Luther in Herzliya
Das Studium reformatorischer Texte in Israel
von Barbara U. Meyer

An der Privatuniversität in Herzliya müssen alle Studierenden auch allgemeinbildende Kurse belegen, darunter Einführungen in griechische Philosophie, ägyptische Götter, das Judentum Italiens etc. Der Titel des Kurses “Einführung in die Reformation“ sagt den israelischen Studierenden zunächst gar nichts. Das Wort Reformatia (unschwer erkennbar die “hebräische Übersetzung“ von Reformation!) kann weder einem bestimmten Ort noch einer bestimmten Zeit zugeordnet werden. Reformen haben schließlich in allen Epochen und allerorten stattgefunden. Die nähere Ortsbestimmung Reformatia be’Europa ist für Israelis mit sehr guter Allgemeinbildung hilfreich. Die konkrete Zeitangabe ha-Reformatia ha-europae’it ba-mea ha-16 bestätigt lediglich, dass vom 16. Jahrhundert die Rede ist, mit dem sich für israelische Studenten kein historisches Ereignis verbindet.

Zwischen diesem Ersteindruck bis zu lebendigen Diskussionen über Gemeinsamkeiten der zionistischen und der reformatorischen Hermeneutik der Bibel, über protestantische Berufsethik und das Menschenbild des Humanismus, liegt ein ganzes Semester.

ANNÄHERUNG

Am schwierigsten ist der historische Einstieg. Hier hat sich schließlich der Hollywoodfilm „Luther“ als hilfreich erwiesen, der die mittelalterlichen Dimensionen religiöser Korruption bunt und beeindruckend darstellt. Da die Thematik der Korruption in Israel (leider) nicht an Aktualität verliert, bietet sich hier ein guter Einstieg in die Kirchengeschichte am Vorabend der Reformation. Auch die sozialgeschichtliche Dimension der Reformation wird in dieser Filmbiografie Luthers hervorragend zur Geltung gebracht. Über das Phänomen, dass trotz des Bauernkrieges und der damit verbundenen Kritik an Luther, dieser Film die meisten Zuschauer dennoch für die Person Luthers einnimmt, lässt sich hernach diskutieren. Insbesondere die Studierenden der Medienwissenschaften und der Psychologie sind hier in ihrem Element und schreiben interessante Filmkritiken.

Neben dem visuellen eröffnet auch der literarische Zugang einen ersten Eindruck in die Welt des 16. Jahrhunderts. Die geographischen und gedanklichen Veränderungen eines Europa nach Kolumbus sind wunderbar ansprechend in Stefan Zweigs Büchlein über Erasmus von Rotterdam beschrieben. Dieses einfache und zugleich niveauvolle Buch ist ins Hebräische übersetzt und bietet so eine studentenfreundliche Alternative zu den umfangreichen Luther-Biografien. Stefan Zweig porträtiert Luther im Gegenüber zu Erasmus, mit dem er sich als Europäer und Weltbürger identifiziert. Im Kontrast zu dem feinsinnigen Humanisten Erasmus wirkt Luther nicht nur wortgewaltig, derb und grob, sondern auch herrisch und tyrannisch. Interessanterweise ändert dies nichts an der grundlegenden Bewunderung der Studierenden für Luthers Persönlichkeit. Obwohl in den Diskussionen über den humanistischen Ansatz und den freien Willen die meisten Studierenden den Positionen von Erasmus näher stehen, bleibt eine grundlegende Faszination von Luther bestehen. Inhaltlich, philosophisch-theologisch findet er kaum Zustimmung, doch der Mut, für die eigene Position einzustehen und als Einzelner eine übermächtige Institution zu kritisieren, trifft auf die Hochachtung der Studierenden.

Im Vergleich mit dem Humanismus diskutieren wir die Frage, welches Modell und welcher Theologe mehr für ein „empowerment“ des Christenmenschen im 16. Jahrhundert getan hat. Obwohl der Mensch im Humanismus eindeutiger im Mittelpunkt steht als in der reformatorischen Theologie, lässt sich auch die Gegenthese vertreten: Trotz Luthers ausgeprägtem Pessimismus hinsichtlich des Status des religiösen Menschen, hat er möglicherweise mehr für die Bildung und Emanzipation der Kirchgänger getan als der Humanist Erasmus.

