Papst Pius XII.
Die Legende vom Retter der Juden
von Klaus Kühlwein

Papst Pius XII., Retter der römischen Juden, der eine SS-Razzia abbrechen ließ? So stellte ein Fernsehfilm kürzlich den früheren Pontifex in Szene, der nun kurz vor der Seligsprechung steht. Dabei riskierte dieser in Wirklichkeit keinerlei Konflikt mit den Nazis.

Die Rettung der römischen Juden im Jahre 1943 durch Papst Pius XII. wurde kürzlich in einem TV-Zweiteiler in Szene gesetzt. Zu diesem Zweck wurde das Thema der Razzia am 16. Oktober 1943 gewählt. Der Film schildert, wie der Holocaust zum ersten Mal nach vier Kriegsjahren nach der Ewigen Stadt greift. Pius steht da nicht mehr vor der Frage: „sprechen oder schweigen“, sondern retten oder nicht retten.

Doch stellte sich diese Frage überhaupt? Sollte der Papst etwa die Juden seiner Bischofsstadt Todeshäschern überlassen? War es nicht selbstverständlich, dass er alles daran setzte, zu retten, was zu retten war?

Die Seligsprechung Pius XII. ist durch Benedikt XVI. schon seit Jahren vorangetrieben worden und soll unmittelbar bevorstehen. Für ein solches Dekret wäre ein Schatten auf der von Benedikt attestierten „heroischen Tugend“ ein Desaster. Es verwundert daher nicht, dass Pius XII. in dem Fernsehfilm zu einem mächtigen Gegenspieler der SS emporsteigt und den Schergen einen Strich durch die Rechnung macht. Rom werde für die zehntausend Juden zur Falle werden, verkündet der Judenjäger Theodor Dannecker zu Beginn des Films: Die Warnung des deutschen Botschafters im Vatikan, Ernst von Weizsäcker, vor einem kämpferischen Papst wird vom Tisch gewischt.

Der Zuschauer erfährt bald, dass Weizsäcker recht hatte. Eindringlich interveniert Pius am Tag der Razzia und erreicht frühzeitig einen Abbruch der Aktion. Rund eintausend Juden können die Soldaten verhaften, 9000 kann Pius vor dem Zugriff retten. Und auch aus der Schar der Verhafteten gelingt es ihm, noch eine größere Anzahl frei zu bekommen. Der Oberhirte schlägt die „Deutschen“ mit bürokratischer Waffe. Den Rest der Gefangenen lässt Dannecker aber handstreichartig in einen Deportationszug verfrachten und noch am Abend abtransportieren.

Der Zuschauer muss den Eindruck gewinnen, dass Papst Pius keine Zeit hatte, diesen Abtransport zu verhindern. Für die tausenden anderen Juden Roms lässt er im Film aber unverzüglich sämtliche Klöster öffnen, um ihnen Schutz vor einem erneuten Zugriff der SS zu gewähren.

Die Botschaft vom entschlossenen und erfolgreichen Judenretter Pius XII. während der Razzia ist eindrucksvoll – aber Legende. Sie schildert eine Wunschillusion: So hätte Papst Pius sein können, so hätte er sein sollen.

Die Retter-Legende wurde vor wenigen Jahren zum ersten Mal von den jesuitischen Vatikanhistorikern Pater Blet SJ, Pater Sale SJ und Pater Gumpel SJ formuliert. Besonders Pater Gumpel, der Relator des Seligsprechungs-prozesses, wird nicht müde, die These vom Razziastopp und der Rettung der römischen Juden dank Pius XII. zu propagieren. Gerade erst wurde die irreführende Darstellung wieder von einem Schüler Pater Gumpels und Gesandten der umtriebigen „Pave the Way Foundation“ (New York) öffentlich vertreten und von der vatikantreuen Nachrichtenagentur Zenit um die Welt geschickt.

Nachdem das Untersuchungsergebnis (Positio) zur Seligsprechung Pius XII. im Mai 2007 von der Kongregation für Heiligsprechungen einstimmig angenommen wurde, fand die Retter-Legende Einzug in die offizielle Kommunikation des Vatikans. Sie wurde vom Päpstlichen Geschichtskomitee in die internationale Pius-Ausstellung eingearbeitet (auf Tafel 51), sie wurde von Papst Benedikt während seiner Ansprache in der römischen Synagoge am 17. Januar 2010 erwähnt und nach der Film-Premiere am 9. April 2010 in seiner Anwesenheit offiziell gut geheißen.

