Altneuer Antijudaismus
Kommentar zu Jochen Vollmers Artikel "Vom Nationalgott zum Herrn der Welt" im Deutschen Pfarrerblatt
von Friedhelm Pieper

Der Arbeitskreis "ImDialog - Ev. Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau" unter Vorsitz von Pfarrerin Gabriele Zander dankt seinem Mitglied Friedhelm Pieper für die Erarbeitung dieser Stellungnahme und schließt sich ihr voll inhaltlich an.

Jochen Vollmer behauptet im Deutschen Pfarrerblatt 8/2011, dass die „übliche Wahrnehmung“ des Nahostkonflikts „zugunsten von Israel verzerrt“ sei. Er selbst aber bietet nun eben dasselbe, was er kritisiert: eine Verzerrung der Wahrnehmung, diesmal allerdings unter anderem Vorzeichen. Die These „Die Palästinenser sind Opfer von Opfern“ ist eine verzerrende und irreführende Vereinfachung, die den Konflikt nicht erhellt, sondern einen Schuldigen sucht. Die Zionisten und Israelis werden allein als Täter dargestellt, die Palästinenser allein als Opfer wahrgenommen, das weitere Umfeld im Nahostkonflikt wird ausgeblendet.

Vollmer übergeht die Rechtsverhältnisse in Palästina vor 1948, statt Landkauf gibt es bei ihm nur Landraub, er blendet die Rolle der britischen Mandatsregierung aus, er verschweigt die Annexionen der Westbank durch Jordanien und des Gazastreifens durch Ägypten nach 1948 sowie vieles mehr. Stattdessen sammelt er fleißig das Unrecht auf Seiten der Zionisten und Israelis, wovon sich leider Gottes ja tatsächlich so einiges sammeln lässt, manches davon in den kritischen Reden und Aufsätzen Martin Bubers gut dokumentiert.

In der Konsequenz seiner einseitigen Darstellung vermag Vollmer auch nur zwei Hindernisse zum Erreichen des Friedens zwischen Israelis und Palästinensern zu erkennen: „die Verdrängung der historischen Wahrheit und der religiöse Anspruch Israels auf das Land“. Israel wird hier allein die Verursachung des Konflikts zugeschoben und der jüdische Staat wird als alleiniges Hindernis für das Erreichen eines Friedens hingestellt.

Es ist nicht zu bestreiten, dass den in Palästina lebenden Arabern im Zuge der Entstehung des Staates Israel und seiner Verteidigung gegen arabische Armeen und Terrorgruppen Unrecht zugefügt wurde. Entsprechend muss jeder Versuch, dem Frieden im Nahen Osten näher zu kommen, eine Perspektive für die Palästinenser in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten beinhalten, wie dies z.B. von Vertretern der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaften in der „Genfer Initiative“ ausgearbeitet wurde.

Das den Arabern zugefügte Unrecht wird in Israel diskutiert und Vollmer verweist selbst auf kritische israelische und jüdische Historiker wie Moshe Zimmermann, den problematischen Radikalkritiker Shlomo Sand und andere. Es ist allerdings zutreffend, dass die Mehrheit in Israel diesem schwierigen Thema wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wie selbstkritisch allerdings die historische Diskussion über die jüngste Geschichte Palästinas unter Palästinensern sowie dem arabischen und persischen Umfeld geführt wird, danach fragt Vollmer nicht. Die enorme Verbreitung des antisemitischen Pamphlets „Protokolle der Weisen von Zion“ in arabischen Ländern ist für Vollmer kein Thema, die penetrante Holocaust-Leugnung durch den iranischen Diktator Ahmadinedschad stört den Autor nicht. Eine „Verdrängung historischer Wahrheit“ macht er allein bei Israelis fest.

Jüdischer und demokratischer Staat

Israel ist nicht der einzige Staat, der eine Balance zwischen ethnischer, kultureller und religiöser Prägung auf der einen Seite und den Forderungen nach Gleichbehandlung in einem demokratischen Rechtsstaat finden muss. In Israel wird über diese Balance heftig gerungen, ein Konsens über die Rolle der Religion scheint weit entfernt und es ist nicht zu übersehen, dass die israelischen Palästinenser dabei auch Benachteiligungen und Unrecht erfahren. Ohne dies beschönigen zu wollen, muss dennoch die Frage an Vollmer gestellt werden, welcher der Israel umgebenden Staaten denn eine größere Rechtsstaatlichkeit als das von ihm hierin so heftig kritisierte Israel verwirklicht.