RECHTFERTIGUNGSLEHRE

Grundlegend für ein ideengeschichtliches Verständnis der Reformation ist die lutherische Rechtfertigungslehre. Meine anfängliche Befürchtung war, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre so weit weg von der Logik einer Rechtsreligion ist, dass sie von säkularen Studierenden einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft kaum nachvollzogen werden kann.
Wie lässt sich die Rechtfertigungslehre erklären, ohne die Werke des Gesetzes herabzusetzen? Hat die lutherische Rechtfertigungslehre ein unvermeidbares Gefälle zum Antijudaismus? Der Lektüre Von der Freiheit eines Christenmenschen, die zusammen mit den anderen Hauptschriften von 1520 in moderner hebräischer Übersetzung vorliegt, entnehmen die israelischen Studierenden nichts ihrer eigenen Tradition entgegengesetztes. Die Kritik an falscher Äußerlichkeit spricht die säkularen Israelis an; tatsächlich passt sie in gewisser Weise zum israelischen Ethos ungeschmückter Direktheit. Die Freiheit eines Christenmenschen richtet sich gegen die Gesetze und Werke der abendländischen Kirche am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Um in diesem Zusammenhang Werke und Gesetze zu erklären, ist zunächst eine Einführung in die Sakramentslehre erforderlich.

Was ist ein Sakrament? Die korrekte hebräische Übersetzung ist raz, ein Wort, das im Alltagshebräisch vor allem als Vorname begegnet und eher das griechische mysterion denn eine heilige Handlung wiedergibt. Die Studierenden freuen sich, fast immer ist ein Raz zugegen, da die einsilbigen Namen in dieser Generation besonders beliebt sind! Die Sakramente der christlichen Kirchen sind für israelische Studierende sehr interessant, und zwar für religiöse, traditionelle und säkulare gleichermaßen. Hier können sie Grundlinien christlichen Lebens erkennen, das für sie sonst wenig fassbar ist. Die sakramentale Strukturierung des Lebens kommt womöglich dem handlungsorientierten jüdischen Alltag am nächsten. Doch worin genau sieht Luther Die babylonische Gefangenschaft der Kirche – ein Titel, der die Studierenden verwirrt, aber bestens geeignet ist, um Luthers Denken in biblischen Motiven darzustellen. Gefangen ist die Kirche, wenn sie das Sakrament als Werk begeht. Frei ist der Christenmensch im Glauben. Das Sakrament ist nicht aus sich selbst heraus wirksam – dies ist, jenseits von aller mittelalterlichen Korruption, bleibende protestantische Überzeugung. Säkulare Israelis überzeugt dies leicht, doch wer die jüdische Tradition näher kennt, kennt auch die nachsichtige Haltung gegenüber der menschlichen Handlungsmotivation: Selbst eine eigennützige Motivation kann sich während der richtigen Handlung in uneigennützige verwandeln.

Die Rechtfertigungslehre richtet sich also nicht gegen das gute Werk an sich, sondern gegen eine erlösungsorientierte Handlungsmotivation und gegen die Auffassung des Sakramentes als Werk. Sie richtet sich nicht gegen den Gerechten, sondern betont eine andere Quelle der Gerechtigkeit.

GERECHTIGKEIT

Auch mein Versuch, die Rechtfertigungslehre anhand eines neuen Verständnisses von Gerechtigkeit zu erklären, ist kompliziert. Der Einspruch der Studierenden ist nicht leicht von der Hand zu weisen: Wenn die Bibel vom Gerechten spricht, z.B. in den Psalmen, dann meint sie auch den Gerechten. Hatte Luther nicht für ein direktes Verstehen der biblischen Texte plädiert?
Der Gerechte, der Zadik, stellt eine wichtige Tradition im Judentum dar. Es sind immer wenige, die Zadikim genannt werden, einzelne Rabbiner und Fromme. Die bekannte talmudische Tradition spricht von sechsunddreißig verborgenen Gerechten, um derentwillen Gott die Welt erhält. Wie unterschiedlich der Zadik in verschiedenen Strömungen und Epochen auch verstanden wird, zwei Aspekte sind für das Konzept des Gerechten konstitutiv: Immer geht es um das rechte Handeln eines Menschen, und immer sind es einzelne, die des Prädikates würdig sind. Damit ist die Idee der durch den Glauben gerechten Protestanten dem jüdischen Verständnis des Zadik diametral entgegengesetzt. Die modern-hebräische Ausgabe der 1520iger Schriften Luthers verwendet „Chassid“, um das Wort „gerecht“ zu  übersetzen – wobei auch der Begriff des Chassid historisch ein weites Bedeutungsspektrum hat. Die Übersetzung lutherischer Motive ins Hebräische ist hoch kompliziert, da Luther von biblischen Begriffen ausgeht und es sich genau genommen um eine Rückübersetzung handelt.

