Elia und das Neue Testament
Schritte zu einem angemessenen christlichen Umgang mit einem alttestamentlichen Propheten
von Frank Crüsemann

Für das Alte Testament und für das Judentum gehört der Prophet Elia zu den größten der Bibel. Historisch wohl mit dem beginnenden Monotheismus verbunden, ist er vor allem durch seine Himmelfahrt (2 Kön 2) zu einer immer und überall gegenwärtigen Größe und zum Vorläufer des Gottesgerichts geworden (Mal 3,22f), der die Frömmigkeit nachhaltig prägt . Doch wenn er neben Jesus steht, dann beginnt sein Bild zu verblassen. So jedenfalls sehen es die europäischen Maler bei der Darstellung der sogenannten Verklärung Jesu. In einer jahrhundertelangen Bildtradition von der Ikonenmalerei über Maler wie Carracci, Lorenzo Lotto, Perugino, Raffael bis hin zu Otto Dix steht stets der leuchtende Jesus in der Mitte, Mose und Elia, die mit ihm auf dem Berg sind, werden im Vergleich dazu blass und unscheinbar dargestellt. Diese Bildtradition entspricht einem verbreiteten Muster in christlicher Frömmigkeit und Theologie – wo hat Elia da einen angemessenen Platz? – und selbst noch in der neueren wissenschaftlichen Exegese, die von der „Überlegenheit“ Jesu überzeugt ist. Ob das aber der Sichtweise neutestamentlichen Texte selbst entspricht, ist zumindest fraglich. Bei der Fassung im Lukasevangelium etwa wird ausdrücklich gesagt, dass Mose und Elia in demselben Glanz (doxa) erscheinen (Lk 9,31) wie Jesus (v. 32).

Zweifellos spielt Elia im Neuen Testament eine außerordentlich große Rolle bei der Schilderung und Charakterisierung der Gestalt und des Lebens Jesu. Das wird in der Forschung immer deutlicher. So wird im ältesten Evangelium, dem des Markus, der Anfang (1,1ff), die Mitte (9,2ff) und das Ende (15,34f) des Weges Jesu in einen Zusammenhang mit Elia gerückt . Als Wegbereiter des kommenden Gottesreiches wird Elia sowohl mit Johannes, dem Täufer als auch mit Jesus „identifiziert“ . Insbesondere die Bedeutung von Jesus wird dadurch hervorgehoben, dass er mit den Farben des Elia aus der jüdischen Bibel gezeichnet wird. Diese partielle Identifikation und Gleichsetzung mit Elia wird aber dann von der späteren christlichen Theologie als Überbietung interpretiert. Elia verblasst, seine Bedeutung verschwindet, er wird von der Gestalt Jesus geradezu aufgesogen, während dessen Bedeutung doch zunächst durch den Vergleich überhaupt erkannt und benannt werden konnte. Auf der entscheidenden Ebene vor allem, auf der es darum geht, was und wie Gott von sich zu erkennen gibt, spielt dann Elia genau wie andere Gestalten des Alten Testamentes keine ernsthafte Rolle mehr. Man kann – und manche sagen, man muss – theologisch auf sie letztlich verzichten. Sie haben ihren Glanz abgegeben.

Im Folgenden sollen einige der neutestamentlichen Texte über Elia daraufhin befragt werden, ob ein solches Muster ihnen wirklich gerecht wird und ob nicht dabei Wesentliches ihrer Aussagen verloren geht, so dass christliche Theologie und christliche Frömmigkeit wichtige Teile des verlorenen biblischen Reichtums erst wieder gewinnen müssten.

I. Die Schrift als vorgegebene und bleibende Wahrheit

Vor und unabhängig von jeder Frage der Identifikation – und letztlich auch als Grundlage dafür – gibt es im Neuen Testament eine Reihe von Beispielen dafür, dass zur Klärung aktueller theologischer Fragen wie andere alttestamentliche Texte gerade auch solche über Elia herangezogen werden.

