100 Jahre Kibbuz
Inspiration für soziale Utopien
von Inge Günther

Rachel öffnet den Kühlschrank und seufzt so tief, wie es nur Teenager können, wenn ihnen etwas fehlt. Keine Milch da! Das Problem löst sie allerdings blitzschnell. Die 15-Jährige flitzt von der elterlichen Wohnung über den Balkon in die Küche der Nachbarsfamilie. Strahlend kehrt sie eine Minute später zurück, in den Händen ihre Schüssel Cornflakes, getränkt in frischer Milch.

Auf kurzem Weg einander im Alltag auszuhelfen ist in Tamuz selbstverständlich. „Wir fragen gar nicht mehr“, beschreibt Rachel den Umgang mit den Nachbarn. „Du gehst einfach und nimmst, was du gerade brauchst.“ Das klingt nach heiler Welt und früher Landkommune.

Dabei ist Tamuz eher das Gegenteil: ein urbaner Kibbuz, gezielt angesiedelt in einem Problemviertel von Beit Schemesch, einer israelischen Stadt mit bald 80000 Einwohnern, darunter ein überdurchschnittlich hoher Anteil an nordafrikanischen und russischen Einwanderern sowie einer großen, ultraorthodoxen Gemeinde. In den 1970er Jahren galt Beit Schemesch („Haus der Sonne“), gelegen auf halber Strecke zwischen Jerusalem und Tel Aviv, als die Hochburg der rechtskonservativen Likud-Partei.

Nicht gerade ideale Bedingungen für eine linke soziale Utopie. Doch nicht weniger als das versuchen die 33 Kibbuz-Mitglieder von Tamuz mitsamt ihren Kindern zu leben und dies schon – in wechselnder Besetzung – seit 23 Jahren. Sogar das Design des Kibbuz in der Stadt spiegelt den Gedanken eines gemeinschaftlich organisierten Zusammenlebens wider. Entworfen hat es ein renommiertes Architekten-Duo: Ran Carmi und Ada Carmi-Melamede, die auch das Oberste Gericht in Jerusalem gebaut haben. Ihr Faible für klassische geometrische Linien verrät Einflüsse der Bauhausarchitektur. Im Mittelpunkt steht der Mensch.

So bildet eine große, dreieckig angelegte Spielwiese das Kibbuz-Zentrum. Auf ihr vergnügen sich Kids aller Altersklassen abgeschirmt vom Straßenverkehr bis in die Dunkelheit hinein, ohne dass ihre Eltern bangen müssen. Darum herum gruppieren sich einander zugewandte, helle Wohnkomplexe für 16 Familien. Auch ein Gemeinschaftshaus gehört dazu sowie ein runder Platz, der sich nach außen öffnet – ideal für Open-Air-Veranstaltungen oder auch nur, um auf den im Halbkreis angeordneten Sitzstufen den Sonnenuntergang über Beit Schemesch zu verfolgen.

Fantasten jedenfalls sind die Tamuz-Kibbuzniks nicht. Einige sind sogar etabliert und haben gut bezahlte Jobs; sie sind als Anwalt, Hochschullehrer oder in der Hightech-Branche tätig. Und längst nicht alle 33 Erwachsenen lassen ihre nächsten Nachbarn derartig freizügig an den eigenen Kühlschrank ran wie die von Rachel. „Die Familien können unter sich ausmachen, wie viel Privatsphäre sie brauchen“, sagt Rachels Vater Hanan Cohen (48). Die Entscheidung etwa, ob der Verbindungsbalkon zwischen zwei Wohnungen geöffnet oder mit einer Sichtblende getrennt wird, ist den Bewohnern überlassen.

Auch die Teilnahme am wöchentlich gemeinsam organisierten Schabbat-Essen „ist kein Muss“, betont Cohen, der als Webmaster arbeitet und den Kibbuz nach außen hin vertritt. „Aber wer kann, macht mit und steuert etwas bei.“ In Cohens Fall waren das zuletzt hundert gebratene Hähnchenteile. Er grinst. Seit 15 Jahren lebt er mit Ehefrau Osnat und inzwischen vier Kindern im städtischen Kibbuz. Das übt.

Ohne die Bereitschaft zu teilen, kommt keiner in Tamuz aus. Was jeder verdient, geht auf ein gemeinsames Konto. Die Gesamtsumme wird so gerecht geteilt wie möglich, unter Berücksichtigung von Alter und Zahl der Kinder und anfallenden Extrakosten wie Fahrtauslagen. Krankenversicherung und Ausbildung trägt der Kibbuz, sprich: die Gemeinschaft.

In Tamuz hält man es in dieser Hinsicht noch mit dem alten Karl Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.“ Eine Idee, die schon die Gründer des ersten Kibbuz beflügelte. Degania A nannte sich der Urkibbuz, der vor 100 Jahren am Südende des Sees Genezareth entstand und zahlreiche Nachahmer fand.

Noch bevor 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde, breiteten sich die Kibbuzim bis in entlegene Landesteile aus, um Sümpfe trockenzulegen und Wüstengebiete urbar zu machen. Die Kibbuz-Mitglieder von Tamuz wollen von ihrem Selbstverständnis her den städtischen Sumpf trockenlegen. Im Kibbuz-eigenen Kindergarten sind Kids aus dem nahe gelegenen sozialen Brennpunkt ausdrücklich erwünscht.

Die älteren Kibbuz-Kinder besuchen wiederum ganz normale Schulen im Viertel. Ihre Väter und Mütter sind dort nicht nur in den Elternbeiräten aktiv. Sie haben auch ein Leseprojekt für äthiopische Einwandererkinder initiiert und zu diesem Zweck zweisprachige Kinderbücher – in Hebräisch und Aramäisch – erstellt. „Uns geht es darum“, sagt Cohen, „dass auch eine äthiopische Familie die für den Lernprozess förderliche Erfahrung des gemeinsamen Lesens machen kann.“ Sein Motto: „Starke und schwache Familien müssen sich zusammentun.“

Vor allem junge Familien in Israel entdecken wieder die Kibbuzim, ob auf dem Land oder in der Stadt. „Du bist nicht allein“, beschreibt Hanan Cohen die Vorteile eines Kibbuzniks, „und du führst ein Leben, das Sinn gibt.“

Die Geschichte der Kibbuzim

Vor 100 Jahren, am 29. Oktober 1910, wurde der erste Kibbuz überhaupt gegründet: Degania Alef, kurz Degania A. Ursprünglich waren die Kibbuzim sozialistische Agrarkollektive, in denen das Privateigentum abgeschafft wurde. Später kamen Industriebetriebe hinzu, die auch Arbeiter von außerhalb beschäftigten. Heute sind viele der noch bestehenden 250 Kibbuzim ganz oder teilweise privatisiert. 106000 Israelis leben dort.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten viele der Kibbuzim, die als Speerspitze der zionistischen Bewegung galten, Holocaust-Überlebende aufgenommen.
An heftigen Kämpfen gegen die Armeen umliegender arabischer Staaten waren die Einwohner 1948 während des Unabhängigkeitskrieges beteiligt.
Seit dem Sechstagekrieg von 1967 sind mehr als 350 000 Freiwillige aus aller Welt nach Israel gekommen, um bei der Arbeit im Kibbuz mitzuhelfen.
Die urbanen Kibbuzim, wie es sie in Beit Schemesch, Jerusalem, Tel Aviv, Sederot und anderen israelischen Städten gibt, fußen auf einer Idee aus den 1960er Jahren. Sie zählen insgesamt nur 2000 Mitglieder und ziehen vor allem junge Israelis an. geg/dpa

FR, 19.10.2010

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