Luthers Verständnis des Menschen vor Gott, sein Sakramentsverständnis und die Kritik an den Missständen der spätmittelalterlichen Kirche bilden ein in sich geschlossenes Bild innerchristlicher Transformation. Die lutherische Rechtfertigungslehre trennt Katholiken und Protestanten, während sie auf den ersten Blick nicht auf die jüdische Tradition bezogen ist – das schwierige Thema "Luther und die Juden" könnte demnach auf eine spätere Vorlesung vertagt werden. Doch sobald wir die Rechtfertigungslehre als exegetische Frucht Luthers ernst nehmen, begegnen wir Paulus – und damit dem Judentum. Das ist überraschend für die Studierenden, die den Zusammenhang zwischen Kirche und Judentum im ausgehenden Mittelalter vor allem im Antisemitismus sehen. Von Paulus haben Israelis mit durchschnittlicher Bildung gar keine Vorstellung. Falls es zufällig ein vages Vorwissen gibt, dann nicht dies, dass er jüdisch war, sondern der erste Missionar und damit die Verkörperung des Christlichen schlechthin! Wenn die lutherische Rechtfertigungslehre in ihrem biblischen Zusammenhang gesehen wird, entsteht eine Verbindung zwischen reformatorischer Theologie und Judentum. Denn bei Paulus ist das Gesetz Tora oder Halacha oder Mizwa, immer aber Gebot Gottes und zwar des Gottes Israels.

Die Studierenden finden es schwer, zwischen Paulus und Luther zu unterscheiden. Die lutherische Exegese scheint durch alle Übersetzungen hindurch, auch durch die modern hebräische. Zudem bedeutet die Exegese der Rechtfertigungslehre ein hohes Maß an Intertextualität. Wir lesen Luther, der sich auf Paulus beruft, der sich seinerseits auf den Propheten Habakuk beruft: der Gerechte wird aus Glauben leben (Hab 2,4). Dies ist ein durchaus bekannter, im israelischen Alltag gern zitierter Satz, und niemand denkt dabei an Paulus, oder gar an die abendländische Kirchenspaltung. Zadik be‘emunato jechi’e: der Gerechte wird in seinem Glauben oder gemäß seines Glaubens leben. Dass dieser Zadik zadik, gerecht, sei aufgrund seines Glaubens, war höchstwahrscheinlich nicht im Horizont des Propheten – so müsste die historisch-kritische Exegese urteilen. Eine israelische Alltagsvariante des Satzes Isch isch be’emunato jechi’e (wörtlich: „Ein jeder lebe nach seinem Glauben!“) kommt dem deutschen Allgemeinplatz nahe, jeder möge nach seiner eigenen Facon selig werden.

GESETZ

Berührt Luthers Gerechtigkeitsverständnis das Judentum, so bedeutet sein Gesetzesverständnis eine direkte Konfrontation. Auch hier gilt die Polemik zunächst den Gesetzen der römischen Kirche des 16. Jahrhunderts, die unschwer als unsozial zu erkennen sind. Dennoch wirkt die lutherische Lehre vom dreifachen Gebrauch des Gesetzes problematisch auch auf Säkulare, Religionskritische oder Antireligiöse, die in der Kultur einer Rechtsreligion leben.
Dass der "pädagogische" Sinn des Gesetzes darin bestehe, dem Menschen seine Hilflosigkeit in der Erfüllung des Gesetzes und damit seine grundsätzliche Unzulänglichkeit erkennen zu lassen, steht im direkten Gegensatz zu Logik und Menschenbild einer Rechtsreligion. Aufmerksam verfolgen vor allem die Psychologiestudierenden die Diskussion: Wohin, zu welchem Selbstverständnis trägt die Reformation den Menschen?

