Passionsmusik von Johann Sebastian Bach
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Passionen wollen der christlichen Gemeinde den Leidensweg Jesu Christi in seiner Bedeutung für sie und die Menschheit nahebringen. Als theologisch durchdachte Kompositionen sind sie musikalische Verkündigung auf der textlichen Basis der Passionsberichte der Evangelien. Sie besingen das Sterben Christi für uns, um es in uns fruchtbar zu machen. Darum geht es: Dein Tod und sein Ursach fruchtbarlich bedenken, denn: Du kannst viel süße Frucht von seiner Wermut brechen.
Man kann drei Textgruppen unterscheiden. Da sind die Rezitative, die die biblische Vorlage meist unverändert übernehmen, dann die Arien und Ariosi, die als geistliche Dichtung das Leiden Christi für uns glaubend reflektieren, und Chöre, die die Antwort der Gemeinde darstellen.

Antijüdische Lesart
Zwei Gesichtspunkte legen die Vermutung von Antijudaismus in den Passionen nahe, ihr Sitz im kirchlichen Jahr und manche ihrer Texte.
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die Passionszeitfür Juden oft mit Angst und Schrecken verbunden. Der von Predigern aufgestachelte christliche Pöbel stürmte immer wieder die Ghettos, um die angeblichen Christusmörder zu vertreiben und zu ermorden. Bei vielen Christen war die Wahnvorstellung verbreitet, Juden würden zur Passahzeit christliche Kinder rauben, rituell töten und mit ihrem Blut die Mazzenbrote backen.
Zur antijüdischen Stimmung der Passionszeit passen manche Texte und Kompositionseigentümlichkeiten der Passionen. Im Visier der Kritik steht vornehmlich der Chor der Matthäuspassion, der auf dem Höhepunkt des Prozesses Jesu singt: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder. Julius Schniewind, Theologe der Bekennenden Kirche, kommentierte: „Die Selbstverfluchung Israels hat in Bach ihren machtvollsten Ausleger. In der Tat, sein Blut komme über das ganze Volk. Dieses Volk kreuzigt seinen Helfer und Heiland, während der Heide Pilatus als Richter dessen Unschuld feststellt.“ Andere sehen in den beiden herumirrenden Flötenstimmen den angeblich machtlosen Statthalter Roms, der sich nicht zu helfen weiß gegen den jüdischen Volkszorn, dessen Chor eine fanatische Bestimmtheit habe. Doch polyphone Stimmführung ist typisch für Barockmusik und nicht Ausdruck menschlicher Zerrissenheit.
Manche hören die Johannespassion als dramatische Gewaltspirale, wo in den schrillen Chören: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn nicht überantwortet und: Nicht diesen, sondern Barrabam sowie: Weg mit dem, kreuzige ihn, die Juden in vertonter Hartnäckigkeit den Kreuzestod Jesu herbeischreien. In der Matthäuspassion kulminiere das Drama in der Pilatus-Frage: Diesen oder…?, worauf das Volk wie aus einer Stimme kurz und schrill antworte: Barrabam! Hier und dort zeichne die musikalische Dramatik das Getriebensein der Juden durch blinden Hass. Regieanweisungen, butrünstig zu singen, sollten das unterstreichen.
Doch ein Urteil über ein Kunstwerk legt nicht immer seine Intention aus, sondern bringt oft zum Ausdruck, was gemeinhin hineingelesen wird.

Bachs Intention
Die Mitte der Matthäuspassion bilden nicht die Kreuzige-Rufe, sondern die Arie Aus Liebe will mein Heiland sterben. Diese Soprankantilene trifft sich mit der biblischen Aussage vom Liebesdienst Jesu, in dem er sein Leben gebe als Lösegeld für viele (Mk 10,45). Der verkündigte Tod Christi weckt in der Gemeinde das Bewusstsein der ihr geschenkten Freiheit: Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muss uns die Freiheit kommen, und ruft in ihr die Frage wach: Wie kann ich dir denn deine Liebestaten im Werk erstatten? Das ist reformatorische Rechtfertigungslehre, nach welcher Christus durch seinen Tod den Sieg über alle Sünde errungen hat und die Lossprechung des Sünders erwirkt. Dasselbe sagt Bach in der Arie Es ist vollbracht… Der Held aus Juda siegt mit Macht. Er lässt durch sein Pein und Sterben den befreiten Sünder das Himmelreich ererben.
Diese Botschaft steht im Mittelpunkt der Passionen. Daneben steht die Mitwirkung von Juden an Jesu Tod. Allerdings taucht die Frage nach ihrer Schuld an seinem Tod bei Bach nicht auf, wie sie auch in der reformatorischen Theologie ohne Bedeutung ist. Die Evangelien und Bach sprechen vom aktiven Weg Jesu zum Kreuz. Nach Bach will der Heiland sterben. Die Evangelien verkünden: der Messias muss leiden. Der jüdische Anteil an Jesu Verurteilung ist in neutestamentlicher Sicht unbewusste und ungewollte Mitwirkung am Erlösertod Jesu und damit an der Rettung der Welt. Auch so könnte Bach verstanden werden.