Doch die historische Wahrheit ist anders, schonungslos und schmerzvoll. Eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Razzia revidiert das Wunschbild vom entschlossen eingreifenden Pius XII. Als am 16. Oktober 1943 SS-Polizei die Juden Roms ergriff, handelte er nicht anders als in den Kriegsjahren zuvor: schweigend, zaudernd, mutlos und diplomatisch extrem vorsichtig.

Bereits frühmorgens wurde Pius von der Augenzeugin Principessa Pignatelli von der angelaufenen Razzia im alten Judenghetto auf der anderen Tiberseite unterrichtet. Eindringlich bat sie ihn, unverzüglich vor Ort einzuschreiten. Pius ging nicht darauf ein. Er wollte die Sache mit behutsamer Diplomatie lösen. Sich selbst hielt er im Hintergrund. Sein Staatssekretär Kardinal Maglione und sein Verbindungsmann zu den deutschen Stellen, Pater Pfeiffer, sollten beim deutschen Botschafter Weizsäcker bzw. beim römischen Stadtkommandanten, General Stahel, um einen Stopp der Razzia ersuchen. Vielleicht ließ Pius auch gleichzeitig über Alois Hudal, den Bischof der deutschen Gemeinde, schriftlich die Gefahr eines öffentlichen Protestes beim General signalisieren. Doch das ist historisch noch umstritten.

Die Bitten an Weizsäcker und Stahel hatten keinen Erfolg. Der Botschafter wie der Kommandant zuckten nur mit den Achseln. Beide sahen sich außerstande, in eine SS-Aktion einzugreifen. Weizsäcker riet zusätzlich dringend von einem Protest ab, der das sensible Verhältnis Berlin-Vatikan gefährden könnte. Und Stahel wies Pater Pfeiffer mit den Worten die Tür, die Razzia sei eine Angelegenheit der SS und er wolle keine Beschwerden in dieser Sache hören.

Papst Pius nahm die Absagen reaktionslos zur Kenntnis. Weder ließ er insistieren noch unternahm er weitere Schritte. Die Situation war ihm zu heikel. Eine Eskalation mit Berlin wollte er unbedingt vermeiden. Zur selben Zeit lief die Razzia im alten Ghetto und überall in Rom wie von den Nazis geplant weiter. Die berüchtigte „Liste Dannecker“, die der SS-Judenjäger zusammengestellt hatte, wurde bürokratisch akkurat abgearbeitet. Gegen 14 Uhr fuhr der letzte Lastwagen mit Verhafteten in den Hof des Collegio Militare. Das Gebäude diente als vorübergehendes Sammellager. Mehr als eintausend Menschen jeden Alters hatten die Häscher zusammengetrieben. Viele Juden auf der Liste waren geflüchtet; zusätzlich waren die Meldedaten sehr lückenhaft. Außerdem lebten die meisten der vermuteten zehntausend Juden illegal in der Stadt.

Die Behauptung, Papst Pius hätte einen Abbruch der Razzia erreicht und damit neun Zehntel der römischen Juden gerettet, ist nachweislich falsch. Sämtliche Dokumente zur SS-Aktion sowie alle Zeugenaussagen und Erinnerungen unmittelbar und mittelbar Beteiligter bestätigen, dass die Razzia so wie von der SS geplant ablief und beendet wurde.

Die gegenteilige Behauptung wird aus einer kurzen und unklaren Telefonnotiz Bischof Hudals hilflos konstruiert. Ihm war am Tag nach der Razzia von General Stahel versichert worden, dass es keine weiteren Aktionen geben würde – Himmler habe das telefonisch bestätigt. Dies ist so korrekt wie zynisch. Weitere Razzien in Rom waren schlicht sinnlos: Es gab keine registrierten Juden mehr.

