Der jüdische Mose
Die Gestalt des Mose im rabbinischen Judentum
von Klaus Wengst

Unter allen biblischen Gestalten nimmt Mose im rabbinischen Judentum die dominante Stellung ein. Durch ihn führt Gott sein Volk aus Ägypten, durch ihn gibt er ihm am Sinai Tora. Mose tritt für das Volk in die Bresche, als es aufgrund seiner Verehrung des Stierbildes verworfen werden soll, und argumentiert leidenschaftlich mit und gegen Gott. Zu seiner Größe gehört aber auch, dass er außerordentlich bescheiden und demütig ist.

1. „Es ist Halacha des Mose vom Sinai.“
Mose als Vermittler der Tora

Mosche rabbejnu („Mose, unser Lehrer“) ist eine in der Tradition zunehmend gebrauchte Bezeichnung. Gerade in seinem Lehren, im Geben der Tora gilt er als Prophet wie kein anderer: „Mit allen Propheten hörte Gott auf zu reden, aber mit Mose hörte er nie auf“ (ShemR 2,6). Im selben Zusammenhang wird aus der doppelten Anrede an Mose in Ex 3,4 gewonnen, „dass er Tora in dieser Weltzeit lehrte und sie in der kommenden Weltzeit lehren wird“. Des Weiteren war er auch bereit für das Priester- und Königtum, fungierte als Priester „in den sieben Tagen der Einweihung“ (Ex 29,1–34) und als König während der 40 Jahre in der Wüste (Dtn 33,5). Aber sein Wunsch, „dass Könige und Priester von ihm erstünden“, wurde ihm verwehrt.
„Mose empfing Tora vom Sinai“ lautet der erste Satz in Mischna Avot (1,1). An anderer Stelle wird fortgefahren: „nicht aus dem Mund eines Boten, nicht aus dem Mund eines Serafen, sondern aus dem Mund des Königs der Könige, dem Heiligen, gesegnet er“ (ARN [B] 1). Dabei kann von Mose sehr menschlich geredet werden, indem er hilfreich mit denen in Zusammenhang gebracht wird, denen das Lernen schwerfällt: „Die gesamten 40 Tage, die Mose auf dem Berg verbrachte, lernte er Tora – und vergaß sie. Schließlich wurde sie ihm als Geschenk gegeben. Warum geschah das alles so? Um die Einfältigen wieder (zum Lernen) zu bringen“ (jHor 3,9[48b]). Dabei wird zugleich der Gabecharakter der Tora sehr schön zum Ausdruck gebracht. Natürlich ist sie zu lernen und zu tun. Aber wenn das Lernen dann Erfolg hat und sie tatsächlich getan wird, ist das Geschenk.
Der erste Satz von mAv 1,1 begründet die Konstruktion einer Überlieferungskette, die von Mose über Josua, die Ältesten und die Propheten zu den „Männern der großen Versammlung“ führt und von ihnen zu dann namentlich genannten Lehrern. Dabei geht es jedoch nicht nur um die gewissenhafte Überlieferung des Textes der Tora, sondern zugleich auch um ihre Auslegung. Das zeigt sich etwa in einer Erzählung, die den Übergang der Lehrautorität von Mose auf Josua so legitimiert, dass sich Mose am Ende seines Lebens zum Schüler Josuas macht: „Mose stellte sich früh vor Josuas Tür. Josua saß und legte aus, Mose aber stand, machte sich klein und legte die Hand auf seinen Mund. Als die Israeliten das sehen, sagen sie zu Josua: „Was ist dir in den Kopf gestiegen, dass Mose, unser Lehrer, steht, du aber sitzest?!“ Eine Himmelsstimme fordert schließlich auf: „Lernt von Josua!“ (TanB Waetchanan 6 [6b]). Das eigene, ja größere Gewicht der mündlichen Tora gegenüber der durch Mose gegebenen schriftlichen kommt vielleicht am stärksten zum Ausdruck in der Erzählung von Mose im Lehrhaus Rabbi Akivas: „In der Stunde, als Mose zur Höhe hinaufstieg, traf er den Heiligen, gesegnet er, an, wie er dasaß und Krönchen an die Buchstaben band (= Zierstriche an bestimmten Buchstaben in der Tora anbrachte). Er sagte vor ihm: ‚Herr der Welt, wer hindert Deine Hand?‘ Er sagte ihm: ‚Es gibt einen Menschen, Akiva ben Josef sein Name, der am Ende einer Reihe von Generationen dasein wird, der wird aus Häkchen um Häkchen Haufen über Haufen von Halachot (= die das Leben regelnden Weisungen der mündlichen Tora) erforschen.