Die Auffassung, dass die Rechtgläubigen keiner weiteren Handlungsorientierung bedürften (tertius usus legis) könnte in einem anderen Zusammenhang vielleicht radikal und progressiv wirken. Doch dass ein deutscher Theologe im 16. Jahrhundert verkündet hat, dass  Christen keine Anleitung zur guten Tat brauchen, hört sich im 20. Jahrhundert vor einer Gruppe jüdischer Studierender nicht gerade überzeugend an. Oder ist dies nur eine Übersensibilität der Dozentin aus Deutschland?
Die Theorie von der Unzulänglichkeit des Gesetzes beunruhigt die säkularen israelischen Studierenden nicht besonders. Auch sie richten sich nicht nach einem religiösen Gesetz, und nicht wenige Säkulare in Israel reagieren sehr empfindlich, wenn bestimmte religiöse Gesetze bis in ihren eigenen Alltag vordringen bzw. diesen zu bestimmen drohen.

Doch die Christenheit, die ökumenische, katholische, orthodoxe und protestantische, hat keinen einzigen Gesetzestext der Tora gestrichen. Alle Texte der hebräischen Bibel sind für Christen Heilige Schrift. Zugleich stellt Luther die Autorität der Schrift an oberste Stelle. Wie geht dies zusammen? "Was machen denn die Protestanten mit all den Gesetzestexten?“ fragt eine nachdenkliche Studentin – eine wirklich gute Frage, die sich protestantische Theologen viel zu selten stellen. Luther selbst ist ihr allerdings nachgegangen: "Wie sich Christen in Mose sollen schicken" ist ein hochinteressanter Text von 1525, der auf genau diese Frage eingeht. Die radikalen Reformer, Bilderstürmer und von Luther als „Schwärmer“ bezeichneten, hatten begonnen, den biblischen Text ernst, und seine Gebote in die Hand zu nehmen – ganz im Sinne Luthers, der die Autorität der Schrift über die der Kirche stellte, und für ein unmittelbares Verstehen des biblischen Textes plädierte. Nun aber wendet sich Luther gegen die Aktivisten des mosaischen Gesetzes – mit welcher Begründung? Mose sei tot. Den Christen gelte allein Christus. Bei Theologen und Theologinnen des jüdisch-christlichen Dialoges ist dieser Text denkbar unbeliebt! Mose ist tot? Das erinnert an das Graffiti: „Gott ist tot“ – unterschrieben von Nietzsche, und „Nietzsche ist tot“ – Gott. Mose ist tot? Luther ist tot! (Mose) Doch auch Luther kann Mose nicht so leicht für tot erklären. Er selbst muss zurückfragen: „Warum predigen wir denn Mose, wenn er tot ist?“ Und dies führt zu einigen interessanten Ausführungen, die für Israelis faszinierend sind: Die Gesetze des Mose gelten nicht für die christliche Kirche, sie seien allein den Juden auferlegt. Wiewohl gebe es in der Sozialgesetzgebung viel zu lernen – die mosaischen Gesetze enthielten mehr Gerechtigkeit als das Besteuerungssystem der römischen Kirche. Doch die Kirche sei nicht zur Legislative berufen. Vielmehr empfiehlt Luther den weltlichen Herrschern, sich an Moses’ Gesetzen zu orientieren: Sie sollen sich ein Beispiel nehmen am Schutz des Armen und der Witwe und der landwirtschaftlichen Abgaberegelungen.

Trotz der grobschlächtigen Rhetorik vom toten Mose bietet Luther hier eine Hermeneutik des Alten Testaments, die keinesfalls in die praktische Irrelevanz der Gesetzestexte führt. Und so ist Wie sich Christen in Mose sollen schicken ein Text der wie kein anderer die These unterstützt, dass die Reformation nicht zu einer Reduktion, sondern zu einer neuen Blüte der Rechtsdiskussion geführt hat. Dies ist die zentrale These des Rechtshistorikers John Witte (Emory University), in seinem Buch Law and Protestantism, das mittlerweile als Standardwerk zur reformatorischen Rechtsgeschichte angesehen werden kann. Die Reformationsforschung hatte bisher vor allem eine Krise und Abwertung des Rechts mit der Reformation verbunden. John Witte zeigt hier eine wichtige neue Perspektive auf. Der Protest Luthers gegen eine legislative Autorität der Kirche bedeutete keineswegs zugleich, dass die reformatorischen Theologen sich nicht für eine alternative Gesetzgebung interessierten und verantwortlich sahen.
Das beste Beispiel für diese These bildet den Forschungsschwerpunkt Wittes, nämlich die Verlagerung der Ehegesetzgebung vom Kanonischen Recht zum bürgerlichen Recht.  