Ein solches Beispiel findet sich in Röm 11. Paulus steht hier vor der fundamentalen Frage, ob Gott Israel „sein Volk“ Israel verstoßen hat. Die Frage stellt sich, weil die überwiegende Mehrheit des Volkes dem Glauben an Jesus als den Messias und das durch ihn neu zugesagte Heil nicht anhängt. Paulus diskutiert das Problem in Röm 9-11, und er tut es durchgehend indem er Texte seiner Bibel, unseres Alten Testamentes, aufgreift und auslegt. An entscheidender Stelle spielt dabei Elia eine Rolle :

Röm 11 1 Will ich damit zum Ausdruck bringen, dass Gott das eigene Volk von sich gestoßen hat? Gewiss nicht! Denn auch ich bin Israelit, ein Nachkomme Abrahams aus dem Stamm Benjamin. 2 Gott gibt das eigene Volk nicht auf (1 Sam 12,22), das Gott sich von Anfang an ausersehen hat. Ihr wisst doch, was im Abschnitt über Elia in der Schrift steht, wie er sich über Israel beklagt?  3 ‚Lebendige’, sie haben deine Prophetin nen und Propheten ermordet und deine Altäre zertrümmert. Ich allein bin übrig geblieben, und nun versuchen sie, auch mein Leben zu nehmen (1 Kön 19,10.14). 4 Wie lautet die Gottesantwort? Ich habe 7000  Menschen übrig bleiben lassen, die für mich einstehen und ihre Knie nicht vor der Schande „Baal“ gebeugt haben (1Kön 19,18). 5 Genauso ist es auch jetzt! zu diesem Zeitpunkt: Es sind wenige übrig geblieben, ausgewählt durch göttliche Zuwendung.

Bei der Frage, ob  Israel als Volk Gottes verworfen sei, weil die Mehrheit einen falschen Weg geht, verweist Paulus auf Elia. Er sah sich  allein übrig. Während die Antwort Gottes immerhin auf 7000 Menschen verweisen kann. Wie damals schließt auch jetzt eine solche Minderheit die Verwerfung des Ganzen aus. Für Paulus ist das der erste Schritt in einer langen Argumentationskette. Denn unabhängig von der Frage, ob nach der Argumentation hier am Anfang von Röm 11 das übrige Israel wie in der zitierten Formulierung aus 1Kön 19 letztlich als Baalsanhänger gelten müssen , steht am Ende des Kapitels 11 etwas ganz anderes:

25 Ich möchte, dass ihr die verborgene Wirklichkeit kennt, Geschwister, damit ihr die Dinge nicht nur nach euren Maßstäben beurteilt: Über einen Teil Israels erging eine Verhärtung. Sie wird solange anhalten, bis die Völker vollzählig hinzugekommen sind. 26 Auf diese Weise wird ganz Israel gerettet werden, wie es aufgeschrieben ist: Aus Zion wird die Rettung kommen, sie wird Jakobs Trennung von Gott aufheben. 27 Und dieses ist mein Bund mit ihnen (Jes 59,20f), wenn ich das von ihnen begangene Unrecht wegnehme (Jes 27,9).

Hier am Ende der biblischen Reflexionen über Israel steht eindeutig: „Ganz Israel wird gerettet.“ Und es wird begründet mit Schriftzitaten aus Jes 59 und 27. Entscheidend ist der Hinweis auf den Bund Gottes mit Israel, der sich am Anfang und am Ende des gesamten Gedankengangs findet (Röm 9,4; 11,27), und also auch noch die Verstockung eines Teils Israels umgreift.

Der Verweis auf Elia und auf das, was die Texte der Bibel über ihn sagen, steht also in der theologischen Argumentation zur Frage nach der Rolle Israels neben der neuen Gemeinde/Ekklesia gleichberechtigt neben Verweisen auf biblische Traditionen wie die Bundesschlüsse und die Verheißungen des Jesajabuches. Nun braucht es hier nicht um Details des Umgangs mit den Eliaüberlieferungen zu gehen. Das Augenmerk soll vielmehr auf die Voraussetzung gerichtet werden, von der aus gesprochen wird. Das ist die absolute Geltung der „Schrift“, dessen also, was wir das Alte Testament nennen. Es ist deutlich gerade nicht so, dass die Autorität Christi vorgegeben wäre, so dass sie ihrerseits Licht auf die alten Texte wirft. Obwohl ein solches Verständnis heute mit Varianten immer wieder behauptet wird, trifft es nicht das, was hier geschieht. Verständlich wird der Vorgang nur und allein umgekehrt. Es steht zunächst in Frage – und für traditionelle christliche Theologien steht es bis heute in Frage –, ob das Gottesvolk, weil es den Weg Gottes mit Jesus Christus, wie Paulus ihn sieht, mehrheitlich nicht mitgeht, deswegen von Gott verworfen sei. Dafür befragt er seine Bibel, denn die Lösung dieser zunächst offenen Frage kann einzig und allein aus der Schrift gewonnen werden. Und er greift nun neben anderen auch auf die Texte über Elia zurück. Er kann das nur, weil die Schrift uneingeschränkt in Geltung steht.