‘ Er sagte vor ihm: ‚Herr der Welt, zeige ihn mir!‘ Er sagte ihm: ‚Wende dich um!‘ Er ging und setzte sich ans Ende von acht Reihen (im Lehrhaus Rabbi Akivas) und verstand nicht, was sie sagten. Da schwand seine Kraft. Als er (Akiva) zu einer bestimmten Sache kam, sagten ihm seine Schüler: ‚Rabbi, woher hast du das?‘ Er sagte ihnen: ‚Es ist Halacha des Mose vom Sinai.‘ Da beruhigte sich sein (des Mose) Sinn. Er kehrte zurück und kam vor den Heiligen, gesegnet er. Er sagte vor ihm: ‚Herr der Welt, Du hast einen solchen Menschen und Du gibst Tora durch meine Hand?‘ Er sagte ihm: ‚Schweig! So habe ich es beschlossen‘“ (bMen 29b). Durch diese Geschichte wird einmal die Notwendigkeit von Auslegung verdeutlicht. Dasselbe bleibt nicht dasselbe, wenn es in anderer Situation lediglich wiederholt wird. Es muss anders gesagt werden, um dasselbe bleiben zu können. Wäre Mose – so, wie er damals war – unter den Auslegern der durch ihn gegebenen Tora, er würde nichts verstehen. Und doch halten diese Ausleger daran fest, dass sie nichts anderes sind als treue Ausleger des Mose. Ja, mehr noch – und das ist der andere Aspekt dieser Geschichte: Indem in ihr Gott selbst es ist, der am Sinai die Zierstriche in der Tora anbringt und Akiva aus diesen Zierstrichen die Halachot entwickeln wird, bekommt damit die mündliche Tora dieselbe Würde wie die schriftliche; beide sind gleich ursprünglich. Dass diese Tradition Rabbi Akiva Halachot aus den Zierstrichen entwickeln lässt, macht noch einen weiteren Aspekt deutlich. Bei der Halacha – der verbindlichen Weisung für das konkret zu gestaltende Leben – muss es sich nicht einfach nur um Schriftauslegung handeln; sie kann auch unabhängig vom biblischen Text und manchmal gegen ihn gewonnen werden. Dennoch gilt sie als Tora – hat doch Gott selbst die Zierstriche angebracht. So heißt es in mHag 1,8: „(Die Halachot über) die Lösung von Gelübden schweben in der Luft; sie haben nichts, auf das sie sich stützen könnten. Die Halachot über Schabbat, Festopfer und Veruntreuungen sind wie Berge, die an einem Haar hängen: wenig Bibel, viele Halachot. (Die Halachot über) Rechtssachen, den Tempeldienst, Reines und Unreines sowie illegitime Sexualität haben etwas, worauf sie sich stützen können.“ Abschließend heißt es auf alle bezogen: „Diese und jene sind wesentliche Bestandteile der Tora.“ Aus der eigenartigen Wendung in Dtn 9,10 (wörtlich: und auf ihnen wie alle die Worte), die sich auf das von Gott mit dem Finger auf die beiden Tafeln Geschriebene bezieht, wird in jPea 2,6 (17a) als Gegenstand des Mose Gesagten erschlossen: „Schrift, Mischna, Talmud und Aggada (die erzählende Auslegung); sogar das, was künftig ein tüchtiger Schüler vor seinem Lehrer an Weisung erteilt, ist schon dem Mose am Sinai gesagt worden.“ Die Bindung an die Tora und die Freiheit ihrer Auslegung bilden hier eine spannungsvolle Einheit. In mAv 1,1 wird als letztes von den drei Worten der Männer der großen Versammlung die Aufforderung angeführt: „Macht eine Umfriedung für die Tora!“ Sie kann im Sinn einer Eingrenzung verstanden werden, dass z.B. etwas, das nach der Schrift bis zum Morgengrauen zu geschehen hat, schon um Mitternacht erfolgt sein muss, „um den Menschen von der Übertretung fernzuhalten“ (MekhJ Bo 6 zu Ex 12,8). Aber die wesentliche Intention dieser Aufforderung ist, einen weiten Spielraum für das Auslegen und Befolgen der Tora zu eröffnen. So kann Rabbi Akiva formulieren: „Die Überlieferungen sind eine Umfriedung für die Tora“ (mAv 3,13). Sie bieten dem Lehren, Lernen und Leben derjenigen Raum, die sich immer wieder an die Tora zurückverwiesen wissen. „Es ist Halacha des Mose vom Sinai.“