Vollmers Artikel unterstellt, dass es ein demokratisches Israel nur ohne jüdische Religion geben kann. Für Deutschland oder für ein künftiges Palästina fordert er solche Ablehnung jeglicher religiöser Prägung nicht. Es gibt viele vom Christentum geprägte Staaten, sie haben den Sonntag und feiern die Feste des kirchlichen Kalenders, es gibt viele islamisch geprägte Staaten mit Freitagsgebeten und den Festen des islamischen Kalenders. Warum soll es denn – um alles in der Welt -  nicht einen einzigen Staat geben, in dem der Schabbat der arbeitsfreie Tag ist und der seine Feste vom jüdischen Kalender her erhält? Warum muss Jochen Vollmer nur beim Staat Israel eine Abwehr jeglicher religiöser Bezüge fordern? Die Frage ist nicht, ob Israel ein jüdischer und zugleich demokratischer Staat sein kann, sondern WIE er dies zu realisieren vermag.

Die zu Recht zu kritisierende Instrumentalisierung der Religion im Nahostkonflikt kann nicht durch die Bekämpfung jeglichen Bezugs zur jüdischen Religion überwunden werden, sondern durch eine qualifizierte, sachgemäße, aufgeklärte und also bessere Interpretation der Religion, die auch ihr Potential zum Frieden und zu guter Nachbarschaft aufzeigt. Das gilt nicht nur gegenüber jüdischen, sondern auch gegenüber christlichen und islamischen Fundamentalisten.

Der Staat Israel ein „Zeichen der Treue Gottes“?

Der Begriff „Zeichen“ in dem Beschluss der Rheinischen Landessynode von 1980 zielt nicht auf eine direkte Identifikation des Staates Israel mit dem Willen Gottes. Er verweist aber darauf, dass die Sammlung des jüdischen Volkes im Land und die Errichtung eines eigenen Staates sehr wohl eine große Entsprechung zu den biblischen Verheißungen haben. „Staat“ steht hier vor allem für die Errungenschaft, in selbstbestimmter Weise unabhängig von Fremdherrschaft das eigene Gemeinwesen zu gestalten. Das mag auch in anderer Verfasstheit gelingen; so hat Martin Buber für Palästina einen bi-nationalen Staat vorgeschlagen mit jüdischer und arabischer Autonomie. Es ist aber derzeit nicht erkennbar, wie kollektive Selbstbestimmtheit anders als in staatlichen Strukturen realisiert werden kann. Entsprechend wird auch die Errichtung eines selbstständigen Staates Palästina unterstützt.

Es hätte möglicherweise für die Errichtung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina auch einen Weg des Interessensausgleichs mit den Arabern gegeben (vgl. Feisal-Weizmann-Abkommen von 1919). Es ist aufgrund der Entscheidungen und Handlungen der unterschiedlichen Konfliktparteien – nicht nur der Zionisten – anders gekommen. Aufgrund dieser konkreten Geschichte von Interessenspolitik und Gewalt, will Vollmer dem „Staat Israel“ absprechen, ein „Zeichen der Treue Gottes“ zu sein. Und in der Tat: wer wollte leugnen, dass Gewalttaten im Entstehungsprozess Israels sowie die palästinensische Not unter der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik dieses „Zeichen“ in hohem Maße verdunkeln. Was hier aber eine Folge der politischen und militärischen Entscheidungen und Aktionen ist, will Vollmer ins Grundsätzliche ziehen. Er möchte dem jüdischen Volk vorschreiben, dass es gar keinen Staat haben darf. Für andere Völker fordert Vollmer das nicht. Nur die Juden dürfen bei ihm keinen Staat haben. 

Die herrschaftskritische Linie der biblischen Texte interpretiert Vollmer allein gegen die Staatsgründung Israels. Mit Hinweis auf die Entwicklung eines universalen Verständnisses von Gott will er jede partikulare und nationale Engführung überwinden. Da er aber die universale und die besondere jüdische Perspektive in einer Entweder-Oder-Setzung gegeneinander stellt, landet Vollmer in der Haltung des klassischen kirchlichen Antijudaismus: in seinem universalen Gottesverständnis wird die besondere Beziehung Gottes zum Volk Israel gekappt. In den biblischen Texten wird dagegen beides zusammengehalten: Der Gott Israels ist der Schöpfer der Welt und Gott aller Völker, er bleibt dabei als universaler Gott in einer speziellen Bundesbeziehung zum Volk Israel.

Die Propheten machen deutlich, dass aus dem besonderen Bundesverhältnis Israels zu Gott keine Privilegien entstehen sondern stattdessen ethische Ansprüche an das Verhalten des Volkes. Eine partikulare Bindung muss sich daher nicht zwangsläufig gegen andere richten, wie Vollmer behauptet. Es kommt auf den Inhalt der partikularen Perspektive an. Seine These von der „Unvereinbarkeit von jüdischem Volk und jüdischem Staat“ entspringt der selbst gewählten Entweder-Oder-Haltung Vollmers.