Ich stelle ein zweites kleines Beispiel daneben. Es findet sich im Jakobusbrief. Hier geht es in Kap 5 um Notwendigkeit und Macht des Gebets:

16 Bekennt einander immer wieder eure Sünden, und betet füreinander, damit Gott euch auch in dieser Hinsicht heilt. Denn die energischen Gebete der gerechten Frauen und Männer können Großes bewirken. 17 Zum Beispiel war Elia ein Mensch wie wir, der empfand wie wir. Er betete innig, es solle nicht regnen, und daraufhin regnete es auf der Erde drei Jahre und sechs Monate nicht.18 Und dann betete er ein zweites Mal, und der Himmel gab daraufhin Regen und die Erde ließ ihre Früchte wachsen.

Elias prophetisches Wirken in 1Kön 17-19, seine Macht,  eine dreijährige Trockenheit herbeizuführen und wieder zu beenden, wird hier auf sein Gebet und dessen Macht zurückgeführt. Wieder ist das Alte Testament, die Schrift, die vorgegebene Grundlage, die gültige Autorität,  an der bis in die Einzelheiten des täglichen Lebens hinein Orientierung gesucht wird.

Aus diesen Beispielen – ein weiteres findet sich in Lk 4,25f – ergibt sich eine erste These:

An den Bezügen auf Elia bestätigt sich, was für das gesamte Verhältnis von Neuem und Altem Testament gilt: Die Schrift ist der vorgegebene Wahrheitsraum, der dem Neuen Testament voraus liegt und damit jedem Bezug auf Jesus als dem Messias Fundament und Rahmen gibt.

II. Jesus gemeinsam mit Elia und Mose

Die Beziehung zwischen Jesus und Elia muss sich vor allem an der Geschichte ablesen lassen, in der er ausdrücklich neben ihm – und Mose – steht, der sogenannten Verklärungsgeschichte. Bei Markus lautet sie in Kap. 9:

2 Nach sechs Tagen nahm Jesus dann Petrus, Jakobus und Johannes mit und führte sie abseits und allein auf einen hohen Berg. Da wurde er vor ihren Augen verwandelt: 3 Seine Kleider wurden strahlend hell, so stark leuchtend, wie keine Handwerksleute auf der Erde es zustande bringen. 4 Elia erschien ihnen mit Mose, und sie unterhielten sich mit Jesus. 5 Petrus mischte sich ein und sagte zu Jesus: „Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Zelte errichten, eins für dich, eins für Mose und eins für Elia.” 6 Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte, denn sie ängstigten sich sehr. 7 Da kam eine Wolke und überschattete sie. Eine Stimme tönte aus der Wolke: „Dies ist mein geliebtes Kind, hört ihm zu!” 8 Als sie sich umschauten, sahen sie plötzlich niemanden mehr bei sich außer Jesus allein. 9 Während sie vom Berg herabstiegen, schärfte er ihnen ein, niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten, bevor nicht die himmlische Menschengestalt von den Toten auferstanden wäre. 10 Und sie merkten sich das Gesagte und diskutierten miteinander, was das bedeute: von den Toten auferstehen.