2. „Wer an den treuen Hirten glaubt …“
Mose als Beauftragter Gottes zur Rettung seines Volkes

Mose handelt entscheidend bei der Rettung des Volkes am Schilfmeer; aber der eigentlich Handelnde ist Gott selbst. Nach Ex 14,21 „neigte Mose seine Hand über das Meer“, dass es sich spalte. Unmittelbar anschließend heißt es, dass Gott das Meer zurückweichen lässt. Das nimmt ein Midrasch zum Anlass zu erzählen, dass sich das Meer dem Mose zunächst widersetzt habe. „Mose sprach zu ihm im Namen des Heiligen, gesegnet er, dass es sich spalte; aber es akzeptierte das nicht. Er zeigte ihm den Stab, aber es akzeptierte das nicht, bis der Heilige, gesegnet er, sich über ihm in seiner Herrlichkeit offenbarte.“ Erst da „begann das Meer zu fliehen. Denn es ist gesagt: Das Meer sah und floh (Ps 114,3). Mose sprach zu ihm: ‚Den ganzen Tag habe ich zu dir im Namen des Heiligen, gesegnet er, gesprochen, aber du hast es nicht akzeptiert; wovor fliehst du jetzt? Was ist dir, Meer, dass du fliehst?‘ (Ps 114,5) Es sprach zu ihm: ‚Nicht vor dir, Sohn Amrams, fliehe ich; vielmehr: Vor dem Herrn erbebe, Erde, vor dem Gott Jakobs, der den Fels in einen Wasserteich wandelt, einen Kiesel zu Wasserquellen‘ (Ps 114,7f.)“ (MekhJ Beschallach [Wajehi] 4).
Mose ist in außerordentlicher Weise Beauftragter Gottes; in seinem Handeln kommt Gott selbst zum Zuge. Das zeigt eine Auslegung des Schlusses von Ex 14,31: … und sie glaubten an den Ewigen und an Mose, seinen Knecht. Dazu heißt es in MekhJ Beschallach (Wajehi) 6: „Wenn sie Mose glaubten, gilt der Schluss vom Leichten auf das Schwere, dass sie auch dem Ewigen glaubten. Das ist gekommen, um dich zu lehren, dass jeder, der dem treuen Hirten glaubt, so ist, als ob er dem Wort dessen glaubt, der sprach, und es ward die Welt. Das Gleiche sollst du bei dem Wort denken: Und das Volk redete gegen Gott und gegen Mose (Num 21,5). Wenn sie gegen Gott redeten, gilt der Schluss vom Leichten auf das Schwere, dass sie auch gegen Mose redeten. Aber das ist gekommen, um dich zu lehren, dass jeder, der gegen den treuen Hirten redet, so ist, als ob er gegen den redet, der sprach, und es ward die Welt.“ In Mose tritt Gott selbst auf den Plan. Was gegenüber Mose getan wird, wird damit gegenüber Gott getan. Mose ist „der treue Hirte“.
Mose wirkt nicht selbstmächtig; er kann nur so wirken, wie er es tut, weil Gott in ihm und durch ihn handelt. Das wird in den parallelen Auslegungen zu den biblischen Erzählungen über die erhobenen Arme des Mose bei der Schlacht gegen die Amalekiter und über die Errichtung der ehernen Schlange betont. „Wenn Mose seine Hand erhob, siegte Israel, ließ er seine Hand aber sinken, siegte Amalek (Ex 17,11). Können denn die Hände des Mose den Kampf fördern oder hemmen? Vielmehr, immer wenn die Israeliten nach oben blickten und ihr Herz auf ihren Vater im Himmel ausrichteten, siegten sie, und wenn nicht, unterlagen sie. Und desgleichen: Und der Ewige sprach zu Mose: Mache dir eine Schlange und richte sie an einer Standarte auf und jeder, der gebissen ist und aufblickt, wird leben (Num 21,8). Kann denn eine Schlange töten oder lebendig machen? Vielmehr, immer wenn die Israeliten nach oben blickten und ihre Herzen ihrem Vater im Himmel unterwarfen, wurden sie geheilt, und wenn nicht, siechten sie dahin“ (mRHSh 3,8).