Dies ist für die israelischen Studierenden ein faszinierendes, hochaktuelles Thema. Mögen mittellose säkulare Israelis bedauern, dass am Schabbat kein Bus fährt, oder wohlhabende  Säkulare, nicht auch am Feiertag einkaufen zu können – das Thema der Eheschließung betrifft sie alle! Die meisten der Studierenden in Herzliya sind noch nicht verheiratet, doch anders als europäische Jugendliche gehen fast alle davon aus, dass sie früher oder später heiraten werden. Die Scheidungsraten sind in Israel so hoch wie in anderen westlichen Ländern, doch die Erstmotivation zur Eheschließung hat im jungen Staat nie einen Einbruch erlitten – unabhängig von alternativer Kultur und Bohème, die sich auch in Israel mannigfaltig entwickelt.
Die säkularen israelischen Studierenden sind überzeugt, dass sie selber heiraten werden, und sie nehmen häufig an Hochzeiten von Verwandten und Freunden teil: Bis auf wenige Ausnahmen sehr elitärer junger Paare, die weniger als 100 Gäste einladen, werden israelische Hochzeiten groß gefeiert. Das bedeutet zugleich, dass die meisten Leute relativ oft zu Hochzeiten eingeladen werden, und die Thematik der Hochzeit eine starke gesellschaftliche Präsenz hat.
Israelis, wie säkular auch immer, können in Israel nur orthodox heiraten! Eine Zeremonie mit einem Reformrabbiner oder Rabbinerin ist erlaubt, sie zählt aber nicht vor dem Gesetz. Israelische Paare, die nicht beim orthodoxen Rabbinat heiraten wollen, können lediglich im Ausland heiraten. Sie fahren nach Zypern, heiraten dort standesamtlich, und feiern dann zuhause. Da viele Israelis, vor allem unter den Einwanderern, den Kriterien des orthodoxen Rabbinats nicht gerecht werden, betrifft das Monopol des orthodoxen Rabbinats mittlerweile weite Kreise der Bevölkerung. Der nicht-orthodoxe Rabbinerverband und säkulare Parteien versuchen diese Situation zu ändern, allerdings bisher ohne Erfolg. Dass im 16. Jahrhundert ein Religiöser, ein Theologe und Mönch, die Eheschließung ein „weltlich Ding“ genannt hat, das nicht in den Bereich religiöser Gesetzgebung fällt, ist angesichts dieser Situation faszinierend!

Trotz großer rhetorischer Anstrengungen ist das mosaische Gesetz für die Christen der Reformation alles andere als tot. Vielmehr nimmt Luther die zehn Gebote in den Kleinen und Großen Katechismus auf, so dass sie seitdem im Gedächtnis des einzelnen Christen haften. Seine Kommentare zu den Katechismen sind allerdings eher theologische Texte denn Gesetzeskommentar. Lohnend ist der Vergleich mit Calvins Auslegung des Sabbatgebotes in der Institutio. Calvin bietet eine sehr schöne Interpretation des sonntäglichen Sabbats, an dem wir ruhen, so dass Gott in uns arbeite. Bei Luther bleibt vom Sabbat nicht viel übrig: Er übersetzt mit „Feiertag“ – zur Empörung der nicht-observanten Studenten und Studentinnen, die nun für ihren Schabbat in die Bresche springen: Wer sola scriptura sagt, der sage auch Schabbat!

Ein trauriges Kapitel ist das Verhältnis Luthers zu den Juden und hier gibt es nichts zu beschönigen. Vertreibungen der Juden sind auf der Tagesordnung, und als sich Josel von Rosheim an Luther wendet, hilft dieser nicht. „Von den Juden und ihren Lügen“ ist ein wahrhaft unangenehmer Text. Ausführlich bereite ich die Studierenden darauf vor, dass wir den schlimmsten Text Luthers lesen werden, der nicht mehr gedruckt wird, käuflich nicht erwerbbar und selbst im Internet mit großen Warnschildern versehen ist. Nach all diesen Vorwarnungen ist der Text dann doch überraschend interessant, insbesondere da Luther die bleibende Erwählung Israels nicht in Frage stellt. Ausfällig wird Luther hinsichtlich des von ihm behaupteten „Prahlen“ der Juden –  dass sie das auserwählte Volk sind, weiß er hingegen, doch macht es ihn erst richtig wütend. Bemerkenswert ist, dass Luther in seiner Wut auf die jüdische Affirmation der Erwählung aus dem Morgengebet zitiert, und damit aus der mündlichen Tora. Einige der Studierenden können beurteilen, ob er richtig zitiert: ja, er zitiert richtig. Woher kennt er den Text? Peter von der Osten Sacken ist Luthers Kenntnissen rabbinischer Literatur zur jüdischen Liturgie in einer detaillierten Studie nachgegangen: Vor allem hatte der Konvertit Anton Margaritha ihm den Zugang zu den jüdischen Text- und Gebetstraditionen eröffnet.