Die bis heute weithin üblichen Wertungen der drei Gestalten, von denen eingangs die Rede war, erinnern fatal an das olympische Siegertreppchen mit dem Ersten in der Mitte gerahmt von den zweiten und dritten Siegern. Eine solches ausdrückliches Ranking im Sinne eines „mehr“ und „besser“ findet sich außer bei Johannes dem Täufer, der aber eben keine Figur des Alten Testamentes ist, in Mt 12,41//Lk 11,30: „Hier ist mehr als Jona!“ sowie damit direkt verbunden im nächsten Vers (Mt 12,42//Lk 11,31): „Hier ist mehr als Salomo!“ Nicht selten wird daraus bis heute ein grundsätzliches „mehr“ gegenüber der Bibel Israels gemacht wird, etwa indem man mit Jonas und Salomos gleich Prophetie und Weisheitslehre insgesamt angesprochen sieht. Für dieses „Mehr“ kann aber doch nicht davon abgesehen werden, dass Jona und Salomo im Alten Testament höchst zwiespältige Figuren sind, die dort selbst massiv kritisiert werden und keineswegs große Vorbilder sind. Salomo ist nicht nur Weiser und Erbauer des Tempels, sondern ebenso Mörder und mit seinen vielen Frauen Übertreter der Tora und Götzenanbeter. Jona ist ein Prophet, der vor seinem Auftrag flieht, die aufgetragene Botschaft nicht überbringen will und sich dann nicht ohne Anlass als so etwas wie ein falscher Prophet empfindet, denn seine Ankündigung tritt ja nicht ein, der darüber schmollt und die Güte Gottes vergisst. Wie auch immer – es sind hoch ambivalente Figuren, bei denen es leicht ist, „mehr“ zu sein.

Ganz anders liegen die Dinge jedoch bei Gestalten wie Abraham oder eben Mose und Elia, wo die Beziehung geradezu paradigmatisch in der Verklärungsgeschichte angesprochen wird. Dieses Nebeneinander, wie es nicht selten geschieht, in eine Art olympisches  Siegertreppchen zu verwandeln mit dem Größten in der Mitte, geht deutlich an Text und Sache vorbei. Wahr ist für das Neue Testament und seine Zeit doch zunächst eher das Umgekehrte: Worum es bei Jesus geht, wird durch ein solches Neben- und Miteinander erhellt. Die Repräsentanten von Prophetie und Tora machen den Rang deutlich, den Jesus hat.

Der Hauptgrund, Jesus in der üblichen Weise hervorzuheben, dürfte in der Markusfassung das besonders leuchtende Gewand sein, dessen Strahlen ihn von den anderen abzuheben scheint. So jedenfalls sieht es die erwähnte Bildtradition. Dabei ist allerdings völlig ausgeblendet, was sich mit den beiden anderen in dieser Hinsicht unlösbar verbindet. Doch darf man keinen Moment vergessen, dass sich mit Mose eben das strahlende Angesicht verbindet, wovon Ex 34,29ff berichtet wird. Es geht aus seiner besonderen Gottesnähe hervor und ist so intensiv, dass es durch ein Tuch verborgen werden muss. Und bei Elia gibt es durchgängig eine intensive Verbindung mit Licht und Feuer. Wie in dieser Hinsicht Elia in nachalttestamentlicher Zeit gesehen wird, zeigt seine Schilderung in Jesus Sirach 48:

1 Da trat Elia auf, ein Prophet wie von Feuer,

und sein Wort brannte wie eine Fackel;
2  über Israel brachte er eine Hungersnot
und durch seinen Eifer für Gott verringerte er sie an Zahl;
3 auf das Wort ‚der Ewigen’ hin hielt er den Regen zurück,
und ließ dreimal Feuer herab kommen.
4 Welche Größe und Würde strahltest du, Elia, durch deine Wundertaten aus,
und wer kann sich rühmen, dir gleich zu sein?
5 Der du einen Verstorbenen vom Tod erwecktest,
durch ein Wort der Höchsten aus dem Totenreich;
6 der du Königen Verderben brachtest
und Hochangesehene von ihrem Krankenlager in den Tod schicktest;
7 der du am Sinaï Zurechtweisung hörtest
und am Horeb Gerichtsurteile;
8 der du Könige salbtest, um zu vergelten,
und Propheten als Nachfolger für dich;
9 der du in einem Feuersturm in den Himmel aufgenommen wurdest,
auf einem Wagen, von feurigen Pferden gezogen;
10 von dem die Schrift sagt, er sei bereit, zur festgesetzten Zeit
Zorn zu besänftigen, bevor er losbricht,
das Herz der Eltern ihren Kindern zuzuwenden
und die Stämme Jakobs wieder aufzurichten.
11 Glücklich sind die zu preisen, die dich gesehen haben
und in Liebe entschlafen sind;
auch wir werden ganz sicher leben.