Kirche und Macht
Die frühe Christenheit war sich des machtpolitischen Rahmens der Kreuzigung Jesu, der römischen Besatzung Israels, bewusst. Sie sagte im Glaubensbekenntnis gelitten unter Pontius Pilatus. Die Schuldzuweisung an die Juden speiste sich aus anderen Quellen als dem Glauben der Christen. Auch eine Selbstverfluchung ist biblisch unbekannt. Sein Blut komme über uns signalisiert die Bereitschaft, die Folgen des eigenen Tuns zu tragen. Eine antijüdische Verwendung dieser Bibelworte, im Sinne eines selbst heraufbeschworenen Verhängnisses für das jüdische Volk, gibt es erst seit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Jahr 313. Die Verfluchung der Juden war Propagandawaffe für seine Legitimation als wahre Reichsreligion. Der Antijudaismus gehört in den Gründungsmythos des christlichen Abendlandes. Seit zwei Jahrtausenden hat er den christlichen Glauben entstellt und Auschwitz den Weg bereitet – statt dem jüdischen Messias. Er ist tief ins Christentum eingesickert und erscheint jüdischer wie christlicher Wahrnehmung als sein natürliches Element.

Bleibende Ambivalenz
Nirgendwo ist greifbar, wie Bach über die Juden gedacht hat. Insgesamt müssen seine Passionen nicht antijudaistisch verstanden werden. Sie bleiben offen für die Sicht des Paulus, der im Römerbrief schreibt, die Mehrheit der Juden seien in Hinsicht auf das Evangelium Feinde um euretwillen, in Hinsicht auf die Erwählung aber Geliebte um der Väter willen (11,28).
Doch es bleiben Anstöße. In der Johannespassion lässt Bach die Juden Ostern essen statt eines Passa (Joh 18,29; >Enterbungslehre).
Wie ist der Hohepriester Kaiphas zu verstehen? Bach lässt Joh 18,14 rezitieren: Es war aber Kaiphas, der den Juden riet, es wäre gut, dass ein Mensch würde umbracht für das Volk. Wollte Kaiphas den Messias ermorden (>Gottesmordlüge), war er begieriger Jesum zu tödten?, fragt ein verbreiteter zeitgenössischer Kommentar.  (1)  Erst ein Blick auf die weniger bekannte Stelle Joh 11,50  klärt die Motive von Kaiphas: Es ist besser, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk umkommt. Dem Hohenpriester geht es um das Überleben des Gottesvolkes Israel unter der römischen Besatzung. Auch der Messias ist gekommen, Israel zu befreien, zur Erlösung aus der Hand unsrer Feinde (Lk 1,73). Wollen Kaiphas und Jesus dasselbe!?
So bleibt eine Ambivalenz beim Hören der deutungsoffenen Passionen. Das christliche Bild von den Juden wird diesen Freiraum immer besetzen.  Die Ambivalenz wird erst schwinden, wenn die Christen sagen, Jesus, ihr Messias, sei gekommen zur Befreiung der Juden aus der Hand aller derer, die uns hassen (Lk 1,71), -zur Befreiung der Welt von Judenfeindschaft.

(1) Kommentar von Johann Albrecht Bengel (1687-1752) zur Stelle in seinem Gnomon, dem im 18. Jahrhunderts allgemein verbreiteten Kommentar. Hier sieht man, dass sich der den Juden unterstellte Hass auf Christus in evangelischen Bibelkommentaren eingenistet hat.

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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