Beredtes Schweigen
In Lemberg tut man sich schwer, über die jüdische Geschichte der Stadt zu sprechen
von Ulrich Heyden

Über eine Wendeltreppe aus Holz geht es hinauf in den Rathausturm von Lviv, dem früheren Lemberg. Die Treppe knarzt unter den Füßen. Oben angekommen, hat man einen wunderbaren Blick über die Dächer der alten Bürgerhäuser und hinüber zu den Türmen der Barockkirchen. Eine Million Touristen kommen jedes Jahr nach Lemberg, um die prächtige Altstadt zu bewundern. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg nur wenig zerstört. Der Besucher kann sich sattsehen an Renaissance-Häusern, steinernen Löwen und engen Altstadtgassen.

Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2001 lebten in Lemberg rund 639.000 Ukrainer, 64.000 Russen, 6.400 Polen und 1.900 Juden. Die Menschen in der 750 Jahre alten Stadt sind zu Fremden überaus freundlich, aber es gibt ein Thema, über das sie überhaupt nicht gerne sprechen: dass in der Stadt im Jahr 1941 noch etwa 150.000 Juden lebten, drei Jahre später aber nur noch einige Hundert. Darüber schweigen Tourguides, und in den Museen der Stadt ist nichts zu finden.

Wer heute mit einem der Sightseeing-Busse am Denkmal für das ehemalige Ghetto vorbeifährt, dem erzählt der Touristenführer kaum mehr, als dass das Wort aus dem Italienischen komme und dass in Venedig im 16. Jahrhundert das erste Judenghetto eingerichtet worden sei. Damit ist das Thema »Juden in Lemberg« für den Touristenführer erledigt. Dabei ist die Stadt voll von jüdischen Zeugnissen. Es gibt einen großen jüdischen Friedhof und viele Gedenksteine, dort, wo bis 1941 die 47 Synagogen standen, die die deutschen Truppen zerstörten.

Doch niemand will darüber sprechen. Und das hat einen Grund. Als Hitlers Wehrmacht im Juni 1941 Lemberg besetzte und die Judenvernichtung im städtischen Konzentrationslager »Janowski« begann, waren es ukrainische Nationalisten, die die deutschen Truppen bei ihrem Morden unterstützten. Juden und Bolschewisten waren damals nicht nur für die deutschen Truppen die Gegner, sondern auch für die ukrainischen Nationalisten.

Deren Führer Stepan Bandera hoffte, man könne mit deutscher Hilfe einen unabhängigen ukrainischen Staat aufbauen. Doch daraus wurde nichts. Die Nazis verhafteten den eigenwilligen Mann und sperrten ihn in einen Sondertrakt des KZ Sachsenhausen. In Lemberg wird Bandera bis heute als Held verehrt. In der Nähe des Bahnhofs erinnert seit drei Jahren ein großes Denkmal an ihn.

Im Speisesaal der Beis-Aharon-Synagoge sitzen ein paar alte Männer und löffeln ihre Suppe. Das 1925 errichtete Gebäude ist heute die einzige Synagoge in Lemberg. Man treffe sich hier nicht nur zum Beten, sagt der 76-jährige Joina Potjagailo. Er komme auch, um zu reden. »In der Sowjetzeit haben wir die jüdische Kultur fast vollständig verloren«, sagt er. Und auch heute sei das Leben der Juden in der Stadt nicht einfach. »Hier beten die Beschnittenen«, habe vor Kurzem jemand an die Mauer der Synagoge geschmiert. Und am Ghetto-Denkmal tauchte der Schriftzug auf: »Juden, wer büßt für Demjanjuk?« Der Ukrainer John Demjanjuk war mutmaßlicher KZ-Aufseher und steht derzeit in München vor Gericht.

Wer in den ersten Januartagen durch Lemberg geht, der sieht überall auf den Plätzen der Stadt singende Gruppen, die Lieder zur Geburt von Jesus vortragen. Die jugendlichen Sänger sind als Könige verkleidet. Zu jeder Gruppe gehört auch ein Teufel mit rotem Gesicht, der Tod in schwarzem Gewand und mit Sense sowie »Moschka«, ein Jude mit langem Bart, dunkler Brille und einem Geldkoffer, auf dem in Gelb die Worte »Made in Israel« zu lesen sind. Moschka heißt Zecke.

In das Gespräch im Speisesaal der Beis-Aharon-Synagoge mischt sich ein zweiter alter Mann ein. Es ist Aleksandr Saslawski. Früher habe man den Tag, an dem sowjetische Truppen Lemberg befreiten, jedes Jahr gefeiert, erzählt der 73-Jährige. Heute laute die offizielle Sprechweise, dass 1944 »die Okkupanten« kamen. Die Geschichte werde »auf den Kopf gestellt«. Doch auch auf die Sowjets ist Saslawski nicht gut zu sprechen. Sein Großvater, ein Kantor, wurde 1938 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet.

Seit fast 20 Jahren wird Lembergs jüdische Gemeinde von Rabbiner Mordechai Shlomo Bald betreut. Dass er 1993 vom New Yorker Stadtteil Manhattan nach Lemberg übersiedelte, habe auch einen persönlichen Grund, erklärt der Mann in dem langen schwarzen Gewand: Sein Großvater wurde in dieser Gegend bei einem Pogrom ermordet.