3. „Ich lasse Dich nicht, bis Du ihnen verzeihst und vergibst.“
Mose im Einsatz für sein Volk

Schon der biblische Text in Ex 32,11–13 stellt Mose als ebenso energischen wie geschickten Fürsprecher seines Volkes vor, als Gott es nach dem Vorfall mit dem goldenen Stierbild vernichten will. In Ps 106,23 heißt es im Blick auf dieselbe Situation, die Israeliten wären von Gott vernichtet worden, wäre nicht Mose, sein Erwählter, vor ihm in die Bresche gesprungen.
Die Psalmstelle wird in ShemR 43,1 so interpretiert, dass Mose als Verteidiger Israels vor dem richtenden Gott den Ankläger überwindet. In bPes 119a wird die Aussage des Psalms so verstanden, dass Gott selbst von Mose besiegt wurde und dazu angemerkt: „Komm und sieh, dass die Art des Heiligen, gesegnet er, nicht wie die Art von Fleisch und Blut ist. Wenn man einen Menschen aus Fleisch und Blut besiegt, trauert er; wenn aber der Heilige, gesegnet er, besiegt wird, freut er sich.“
Im Blick auf die Ankündigung Gottes an Mose in Ex 32,10: Und nun lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne usw. heißt es in bBer 32a: „Wenn es nicht als Bibel geschrieben stünde, wäre es unmöglich, das zu sagen. „Sie (die Bibel an dieser Stelle) lehrt, dass Mose den Heiligen, gesegnet er, ergriff wie ein Mensch, der seinen Mitmenschen an dessen Kleidung ergreift, und vor ihm sagte: ‚Herr der Welt, ich lasse Dich nicht, bis Du ihnen verzeihst und vergibst.‘“ Etwas weiter im Text wird aus Ex 32,32 geschlossen, dass Mose „sich selbst für sie dem Tod ausgeliefert hat“. Das Angebot Gottes, im Gegenzug zur Vernichtung des Volkes Mose „zu einem großen Volk“ zu machen, wird von diesem so gekontert: „Herr der Welt, wenn schon ein Stuhl mit drei Beinen vor Dir in der Stunde Deines Zornes nicht stehen bleiben kann, wie sollte es dann ein Stuhl mit einem Bein vermögen?“
Diese Argumentation, die sich auf Gottes Bundesschlüsse mit Abraham, Isaak und Jakob bezieht, findet sich in ShemR 44,9 in einem größeren Zusammenhang. Dort gesteht Mose gegenüber Gott zu, dass die Israeliten mit der Verehrung des Stierbildes den Anfang der Rede von Ex 20, keine anderen Götter zu ehren, annulliert hätten. Aber anschließend wirft er Gott vor, er wolle nun seinerseits das Ende dieser Rede annullieren. In Verbindung von Ex 20,6a und Jes 41,8 gewinnt er als Wort Gottes an Abraham: „Ich bewahre deinen Kindern Gnade bis zur 2000. Generation.