Ein „Prophet wie von Feuer“ dessen „Wort wie einen Fackel brennt“, hier und immer wieder wird auf Feuer und Licht hingewiesen. Das ist es, was in der Zeit des Neuen Testamentes das Bild Elias bestimmt. Es sind also die beiden Repräsentanten der ersten beiden Kanonteile Tora und Propheten und es sind zugleich die beiden Gestalten, mit den sich der göttliche Lichtglanz ganz unmittelbar verbindet. Neben sie tritt Jesus, leuchtet wie sie und sie sprechen miteinander, gemeint ist offenbar: au Augenhöhe (und sie beten ihn nicht etwa an o.ä.). Das also, was die Lukasfassung ausdrücklich sagt, liegt wie selbstverständlich auch den beiden anderen zu Grunde. Der göttliche Lichtglanz ist das, was diese Gestalten verbindet und als Gleichrangige zusammenhält.

Und auch keine der anderen Aussagen führt über ein Miteinander hinaus. In die Anrede „mein lieber Sohn“ darf man nicht die altkirchlichen Dogmen hineinlesen. Es geht um einen Königstitel, wie ihn schon David trug (2 Sam 7,14) und dann der erwartete Messias (Ps 2), aber eben auch das Volk Israel (Hos 11,2).Und letztlich sind alle Menschen Söhne und Töchter Gottes . Und der Satz „Hört auf ihn!“ nimmt den Verweis aus Dtn 18,15 auf einen Propheten „wie Mose“ auf. Das ist gerade keine Ablösung oder Übertreffung des Mose, sondern zielt wiederum auf Gleichrangigkeit, der Satz gilt ja dem Propheten „wie Mose“ und nicht einem, der „mehr als Mose“ ist.

Daraus ergibt sich als zweite These:

Die verbreiteten Mehr-als-Wertungen für Jesus finden sich im Neuen Testament nur in sehr begrenzten Fällen und gerade nicht gegenüber den großen und konstituierenden Gestalten des alttestamentlichen Kanons wie Elia.

III. Konkurrenz und Verdrängung oder bereichernde Fülle?

Es ist die mit der sogenannten Himmelfahrt gegebene Aufnahme Elias in die himmlische Welt, die das Bild Elias nachbiblisch besonders prägt. Neben der damit gegebenen Möglichkeit, überall aufzutauchen und präsent zu sein, so wie es eben für den Himmel gilt, ist das vor allem die am Ende des Prophetenkanons in Mal 3 formulierte Hoffnung auf heilvolle Wiederkehr:

23 Seht her! Bevor der Tag Adonajs kommt, groß und Achtung gebietend,
schicke ich euch Elija, den Propheten. 24 Er wird das Herz der Eltern wieder den Kindern und das Herz der Kinder wieder den Eltern zuwenden,
damit ich nicht kommen muss und das Land mit Vernichtung schlage.

Elia als die Verkörperung der rettenden Macht Gottes vor dem drohenden Gericht prägt die Eliafrömmigkeit. Und hierzu gibt es im Neuen Testament eine erstaunliche Vielfalt von Bezügen, das betrifft sowohl Johannes den Täufer als auch Jesus selbst. An einiges davon ist hier kurz zu erinnern.

Die Erzählung von dem Geschehen auf dem Berg der Verklärung geht in Mk 9 so weiter:

11 Sie fragten ihn: „Sagen die Toragelehrten nicht, zuerst müsse Elia kommen?” (Mal 3,23) 12 Er antwortete ihnen: „Gewiss kommt Elia zuerst, bringt alles in Ordnung und sorgt für Gerechtigkeit. Und was steht über die himmlische Menschengestalt geschrieben? Dass sie viel leiden muss und verachtet werden wird. 13 Aber ich sage euch: Elia ist bereits gekommen und sie haben ihm angetan, was sie wollten, wie über ihn geschrieben steht.“

Aus einer solchen deutlichen Gleichsetzung mit Johannes wird etwa im Lk-Evangelium eine Art Vergleich. Da heißt es im Wort an Zacharias in Lk 1 über den kommenden Johannes:

16 Viele der Israeliten und Israelitinnen wird er zur ‚Lebendigen’, ihrem Gott, zurückbringen.17Er wird vor der Lebendigen hergehen, in der Geist- und der Verwandlungskraft des Elia, um die Herzen der Eltern den Kindern und die Ungehorsamen auf den Weg der Gerechtigkeit zurück zu bringen, um  ‚der Lebendigen’ ein gut gerüstetes Volk zu bereiten.“

Im Johannesevangelium dagegen wird eine solche Gleichsetzung ausdrücklich abgelehnt  (Joh 1,21).