Die Verhafteten blieben vom Samstag, 16. Oktober, bis Montag im Collegio Militare interniert. Am frühen Nachmittag des 18. Oktober wurden sie vom Bahnhof Tiburtina direkt nach Auschwitz abtransportiert. Nur wenige entgingen der Gaskammer. Fünfzehn von ihnen überlebten die KZ-Hölle und kehrten zurück.

In den zwei Tagen bis zur Deportation unternahm Pius XII. nichts, um die Gefangenen seiner Bischofsstadt zu befreien: keine Fühlungnahme mit der römischen SS-Dienststelle, kein Kontakt zu deren Vorgesetzten General Harster und Wolff, kein Emissär zu Feldmarschall Kesselring, kein Alarm bei Nuntius Orsenigo in Berlin und keine Fürsorge gegenüber den verhafteten Juden, die nur einen Steinwurf weit vom Vatikan im Collegio Militare in Todesängsten bangten. Vermutlich hielt Pius XII. jede dieser Maßnahmen für diplomatisch unkalkulierbar.

Mir liegt die Kopie eines brisanten Dokuments aus dem noch verschlossenen Bestand des päpstlichen Geheimarchivs vor, das die Untätigkeit Pius XII. belegt. Es ist ein gemeinschaftlicher Hilferuf von mehreren jüdischen Familien, die sich am Tag nach der Razzia aus einem Versteck heraus per Brief an Papst Pius wenden. Der Brief ist der verzweifelte Appell dieser Menschen, die vom Pontifex wegen seiner Autorität eine Intervention erflehen, um die Verhafteten im Collegio zu befreien. Ihr Abtransport drohe von einem Moment zum anderen.

Der Brief erreichte den Vatikan am Sonntag. Pius las ihn am Montagvormittag, zu dem Zeitpunkt, als die Menschen zum Bahnhof Tiburtina gekarrt wurden. Man solle die Bittsteller wissen lassen, dass man tue, was man könne: Das war die lapidar-bürokratische Antwort vom Papst an seinen Substituten Montini. Mehr sagte er nicht, und er unternahm nichts. Ein Stopp des Transports zum Bahnhof, gar ein Aufhalten des Zuges, kam für ihn keineswegs in Frage.

Der Brief bestätigt die traurige Faktenlage: Den diplomatischen Eklat einer Rettung riskierte Pius nicht. Selbst am Tag danach konnte sich Pius eine – unverbindliche – päpstliche Missbilligung darüber, dass ein großer Deportationszug Rom verlassen hatte, nicht abringen, obwohl er genau wusste, was die Deportierten erwartete. Er hatte schon Ende 1942 Kenntnis von rund zwei Millionen ermordeter Juden. Zwei Millionen: Diese unfassbare Zahl stammte aus verschiedenen glaubwürdigen Quellen.

Die vatikanische Legende vom Judenretter Pius XII. während der Razzia ist eine grobe Geschichtsklitterung. Die historische Wahrheit muss anerkannt werden, selbst wenn sie verstörend ist. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, heißt es im Johannesevangelium.

Papst Benedikt braucht bei seiner Entscheidung zur Seligsprechung nicht zu fürchten, dem wahren Pius XII. zu begegnen. Es ist die Begegnung mit einer gequälten Seele, die vergeblich Sicherheit suchte in einem filigran gewobenen Netz aus diplomatischer Rücksicht, Vorsicht, Bedenken und endlosem Abwägen. Es ist aber auch die Begegnung mit einem mutigen Menschen, der die Kraft aufbrachte, einen schweren Fehler zu korrigieren: Eine Woche nach der Razzia bot er immerhin den untergetauchten Juden Roms endlich Schutz und Zuflucht – ungeachtet aller Risiken.

Zur Sache
Der Vatikan will den umstrittenen Papst Pius XII. seligsprechen. Ein mit vatikanischer Unterstützung produzierter und kürzlich gesendeter aufwändiger TV-Zweiteiler über Pius suggeriert, der Papst sei während der SS-Razzia in Rom ein aktiver Retter der Juden gewesen. Doch die Fakten sprechen dagegen.

Klaus Kühlwein, Freiburger Theologe, hat ein Buch zum Thema veröffentlicht: Warum der Papst schwieg. Patmos Verlag Düsseldorf 2008, 246 Seiten.

Frankfurter Rundschau, 14.12.2010

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