“ Und dann zählt er Gott vor, dass es von Abraham bis zu ihm, Mose, gerade mal sieben Generationen sind. Gegenüber dem Einwand Gottes, dass sein Schwur auch bei Vernichtung der Israeliten bestehen bleibe, da ja auch Mose zu den Nachkommen Abrahams gehöre, bietet Mose – auf unterschiedliche Felder bezogen – die Argumentation, dass drei, die Erzväter, mehr Gewicht haben als einer, Mose. Schließlich stellt er in Verbindung von Hab 3,9 und Lev 26,45 heraus, dass Gottes Bundesschwur allen zwölf Stämmen gelte, während er, Mose, doch nur aus einem Stamm, dem Stamm Levi, komme; und er fragt Gott: „Was kannst Du dann dem Stamm Ruben sagen und den anderen Stämmen?“ Der Text fährt fort: „Da konnte er ihm nicht antworten.“
Immer wieder lassen die Rabbinen Mose mit Gott um Israel ringen. Wenn Gott nach Ex 32,7 zu Mose sagt: „Verdorben hat’s dein Volk“, entgegnet Mose darauf: „Jetzt nennst Du sie mein Volk; sie sind es aber nicht, sondern Dein Volk.“ Dazu wird bemerkt: „Nicht wich Mose vom Gebet, bis der Heilige, gesegnet er, sie sein Volk nannte“ (ShemR 41,7).
Nach Ex 23,23 sagt Gott zu Mose, dass bei dem Zug ins gelobte Land mein Bote vor dir herziehen wird. Nach der Auslegung dieser Ankündigung in ShemR 32,8 entgegnet Mose: „Einen Boten schickst Du mit mir? So waren die Bedingungen? Hast Du nicht gesagt: ‚Ich will herabsteigen, um Israel aus der Hand Ägyptens zu retten und es aus diesem Land heraufzuführen‘?“ So stellt er seinerseits die Bedingung: „Wenn nicht Dein Angesicht (= Du selbst) mitgehst, wirst Du uns nicht von hier heraufführen.“ Auf Gottes Gegenrede entgegnet Mose wiederum: „Siehe, Du hast gesagt: ein Bote; ich aber sage: wenn nicht Dein Angesicht mitgeht. Wir wollen sehen, wessen Worte Bestand haben.“ Und Gott gibt Mose recht. Nach ShemR 43,4 löst Mose angesichts der Sünde Israels durch die Verehrung des Stierbildes Gott sogar das Gelübde von Ex 22,19 auf: Wer Göttern opfert – und nicht dem Ewigen allein –, verfällt dem Bann.
In einer Diskussion mit Gott nach bSan 11a.b verliert Mose zunächst; indem er dann aber seine Zuflucht zu dem von Gott Gesagten nimmt, macht er wieder Israel zum Gewinner: „Als Mose zur Höhe hinaufstieg, traf er den Heiligen, gesegnet er, an, wie er dasaß und ‚Langmut‘ schrieb. Er sagte vor ihm: ‚Herr der Welt, Langmut für die Gerechten.‘ Er sagte ihm: ‚Auch für die Frevler.‘ Er sagte ihm: ‚Die Frevler sollen umkommen.‘ Er sagte ihm: ‚Bald wirst du sehen, was du dir gewünscht hast.‘ Als die Israeliten gesündigt hatten (mit der Errichtung des goldenen Stierbildes), sagte er (Gott) zu ihm: ‚Hast du nicht so gesprochen: Langmut für die Gerechten?‘ Er sagte vor ihm: ‚Herr der Welt, aber hast du nicht so zu mir gesprochen: Auch für die Frevler?‘“

