100 Prozent Jude und Palästinenser
Zur Ermordung von Juliano Mer Khamis
von Inge Günther

Er war der Sohn einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters: Juliano Mer Khamis, Direktor des "Freedom Theatre" in Dschenin, einem palästinensischen Flüchtlingslager in der Westbank, ist kaltblütig erschossen worden.

Es fließt zuviel Blut in diesem arabischen Frühling. Bei den Palästinensern sind ohnehin nur Vorboten spürbar. Aber einer, Juliano Mer Khamis, Direktor des „Freedom Theatre“ in Dschenin, der wie kein anderer für politische wie persönliche Freiheit eintrat, radikal und liberal zugleich, wurde am Montagnachmittag kaltblütig ermordet. Man kann sagen, nach Art einer Exekution. Der 52-jährige, jüdisch-arabische Israeli, der gerade im Auto das Theater verlassen wollte, hatte auf Zuruf hin noch das Fahrerfenster heruntergekurbelt. Da feuerten ein, vielleicht auch zwei maskierte Attentäter aus unmittelbarer Nähe fünf Kugeln in seinen Kopf und Körper.

Sein jüngster Spross, noch im Babyalter, war mit im Wagen, ebenso die Babysitterin aus Bethlehem, die bei dem Anschlag an der Hand verletzt wurde. Zurück lässt Mer Khamis neben drei Kindern seine hochschwangere Frau Jenny, die Zwillinge erwartet. Aber auch ein bestürztes Publikum, ja eine über seinen Tod nahezu fassungslose Anhängerschaft, die weit über Dschenin, weit über die Westbank, weit über Israel hinausreicht.

Juliano Mer Khamis war eine ungeheuer couragierte, charismatische Gestalt. Ein begabter Schauspieler, der in zahlreichen israelischen Filmen mitspielte. Ein politisch ambitionierter Regisseur, der die Theaterarbeit in Palästina revolutionierte. Dort hat er die letzten sieben Jahre hauptsächlich gelebt, im Flüchtlingslager von Dschenin. Inmitten Armut, Dreck und Gewalt rief er 2006 das „Freedom Theatre“ ins Leben. Ein Projekt, das junge palästinensische Schauspieler ausbildet und ihnen Raum lässt, die eigene, düstere Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen. Was raus kam, ließ sich sehen, auch in der großen Theaterwelt. Das Stück „Fragments of Palestine“, mit dem das „Freedom Theatre“ im Herbst 2009 auf Deutschlandtournee ging, sorgte in Frankfurt, Heidelberg, selbst in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz für Furore.

Mer Khamis liebte sie, die Provokation. Halbgares lag ihm nicht, dem Sohn einer jüdischen Mutter, Arna Mer, und eines christlich-arabischen Vaters, Saliba Khamis, beide überzeugte Kommunisten. „Ich bin hundert Prozent Palästinenser und hundert Prozent Jude“, sagte er in einem Interview. Eine unabdingbare Haltung nahm schon seine Mutter ein, die in den neunziger Jahren im Flüchtlingslager von Dschenin zwei Kinderhäuser gründete. Straßenkids führten dort Märchenspiele auf. Was aus ihnen wurde, hat Juliano Mer Khamis 2004 in dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Arnas Kinder“ erzählt. Ein Werk, das nachzeichnet, wie Elend, Besatzung und Märtyrerkult eine palästinensische No-Future-Generation in der zweiten Intifada zu bewaffneten Kämpfern machten.

Mit dem „Freedom Theatre“ wollte Mer Khamis mehr, als junge Palästinenser von der Straße zu holen. Sein Experimentiertheater sollte die politischen Verhältnisse erschüttern. Für diese Idee gewann Mer Khamis sogar Zakaria Zubeidi, einst Anführer der Al-Aksa-Brigaden in Dschenin, der im Beirat des „Freedom Theatre“ eine wichtige Rolle übernahm – nicht zuletzt als Schutz gegen diverse Anfeindungen. Aber das reichte nicht, wie sich jetzt herausstellte.

Zwei Brandanschläge auf das Theater gab es bereits vor zwei Jahren. Dahinter vermutet wurden traditionalistische Hardliner. Schwer auszumachen, woran sie sich mehr störten: dass in Dschenin Jungen und Mädchen gemeinsam Schauspielerei betrieben oder an der Aussage der seinerzeit inszenierten „Farm der Tiere“: ein Publikumsrenner, gerade weil viele Zuschauer in den Orwellschen Schweinen ihre korrupten Bosse wiedererkannten.

Noch weiter vor wagte sich Mer Khamis bei der Regie von „Alice im Wunderland“, das in diesem Januar im „Freedom Theatre“ seine erfolgreiche Premiere erlebte: eine Botschaft der Befreiung, verkörpert von einem Typ in Strumpfhose, der auf der Bühne „I want to break free“ schmetterte – passend zur Revolution, die sich parallel auf Tahrir-Platz in Kairo vollzog.

„Juliano, wir deine Kinder, gehen deinen Weg weiter“, schrieben palästinensische Schauspielschüler aus Dschenin auf ein Transparent am „Freedom Theatre“. Auch in Ramallah kamen Hunderte im Gedenken an Mer Khamis auf dem Manara-Platz zusammen. „Deine Stimme“, hieß es dort. „lässt sich nicht durch Kugeln mundtot machen.“

Derweil lief die Großfahndung nach den Tätern auf Hochtouren. Der palästinensische Premier Salam Fayyad hat die Polizeibehörden angewiesen, rund um die Uhr zu arbeiten, um die Täter vor Gericht zu bringen. „Ein derartiges Verbrechen geht gegen alle unsere Prinzipien, Werte und unseren Glauben an Koexistenz.“ Der Mord an Mer Khamis, heißt es nun allenthalben, sei „ein Anschlag auf die Freiheit in Palästina“. Beerdigt wird Juliano Mer Khamis allerdings in Israel, an diesem Mittwoch im Kibbuz Ramot Menasche – für die meisten Westbanker unerreichbar.

Frankfurter Rundschau, 6.4.2011

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