Mit Herz und Hand
Eine Einstimmung auf den Bibelarbeitstext 5. Mose 30,6–20
für den Deutschen Evangelischen Kirchentag, Dresden 2011
von Jürgen Ebach

„Dieses Gebot ist dir sehr nahe.“ So heißt es in 5. Mose 30,14 ziemlich in der Mitte des Bibelarbeitstextes für den Freitag des Dresdner Kirchentags 2011. Und weiter: „Es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst danach handeln.“ Die Septuaginta, eine griechische Fassung des Alten Testaments, hat an dieser Stelle zum Mund und zum Herzen noch die Erweiterung „und in deinen Händen“. Das Plakat für den Dresdner Kirchentag setzt diesen Zusammenhang von Herz und Hand ins Bild. Ich möchte es auch so „lesen“: Das Tun der Hände bildet das Herz. Denn das Herz steht in der Bibel nicht vor allem für das Gemüt und das emotionale Empfinden; es ist dort zuerst das Organ des Denkens und Planens.

„... da wird auch dein Herz sein.“ So lautet die Matthäus 6,21 entnommene Kirchentagslosung. Der Bibelarbeitstext aus dem 5. Mosebuch entfaltet nicht zuletzt die Frage, wie unser Herz beschaffen sein muss, so dass wir auf Gottes Wort hören und auch danach handeln können. Es bedarf nämlich zuvor einer „Operation“. Mit diesem merkwürdigen Bild setzt der Text in V. 6 ein: „Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen“ – so die Lutherbibel. In der Bibel in gerechter Sprache ist das Bild umschrieben: „Adonaj, deine Gottheit, selbst wird bei dir und deinen Nachkommen den Schleier von deinem Herzen und von deinem Verstand reißen.“

Soll man in der Übersetzung bei dem im hebräischen Text deutlichen Begriff des „Beschneidens“ bleiben, der die bei einer Kirchentagsbibelarbeit Zuhörenden womöglich zuerst an Verletzungen und Wunden denken lässt? Oder soll man zu einer Umschreibung greifen, die dann aber die Aufnahme der Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Israel undeutlich macht? Ich bin gespannt, wie die für den Kirchentag erarbeitete Übersetzung damit umgehen wird. An solchen Stellen zeigt sich, wie wichtig es ist, immer wieder verständig und beherzt das Übersetzen und das Übersetzen der biblischen Texte zu versuchen und zu erproben.

Schmerzlicher Schnitt?

Die Beschneidung wird in der Bibel und im ganzen Judentum nur an Männern vollzogen. Im Bild der Beschneidung des Herzens sind dagegen nicht nur Männer vor Augen. Aber wie soll man sich das vorstellen? Israels Menschen sollen nicht halsstarrig sein, lesen wir zuvor im selben 5. Mosebuch (10,16) und parallel dazu heißt es da, sie sollen selbst die Vorhaut ihres Herzens beschneiden. Was wird da vom Herzen weggenommen? Ich denke nicht nur an einen Schleier, sondern auch an einschneidende Operationen am offenen Herzen. Da sind Verkrustungen zu entfernen, Panzer, die sich ums Herz gelegt und es verhärtet haben, so dass es unempfindlich und unbarmherzig wurde. Und manche – Hand aufs Herz! – haben das Herz auch nicht auf dem rechten Fleck.

„Dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar“, lesen wir in der vertrauten Fassung der Lutherbibeln in 1. Mose 6,5, und auch nach der darum von Gott verhängten großen Flut lautet Gottes Urteil über den Menschen nur wenig anders (8,21). Vom verstockten Herzen des somit unbarmherzigen Pharao ist mehrfach in der Exodusgeschichte die Rede. Gott hat sein Herz verhärtet und er selbst hat sein Herz verhärtet. Folgen wir den Worten von 5. Mose 30, so ist das nicht das letzte Wort über das Menschenherz und sein Denken, Planen und Handeln. Doch manchmal bedarf es auch eines schmerzlichen Schnitts, um sich mit Herz und Verstand dem Gebotenen zuzuwenden. Denn nicht alles, was mir ans Herz gewachsen ist, gehört auch dahin. Erst ein in diesem Sinn beschnittenes und darin freigelegtes Herz wird eines sein, das die Gebote hören und das Gebotene tun kann.

Nicht zu fern

Unser Text traut den Menschen viel zu; er traut ihnen zu, nach Gottes Geboten zu handeln. Das ist eine Auffassung vom „Gesetz“, die Menschen nicht klein macht und ihnen nicht vor allem ihr Versagen vor Augen führt. Der Bibelarbeitstext enthält nicht die biblische Auffassung – es gibt, im Alten und im Neuen Testament, auch andere Linien –, aber es ist eine biblische Auffassung und dabei eine, die in christlicher, evangelischer und vor allem in lutherisch geprägter Frömmigkeit entschieden zu kurz kam.