4. „Sogar mehr als die Väter“
Die herausragende Größe des Mose

In mehreren Aspekten wird Mose gegenüber allen anderen Menschen hervorgehoben, aber dabei doch hin und wieder zu anderen in Beziehung gesetzt. In Dtn 34,10 heißt es: In Israel stand kein Prophet mehr auf wie Mose. Das wird in SifDev 357 zunächst bestätigend aufgenommen: „In Israel stand keiner auf“, dann jedoch fortgefahren: „Aber unter den Völkern der Welt stand einer auf. Und welcher war das? Bileam, der Sohn Beors.“ Ausgerechnet Bileam, der ansonsten in der rabbinischen Literatur eine ausgesprochen schlechte Presse hat, wird in seiner Prophetie als dem Mose überlegen herausgestellt.
Num 12,3 stellt fest: Der Mann Mose war sehr anáv (Grundbedeutung: „gebeugt“). Diese Aussage wird in SifBam 101 diskutiert und eindeutig gemacht durch die Hinzufügung: Er war „gebeugt in seinem Sinn“, also „demütig“. Das wird mit Hilfe von Bibelstellen abgegrenzt von „gebeugt in seinem Körper“, nämlich „schwach“, und von „gebeugt in seinem Geld“, nämlich „arm“. Körperlich schwach und finanziell arm war Mose nicht, aber demütig, und zwar, wie schon der Bibeltext fortfährt: „mehr als alle Menschen auf der Erde“. Dagegen wird im Midrasch eingewandt: „Aber nicht mehr als die Väter“, nämlich Abraham, Isaak und Jakob. „Rabbi Josse sagt: ‚Sogar mehr als die Väter.‘ … Aber nicht mehr als die Dienstengel“. In MekhJ Jitro (Bachodesch) 9 wird die Num 12,3 festgestellte Demut des Mose verallgemeinert: „Die Schrift zeigt an, dass jeder, der demütig ist, schließlich Gott in seiner Gegenwart (sch’chináh) bei den Menschen auf der Erde wohnen lässt.“
Obwohl in Dtn 34,5 festgestellt ist: Und dort starb Mose, heißt es am Ende der Auslegung dieser Stelle in SifDev 357: „Aber es gibt welche, die sagen: ‚Mose ist nicht gestorben, sondern er steht und dient oben.‘“ Sie begründen das, indem sie aufgrund des an beiden Stellen stehenden dort Dtn 34,5 mit Ex 34,28 verbinden: Und dort war er bei dem Ewigen (vgl. bSot 13b). Diese Vorstellung ist die Voraussetzung dafür, dass in der Erzählung von der Verklärung Jesu Mose neben Elija erscheinen kann (Mk 9,4 parr.).
Dass Mose nach Dtn 34,7 120 Jahre alt wurde, hat nicht nur den in Israel und der Diaspora bis heute üblichen Geburtstagswunsch ausgelöst: „Bis 120!“ Vor allem wurde Mose mit diesem Lebensalter und dessen Periodisierung in dreimal 40 Jahre mit den großen Lehrern der rabbinischen Tradition verbunden: „Er ist einer von den vieren, die mit 120 Jahren starben; und das sind sie: Mose, Hillel der Alte, Rabban Jochanan ben Sakkaj und Rabbi Akiva. Mose war 40 Jahre in Ägypten, 40 Jahre in Midian und sorgte 40 Jahre für Israel.“ Über die drei Lehrer wird über ihre je ersten 40 Jahre Unterschiedliches gesagt; von den zweiten und dritten heißt es übereinstimmend, dass sie 40 Jahre den Weisen dienten und 40 Jahre für Israel sorgten (SiDev 357). Implizit werden damit wieder schriftliche und mündliche Tora miteinander verbunden. Die Lehrer Israels setzen die Arbeit des Mose fort; sie bieten „Halacha des Mose vom Sinai“.

5. „… nichts außer dem, was die Propheten und Mose geredet haben“
Mose im Neuen Testament

