostomus (354-407).
(3) „Talmud“ wurde damals auch als Sammelbegriff für die gesamte fromme Traditionsliteratur der Juden genommen, was einerseits der Totalität des christlichen Antijudaismus entsprach, andererseits seinen Grund in dem fehlenden Vermögen der Christen hatte, zwischen den verschiedenen Gattungen der jüdischen Literatur zu unterscheiden.
(4) M. Luther, Brief an Spalatin, Februar 1514, WA BR. 1.28-29
(5) M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543
(6) Flugblatt unter dem Titel „Talmud-Auszug“, Staatsbürger-Zeitung Nr. 243, Mai 1892; s. Hruby, Christliche
Zerrbilder vom Talmud, Emuna Nr. 5/6, 1972, S. 365
(7) Kirchliche Auslegung behauptet großenteils bis heute, dass die alttestamentlichen Verheißungen in Jesus Christus erfüllt seien. Jüdische Auslegung hält dagegen, dass die mit dem Messias kommende Friedenszeit ausgeblieben sei, Jesus also nicht der angekündigte Friedensfürst sein könne. Besser wäre es, im Blick auf das neutestamentliche Zeugnis davon zu sprechen, dass mit der Sammlung von Völkergemeinden durch Jesus Christus die endgültige Völkerversöhnung (Reich Gottes) auf den Weg gebracht ist.

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