Wie ist Luthers Feindseligkeit gegenüber den Juden historisch und theologisch einzuschätzen? Seine Enttäuschung über ihre mangelnde Bereitschaft zu konvertieren vermag seine zunehmende Aggressivität nicht zu erklären. Die Psychologiestudierenden probieren hier interessante Thesen aus. Das Textstudium, und der überraschende Einblick in Luthers Anerkennung der Juden als das erwählte Israel seiner Heiligen Schrift, lässt vor allem auf Erwählungsneid schließen – eine wirkliche Erklärung hingegen gibt es ebenso wenig wie einen wahren Grund des Antisemitismus.

TYPISCH PROTESTANTISCH?

Was bleibt typisch protestantisch? Sparsamkeit, Nüchternheit, geschmacksneutrale Speisen? Sind sich die Studenten und Studentinnen dessen bewusst, ob sie ein protestantisches oder ein katholisches Land bereisen? Ja, dieser Test funktioniert. Das Katholische bleibt deutlicher in Erinnerung. Wofür steht der Protestantismus heute?

In der akademischen Welt Israels ist der Protestantismus nicht etwa für Bescheidenheit bekannt, sondern für ökonomischen Erfolg. Der ökonomische Erfolg bestätige dem Protestanten die Gnade Gottes. Diese Auffassung ist eine popularisierte Version der ungleich komplexeren These Max Webers, die auch im Hebräischen vorliegt und so Eingang in die israelische Allgemeinbildung gefunden hat. Die Studierenden nehmen nicht geringe wirtschaftliche Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Ländern wahr. Doch wenn die Prädestinationslehre für die Gläubigen an Bedeutung verloren hat, und die Rechtfertigungslehre noch nicht einmal gute Werke fördert – wie konnte dann das protestantische Arbeitsethos weiter tradiert werden? Interessant ist für die jungen Israelis die Diskussion um Arbeit und Beruf als Identitätsmittelpunkt. Diese Kultur hätten die Jekken, die Juden aus Deutschland, nach Israel mitgebracht, wusste eine Studentin aus ihrer eigenen Familie zu berichten. Beim Aufbau des Staates stand die Arbeit im Mittelpunkt, während Einwanderer bis heute in ihrer beruflichen Identität flexibel sein müssen. Ist die Mittelpunktstellung des Berufes protestantisch? Weber weist darauf hin, dass das Wort „Beruf“ erst seit Luther der profanen professionellen Beschäftigung Sakralität verleiht. Wurde die Arbeit zum Sakrament der Lutheraner? Die Studierenden können sich nicht einigen, ob Israel eher von einem protestantischen Arbeitsethos oder von mediterraner Lebensfreude geprägt ist – und womöglich haben beide recht: Katholisches und Protestantisches tritt im jüdischen Staat (demokratisch!) gemischt zutage: innovative Wissenschaft, Tradition und Lebensgenuss, Streben nach Glanz und Authentizität ohne Höflichkeitsfloskeln, Hektik, Staus und Stress – doch zugleich sind die Cafés immer gut besetzt!

Dr. Barbara U. Meyer lehrt an der Privatuniversität IDC Herzliya, am Hebrew Union College und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Buch „Christologie im Schatten der Shoa, im Lichte Israels. Studien zu Paul van Buren und Friedrich-Wilhelm Marquardt“ ist 2004 im TVZ Zürich erschienen. In ihrem derzeitigen Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit israelischer Philosophie.

aus: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 1 / 2011


Stefan Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Frankfurt 2006² (Wien 1938).

Martin Luther, Vier Theologische Schriften. Übersetzt von Ran HaCohen, Tel Aviv 2001

John Witte, The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002.

John Witte, From Sacrament to Contract. Marriage, Religion, and Law in the Western Tradition, Louisville 1997.

Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“(1530/31), Stuttgart 2002.

 

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