Wie im sonstigen Judentum steht Mose auch in den neutestamentlichen Schriften zunächst und vor allem für die Tora. Sie ist „durch Mose gegeben“ (Joh 1,17). So kann vom „Buch des Mose“ gesprochen werden, in dem zu lesen ist (Mk 12,26). Ja, Mose verkörpert die Tora oder auch umgekehrt die Tora Mose. Dementsprechend wird „Mose von alten Zeiten her Stadt für Stadt … an jedem Sabbat vorgelesen“ (Apg 15,21; vgl 2Kor 3,15). Die Wendung „Mose und die Propheten“ bezeichnet zusammenfassend die ganze Schrift (Lk 16,29.31; 24,27.44; Joh 1,45; Apg 28,23). Sie bildet die Basis; so sagt Paulus nach Apg 26,22f. „nichts außer dem, was die Propheten und Mose geredet haben, dass es geschehen werde: wie der Gesalbte dem Leiden unterworfen ist, wie er als Erster aus der Auferstehung der Toten dem Volk und den Völkern Licht verkünden wird“. Was hier gesagt ist, findet sich in der Erzählung von der Verklärung Jesu ins Bild gesetzt. Die dort auftretenden Mose und Elija stehen für Tora und Propheten; im Licht der Schrift wird Jesus transparent für Gott.
Was Mose in der Tora sagt, ist selbstverständlich zu befolgen. So fordert Jesus den geheilten Aussätzigen auf, das von Mose vorgeschriebene Reinigungsopfer darzubringen (Mk 1,44 parr.; vgl. weiter Mk 7,10; 12,19 parr.; Lk 2,22). In Joh 7,23 argumentiert Jesus damit, dass „die Tora des Mose nicht aufgelöst“ werden darf. In Mk 10,2–9 parr. setzt er mit der Schrift gegenüber einer Anordnung des Mose einen anderen Akzent. Nach dem Matthäusevangelium gilt nicht nur die schriftliche Tora (vgl. etwa Mt 5,17), sondern auch die mündliche. In 23,2 stellt Jesus fest: „Auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer.“ Gemeint sind die rabbinischen Lehrer zur Zeit des Evangelisten, die die mündliche Tora formulieren. Nach V. 3 fordert Jesus: „Alles nun, was immer sie euch sagen, tut und bewahrt!“ V. 23 zeigt, dass man auch das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel „nicht lassen darf“. Das Verzehnten von Gartenkräutern ist aber nicht Gebot der schriftlichen, sondern der mündlichen Tora.
Manche über Mose gemachten Aussagen dienen als Verstehenshilfen für die Deutung Jesu. „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss auch der Menschensohn erhöht werden“ (Joh 3,14). Die Entsprechung ist besonders stark in Aussagen, in denen Mose bzw. Jesus gleichsam Transparent oder Mittler auf Gott selbst hin sind. Die Aufforderung Jesu in Joh 14,1: „Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ nimmt die Feststellung von Ex 14,31 auf, dass die Israeliten an den Ewigen glaubten und an Mose, seinen Knecht. Hier ist die oben unter Nr. 2 gebrachte Auslegung dieser Stelle in der Mechilta de Rabbi Jischmael zu vergleichen. Dass Jesus so wenig wie Mose einfach neben Gott steht, zeigt sich an Joh 12,44, wo er sagt: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich geschickt hat.“ Diese Aussage ist nicht umkehrbar. Entsprechend glaubt, wer an Mose glaubt, an den, „der sprach und es ward die Welt“. Wie Mose in dieser Tradition als „treuer Hirte“ Gott als Hirten Israels repräsentiert, so tut es Jesus nach Joh 10. In dieser und anderen Aussagen zeigt sich keine Besonderheit Jesu gegenüber der jüdischen Tradition. Seine Besonderheit – auch gegenüber Mose – ist allein begründet im Zeugnis von seiner als endzeitliche Neuschöpfung verstandenen Auferweckung von den Toten.

Zusammenfassung
Nach den Rabbinen wurde Mose auch die mündliche Tora bereits am Sinai offenbart. Das ist Ausdruck eines Konzepts, das an die Schrift bindet und Freiheit der Auslegung gewährt. Das Wirken Gottes und des Mose bei der Rettung des Volkes gehen so sehr Hand in Hand, dass, wer auf Mose vertraut, auf Gott vertraut. Die Argumentationen, die die Rabbinen Mose als Fürsprecher Israels nach der Sünde mit dem Stierbild finden lassen, haben ihre Spitze in der Verlässlichkeit von Gottes Zusagen und also der Treue zu seinem Volk.

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Ebenfalls veröffentlicht in Bibel und Kirche, Organ des Kath. Bibelwerkes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 1. Quartal 2011

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