Der Wiederaufbau der Gemeinde sei nicht einfach, sagt Bald. Der Antisemitismus habe zugenommen. Wenn er auf die Straße gehe, komme es vor, dass man über ihn lache oder ihn mit »Heil Hitler« grüße. In Kiew oder Moskau sei ihm so etwas noch nicht passiert. Aber Lemberg sei eben eine Provinzstadt. Auf die orangene Revolution ist der Rabbiner nicht gut zu sprechen: Die Menschen könnten »mit der Freiheit nicht umgehen«. Die Zukunft sieht er für die jungen Gemeindemitglieder nicht in der Ukraine, sondern »eher im Westen«.

Vor drei Jahren begann das jüdische Kulturzentrum Hesed-Arieh, in Lemberger Schulen einen Film vorzuführen, der vom Leben und Sterben der Juden in der Stadt erzählt.

Doch die ultranationalistische Partei »Swoboda« (Freiheit), die im Stadtrat die Mehrheit der Abgeordneten stellt, ließ die Vorführungen stoppen, berichtet Adel Dynowa, die Leiterin des Kulturzentrums. Die Ukrainer würden durch den Film beleidigt, schrieb die Stadtverwaltung in einem Brief. Anstößig fanden die Beamten, dass in dem Film mehrmals zu sehen ist, wie ukrainische Frauen deutschen Offizieren Blumen schenken.

Dass der Antisemitismus in der Stadt immer noch sehr stark sei, führt Dynowa darauf zurück, dass viele Menschen in Armut leben. Es gebe Neid auf Schoa-Überlebende, denen von ausländischen Stiftungen geholfen werde.

Wer in Lemberg nach Zeugnissen der jüdischen Geschichte sucht, dessen Weg führt auch zu dem kleinen Museum für Neuere Geschichte am Marktplatz. Doch der Saal, der sich mit der deutschen Besatzungszeit zwischen 1941 und 1943 beschäftigt, ist aus unerfindlichen Gründen geschlossen. Wer nachfragt, kann Glück haben.

Eine ältere, Russisch sprechende Museumswärterin schiebt dann einen Vorhang beiseite und schaltet das Licht in dem kleinen Saal an. Die Fotos und Ausstellungsstücke sprechen eine deutliche Sprache. Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Bild ist das »Tal des Todes« zu sehen, eine riesige Kuhle, an der in der Schoa die Juden von Lemberg erschossen wurden.

Zu sehen ist auch ein anderthalb Meter langes Gerät aus Metall. »Eine Knochenmahlmaschine«, sagt die Museumswärterin. Tatsächlich, so steht es auch auf der erklärenden Tafel. Diese Maschinen kamen 1943 zum Einsatz, als die Lagerleitung begann, die Spuren des Todes zu verwischen. Die Gefangenen mussten die Leichen ausgraben, verbrennen und die sterblichen Überreste zermahlen.

Wer im Sekretariat des Museums nachfragt, warum der Saal zum Zweiten Weltkrieg geschlossen ist, dem antwortet die Sekretärin, dass der geschlossene Saal demnächst in ein neues Museum verlegt werden soll, das den »hundertjährigen Freiheitskampf der Ukraine« darstellen wird.

Die Schließung des Saales fügt sich in das Gesamtbild, dass man in Lemberg außerhalb der jüdischen Gemeinde nicht über den Holocaust sprechen will. »Sie wollen stattdessen über den Golodomor, die große Hungersnot Anfang der 30er-Jahre, sprechen«, sagt Adel Dynowa. »Doch in der Westukraine gab es überhaupt keinen Golodomor, aber den Holocaust.«

Die Schoa scheint nicht ins gemütliche Lemberg zu passen.

Mit wem man auch spricht, überall stößt man auf Schweigen oder Ausflüchte. Ukrainer waren an dem Morden nicht beteiligt, meint der Historiker Ilko Lemko. »Verarmte Polen« hätten 1941 die Pogrome durchgeführt. Lemko, der in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Stadtverwaltung angestellt ist, findet auch nichts Unanständiges daran, dass die ukrainischen Nationalisten mit der Hitler-Wehrmacht zusammenarbeiteten.

Auf eine sehr skurrile Weise begegnet dem Besucher die Geschichte Lembergs im Themenrestaurant »Kryjivka«. Hinter einer dicken Holztür empfängt den Gast ein dicker Mann in Landseruniform. Er hält ein altes deutsches Maschinengewehr im Anschlag.

Wenn der Gast das Codewort »Slawa Ukraina« (Es lebe die Ukraine) sagt, antwortet der Soldat mit »Gerojam slawa« (Es leben die Helden) und lässt den Gast eintreten. In dem Kellerrestaurant kann man zünftig ukrainisch essen und Wodka trinken. Das »Kryjivka« ist wie eine Erdhöhle der ukrainischen Aufstandsarmee UPA aufgemacht. Die kämpfte bis 1944 an der Seite der deutschen Wehrmacht gegen die Rote Armee und bis Anfang der 50er-Jahre auf eigene Faust gegen die Sowjetmacht.

In der Judengasse, einen Steinwurf vom Restaurant »Kryjivka« entfernt, kann man in der »Schidowskaja Knajpa« (Judenkneipe) jüdische Küche kosten. Rechnungen werden hier nicht ausgestellt. Über den von der Bedienung vorgeschlagenen Betrag muss man feilschen. Die Judenkneipe und die UPA-Erdhöhle gehören gemeinsam mit 13 weiteren Restaurants in der Stadt zur Kette »Holding of Emotions«. Das Geschäft mit den Touristen boomt, aber die wahre Geschichte von Lemberg bleibt auf der Strecke.

Jüdische Allgemeine, 24.02.2011

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