Vor allem im Mk-Evangelium wird auch Jesus selbst durch Identifikation mit Zügen des Elia charakterisiert. Einerseits auf der Erzählebene (s.o.), vor allem aber in der Sicht des Volkes (Mk 6,15; 8,28).

Ganz zweifellos gibt es hier nicht zuletzt durch Identifikationen und Übertragungen starke sachliche Parallelen und damit auch mögliche Konkurrenz. Johannes als Vorläufer Jesu und dieser selbst als Verkündiger des im Anbruch befindlichen Gottesreiches liegen nahe bei dem, was man von Elia erwartete und werden zudem mit seinen Zügen ausgestaltet. Damit verbinden sich weitere Ähnlichkeiten bis hin zu  den Totenerweckungen und natürlich der Himmelfahrt und der Existenz in der himmlischen Welt.

Man kann natürlich versuchen, daraus ein historisches Nacheinander zu rekonstruieren, eine Geschichte der Eliamotive in der Urchristenheit. Die eigentlich theologische Ebene ist damit jedoch noch kaum erricht. Denn im Kanon stehen sie alle nebeneinander und erst diese Vielfalt macht die ganze kanonische Wahrheit aus. Weder Ähnlichkeiten noch Identifikationen, erst recht kein Ranking sollte diese Vielfalt und Fülle beschneiden.

Daraus ergibt sich eine dritte These:

Es ist diese Vielfalt, gerade diese Vielfalt, die die Wahrheit Gott spiegelt. Dagegen führt jede endgültige Gleichsetzung, führt erst recht ein Aufgesogenwerden der einen Wahrheit durch die andere, meist der alttestamentlichen durch die neutestamentliche zu einer problematischen Verengung und dem Verlust von Wahrheit.

aus: Bibel und Kirche 1.Qu. 2011


Vgl. Frank Crüsemann, Elia – die Entdeckung der Einheit Gottes. Eine Lektüre der Erzählungen über Elia und seine Zeit, KT 154, Gütersloh 1997. Zur Bedeutung für jüdische Frömmigkeit ebd. 11f.

Wichtige Beispiele im Internet unter wikimedia.org (Stichwort: Transfiguration).

So zuletzt etwa Rainer Albertz, Elia, der biblische Prophet, in: Bernd Kollmann (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, Göttingen 2010, 128-142 (139).

Dazu bes. Johannes Majoros-Danowski, Elija im Markusevangelium. Eimn Buch im Kontext des Judentums (BWANT 180), Stuttgart 2008, bes. 134ff. Zum NT insgesamt s. Markus Öhler, Elia im Neuen Testament (BZNW 88), Berlin u.a. 1997.

Dazu der „Exkurs: Identifizierungen“ bei Majoros-Danowski, Elija, 183ff.

Übersetzung nach oder in Anlehnung an die „Bibel in gerechter Sprache“. Die wichtigsten Schriftzitate im neutestamentlichen Text sind durch Unterstreichung hervorgehoben.

Dazu Andreas Lindemann, Paulus und Elia. Zur Argumentation in Röm 11.1-12, in: Volker A. Lehnert u. Ulrich Rüsen-Weinhold, Logos – Logik – Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes, FS Haacker, Leipzig 2007, 201-218.

K. Huber, „Zeichen des Jona“ und „Mehr als Jona“. Die Gestalt des Jona im Neuen Testament und ihr Beitrag zur bibeltheologischen Fragestellung, Protokolle zu Bibel 7, 1998, 77-94 (93), wobei in der Entschränkung des Vergleichs der „bibeltheologische Ertrag“ (92-94) bestehen soll.

  Hierzu jetzt Chr. Duncker, Der andere Salomo. Eine synchrone Untersuchung zur Ironie in der Salomo-Komposition 1 Könige 1-11, Frankfurt/M u.a. 2010.

Dazu bes. die Beiträge in: Marlene Crüsemann / Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.), Christus und seine Geschwister. Christologie im Umfeld der Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2009.

Das gilt etwas variiert auch noch für die entsprechenden Passagen aus dem Johannesevangelium. Für Details muss ich auf mein Buch verweisen: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, bes. 132ff.

 

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