Gerade darum sollten wir uns die Worte zu Herzen nehmen, die unser Text Mose in den Mund legt. An dieser Stelle des 5. Mosebuches geht der Blick weit in Israels Zukunft. Unmittelbar vor dem Übergang in das verheißene Land schaut Mose auf die Zeit, in der Israel das Land wieder verloren haben wird. Doch dann wird es eine Zeit geben, in der das Volk zu Gott und dann und darum auch Gott zu seinem Volk zurückgekehrt sein wird, eine neue Zeit des Glücks und des Segens, der sich auch ganz materiell in Wohlstand und Landbesitz realisieren wird. Die Erfahrung von Katastrophe und Exil und die gewisse Erwartung eines Neubeginns werden in 5. Mose 30 in die Situation der Wüstenzeit zurück und Mose in den Mund gelegt. Die eigene Gegenwart und die erhoffte Zukunft sind in die Gestalt einer alten Moserede gebracht. Und diese Rede bedenkt – fast wie in einer Bibelarbeit –, was die zuvor im 5. Buch Mose („in diesem Torabuch“ heißt es in V. 10) gebotenen Bestimmungen heute zu sagen haben.

Was sie zu sagen haben, legt sich dem dafür geöffneten Herzen dar. Denn das Gebot ist (V. 11) „nicht verborgen noch zu ferne“ (Lutherbibel), „nicht zu schwer verständlich für dich und nicht abwegig“ (Bibel in gerechter Sprache). Und dann folgt eine Ortsbestimmung des Gebots und der ganzen Tora, die in der rabbinischen und der weiteren jüdischen Schriftlektüre große Bedeutung bekam und die auch Christenmenschen beherzigen sollten: Das Gebot, die Tora, ist „nicht im Himmel“ (V. 12) und „nicht jenseits des Meeres“ (V. 13), es ist vielmehr „dir sehr nahe. Es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, deinem Verstehen – und in deinen Händen. Du kannst danach handeln“ (V. 14).

Gottes Gebote bilden keine spiritistische Geheimlehre, deren tieferer Sinn sich dem menschlichen Herzen entzieht. Sie sind vernünftig und sie sind der Vernunft zugänglich. Das schließt nicht aus, dass ihre Auslegungen und Anwendungen oft umstritten sind. Und was soll man tun, wenn es solche Kontroversen gibt? Dann soll man – das haben die Rabbinen gerade dieser Stelle unseres Textes entnommen – nicht auf göttliche Stimmen und Eingebungen setzen, sondern diskutieren und argumentieren und am Ende soll die Mehrheit darüber entscheiden, was, wenigstens für eine Weile, gelten soll. Doch da stellt sich eine Gegenfrage: Ist denn die Wahrheit immer bei der Mehrheit? Gewiss nicht, lautet meine Antwort, aber da ist es im jüdischen Lehrhaus und in evangelischen Synoden wie in der Demokratie. Ich denke an Winston Churchills Satz, die Demokratie sei die schlechteste Staatsform – ausgenommen alle anderen. Ich misstraue jedenfalls allen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen und diesen Besitz von ganz oben ableiten. Was die Wahrheit ist, kann keine Mehrheit entscheiden, aber im Streit darum, was gelten soll, wenn es darum zu tun ist, die Gebote in konkreter Situation je heute auszulegen, gibt es nichts Besseres als eine demokratische Mehrheitsentscheidung. Ganz zugespitzt und zu einem Text der Hebräischen Bibel auf einem Evangelischen Kirchentag gesagt: Das ist jüdisch und das ist evangelisch!

Wir haben die Wahl

In den Kapiteln vor unserem Bibelarbeitstext stellt Gott durch Mose dem Volk die Wahl zwischen Fluch und Segen vor Augen. Dieses Thema nimmt der Schlussabschnitt von 5. Mose 30 wieder auf. Zur Mündigkeit gehört die Wahlmöglichkeit. Aber wer wählen kann, muss auch wählen. Im gegenwärtigen vielfachen Pluralismus wird die Wahl – mit dem griechischen Wort: die Häresie – mit allen Risiken und Nebenwirkungen zur Notwendigkeit. Aber auch für Israels Menschen im Exil, der Zeit der Abfassung unseres Textes, konnten die Götter Babyloniens zur verführerischen Alternative werden. Wenn richtig ist, was sich durchgesetzt hat, oder wenn die Freiheit (mit Lenin) die Einsicht in die Notwendigkeit ist, dann liegt es nahe, das Herz an das jeweils Stärkere zu hängen und ihm zu dienen. An dieser Stelle wird mir Luthers Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus sehr wichtig. „Ein Gott“, lesen wir dort in Luthers Sprache, „heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben ...“ (1) Darauf folgen die berühmten Worte: „Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ Und dann konkretisiert Luther – verblüffend aktuell: „Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich drauf so steif und sicher, daß er auf niemand nichts gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon …“

Mit diesen reformatorischen Worten und mit den Worten der Moserede in 5. Mose 30 stellt sich die Frage nach Segen und Fluch. Wir haben die Wahl. Und wir können die Wahl treffen – mit Herz und Verstand, mit Herz und Hand.

(1) M. Luther, Der Große Katechismus, u. a. in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 61967, 543–733, hier 560.

aus: Junge Kirche 1/11. Unter der Überschrift „Wir haben die Wahl“ abgedruckt in: Der Kirchentag. Das Magazin, Ausgabe 03/2010, 7–9.

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