Keine leichten Pakete
Deutsche Juden schleppten kistenweise Bücher nach Israel, jetzt gehen diese wieder zurück
von Inge Günther

Alles fing mit der Frage an, wohin bloß damit. Was tun mit den verstaubten, aber doch wertgeschätzten Büchern aus dem Nachlass der Großeltern? Werke, die ihnen derart am Herzen lagen, dass sie sich selbst bei ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland nicht von ihnen trennen mochten.

Nicht wenige der in Israel geborenen Nachfahren kommen in solchen Fällen auf die Idee, Erbstücke wie diese, deren Sprache sie nicht unbedingt verstehen, dem Goethe-Institut in Jerusalem zu vermachen. „Sie suchen händeringend nach einem würdigen Ort“, sagt Leiterin Simone Lenz.

Nur – so sehr es sie berührt, von der zweiten und dritten Generation der Holocaust-Überlebenden bündelweise deutsche Klassikerausgaben, oft in gotischer Schrift und mit Widmungen versehen, überlassen zu bekommen – so viel Platz hat sie auch wieder nicht. Die meisten der alten Bücher stapelten sich am Ende in irgendwelchen Kellern.

Der Gedanke, die Bücher aus der Vergessenheit zu holen, trieb Lenz schon länger um. Sie wieder auf die Reise zu schicken, diesmal zurück nach Deutschland, um sie an Schulen für Unterrichtsprojekte in Geschichte und Deutsch zu nutzen, als authentische Zeugnisse bei der Vermittlung des Nationalsozialismus. Aber die Vorbereitung schien enorm.

Da klopfte eines Tages Caroline Jessen an, eine junge Literaturwissenschaftlerin aus Bonn, die in Jerusalem für ihre Dissertation über die Lesekultur der aus Deutschland in den dreißiger Jahren nach Palästina eingewanderten Juden forscht. Jessen wollte wissen, ob bei „Goethe“ auch immer Bücher abgegeben würden, so wie beim Leo-Baeck-Institut in New York, wo sie zuvor als Praktikantin gearbeitet hatte. „Sie rennen hier offene Türen ein“, hatte Lenz ihr erwidert.

„Keine leichten Pakete“, die da in Jerusalem zusammengeschnürt wurden, und so lautet auch der Name des Projekts. Je fünf besondere Bücher aus dem Nachlass von vier jüdischen Persönlichkeiten mussten ausgewählt und die Spender kontaktiert werden. Zu jedem Besitzer hat Caroline Jessen dann mit viel Akribie ein eigenes Heft erstellt, das sein Emigrationsschicksal, seine Lesevorlieben sowie Familienfotos enthält. „Wir wollten ja dem Nachlass ein Gesicht geben“, sagt Simone Lenz.

Zum Beispiel das von Jochanan Winter, geboren als Hans Winter 1920 in Königsberg, verstorben 2007 in Jerusalem. 1933 kam er mit seinem älteren Bruder per Jugend-Alija ins Mandatsgebiet Palästina. Die Eltern konnten dann ein Jahr später emigrieren, im Gepäck zur Freude von Jochanan, der wie der Vater ein Faible für Romane von Tolstoi und Dostojewski besaß, viele Bücher in Deutsch.

Die ersten Jahre waren für die Einwandererfamilie aus gutbürgerlichen Verhältnissen hart. Jochanan musste zunächst schlecht bezahlte Jobs annehmen, denn für eine Ausbildung fehlte das Geld. Erst nach seiner Pensionierung konnte er seinen Traum endlich realisieren und an der Hebräischen Universität deutsche Literatur studieren.

Fünf seltene Exemplare aus seiner Riesensammlung gingen kürzlich per Post an das Gymnasium Borken, westlich von Münster. „Mit großer Spannung und gewisser Ehrfurcht“, berichtet Ellen Schindler-Horst, hätten ihre Schüler aus dem Leistungskurs das Paket ausgepackt. „Sie waren fasziniert, dass Menschen unter Todesangst Bücher, die ihnen etwas bedeuteten, mitgenommen haben.“

Bücher, die für die Schüler aus einer untergegangenen Welt stammen: Das „Königsberger Gästebuch“ mit Texten berühmter Männer, die einen Teil ihres Lebens in Königsberg, heute Kaliningrad, verbrachten hatten. Ein Lyrikband von Klabund, einem Dichter, von dem die Schüler noch nie gehört hatten, genauso wenig wie von Theodor Mommsen. Aber auch „Die letzten Tage von Pompeji“ waren darunter und Goethes „Urfaust“.

„Es war für uns alle ein schöner Moment, als wir die Post aus Jerusalem geöffnet haben“, notierte Hanna, 18 Jahre jung. Die „Gebrauchsspuren“, die „persönlichen Dinge“, die „Möglichkeit, sich einmal anders mit dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen“ – das ist das, was Hanna und ihre Mitschülerinnen an diesem ungewöhnlichen Unterrichtsstoff so fasziniert. Kurz: etwas Greifbares von Menschen aus einer Zeit zu erfahren, die sie selbst miterlebt und miterlitten haben.

An der gerade angelaufenen Testphase des Projekts sind vier derzeit Schulen beteiligt. Dass sie alle in Nordrhein-Westfalen liegen, ist Zufall. Den Ausschlag gab, dass dort Lehrer tätig sind, die ein Fortbildungsseminar an der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mitgemacht haben und schon deshalb am Thema besonders interessiert sind.

Auch Angela Jaitner, die am Gymnasium Köln-Deutz Geschichte und Sozialwissenschaft unterrichtet, stieß so zu dem Projekt. Sie hält es ab Klasse 9 für geeignet, weil es „so unglaublich direkt ist und sogar ermöglicht, Nachfahren zu kontaktieren“. Ihre Kollegin Dorothea Kusch vom Rückert-Gymnasium in Düsseldorf denkt eher an ihren Literatur-Kurs in der Oberstufe, wo zusätzliche biografische Recherchen, vielleicht auch in jüdischen Gemeinden, betrieben werden könnten. Aber schon die Frage, „was würde ich selbst mitnehmen, wenn ich weg müsste“, öffne einen neuen Zugang zum Thema.

Nicht nur innerhalb der Schulen sollen die Pakete samt Materialsammlung an andere Klassen weitergegeben werden. Interesse am Mitmachen besteht auch in anderen Bundesländern. Allerdings dürfte das kleine Goethe-Institut in Jerusalem mit dem logistischen Aufwand bald überfordert sein. „Um mehr Spender und Schulen einzubeziehen, müsste man eigentlich die Sache mit Stiftungsgeld und Personal versehen“, meint Simone Lenz.

Lohnen würde es sich. Für Avraham Frank, Jahrgang 1923, und seinen verstorbenen Vater Leopold bedeuteten Bücher das Leben. Kistenweise hatte die jüdische Familie sie 1936 aus Stuttgart mit nach Palästina geschleppt. Dass auch aus ihrem Besitz „kein leichtes Paket“ zusammengeschnürt und zurück nach Deutschland geschickt wurde, findet Frank „großartig“.

Von „steinerner Erinnerungskultur“ wie all den Grab- und Stolpersteinen und den Gedenktafeln an Synagogen hält er nicht allzu viel. „Aber anhand der Bücher jungen Menschen in Deutschland zu zeigen, was uns bewegt hat“, sagt Frank, „das ist wirklich innovative Erinnerungsarbeit.“

Frankfurter Rundschau, 10.6.2011

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