Das Volk Israel und das Land

Vollmer bemerkt zwar richtig, dass die Bibel von Gott „universal und partikular“ redet, und dass die Offenheit der partikularen zur universalen Perspektive hin wesentlich ist. Leider aber verschließt er andersherum die universale Interpretation zur bleibend bestehenden besonderen jüdischen Tradition hin. Offenheit ist für ihn eine Einbahnstraße. Der Zugewinn an Universalität in den biblischen Erzählungen des Exils führt für Vollmer zum Zerschlagen jeglicher nationalen Perspektive der jüdischen Gemeinschaft. Dabei lässt er die Rückkehr der Exilierten nach Israel nach 538 v. Chr., den Wiederaufbau des Tempels und die folgenden Bestrebungen zur nationalen Unabhängigkeit bis zur Zerstörung Israels durch die Römer 70 – 74 n.Chr. völlig außer Acht. Vollmer kennt auch den bleibenden Bezug der Juden zum Land „Eretz Israel“ nicht, der doch Jahrtausende lang in jüdischen Gebeten, rabbinischer Literatur und Gedichten zum Ausdruck kam.

Wie schon im vorausgehenden Abschnitt erschlägt Vollmer mit seiner Interpretation der Universalität biblischer Texte zentrale Bereiche jüdischen Selbstverständnisses. In unkritischer Aufnahme der Thesen von Shlomo Sand behauptet er die Diskontinuität des jüdischen Volkes als ethnischer Größe und verkündet, dass Juden, die die Universalität biblischer Texte ernst nehmen, „nicht an das Land im geographischen Sinn gebunden“ seien. Dass Vollmer mit diesen Aussagen das Selbstverständnis der überwiegenden Mehrheit der Juden komplett ignoriert, fällt dem Autor entweder nicht auf oder es interessiert ihn nicht.

Das „Land“ steht in der Bibel für die Konkretheit der Verheißungen. Das Kollektivleben eines Volkes braucht einen realen Raum, damit es konkret gestaltet werden kann. Während ihm diese schlichte Tatsache für die Situation der Palästinenser offenbar gut einleuchtet, konstruiert Vollmer eine christliche universale Theologie, die dem jüdischen Volk jeglichen theologisch legitimen Bezug zum Land entziehen will. Wer in so eklatanter Weise keine Wahrnehmung für das Selbstverständnis des Judentums offenbart, der bringt keinen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts, der wird stattdessen eine ernste Irritation im Verhältnis zwischen Christen und Juden hervorrufen.

Kein Wort hören wir von Jochen Vollmer über exklusive theologische Konzepte des Landes auf islamischer Seite, wie z.B. in Artikel 11 der Charta der Hamas:

"Die islamische Widerstandsbewegung glaubt, dass das Land Palästina eine islamische Stiftung („Waqf“) ist, künftigen muslimischen Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht. Es darf nicht leichtfertig weggegeben werden, kein einziger Teil davon; es darf nicht aufgegeben werden, kein einziger Teil davon. Weder ein einzelnes arabisches Land noch alle arabischen Länder, weder ein König noch ein Präsident, weder alle Könige und Präsidenten, weder eine einzelne Organisation noch alle, mögen sie palästinensisch oder arabisch sein, haben das Recht solches zu tun. Palästina eine islamische Stiftung, muslimischen Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht".

Es ist in der Tat notwendig, exklusive Ansprüche auf das Land zu überwinden, sowohl auf jüdischer wie auf islamischer Seite und auch unter christlichen Fundamentalisten. Jochen Vollmer aber sieht hier allein bei Israel eine Bringeschuld. So unterstellt er Israel nicht nur alleiniger Verursacher des Nahost-Konflikts zu sein, sondern er schiebt Israel auch noch die alleinige Verantwortung für die Lösung zu.

Ergebnis

Der Aufsatz Jochen Vollmers ist kein Beitrag zum besseren Verständnis des Nahostkonflikts.  Er stellt Israel allein als Verursacher dar und macht es allein für die Lösung verantwortlich. Er bietet eine christliche theologische Interpretation, die weder den biblischen Texten noch dem jüdischen Selbstverständnis gerecht wird. Wer so die besonderen Beziehungen zwischen Gott und dem jüdischen Volk und die besonderen Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel versucht, theologisch als illegitim hinzustellen, der muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, eine Neuauflage des klassischen kirchlichen Antijudaismus zu betreiben.

Dabei ist es notwendig, dass wir in Europa eine bessere Wahrnehmung des Nahostkonflikts inklusive der zunehmenden Bedrückung der Palästinenser durch israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik gewinnen sowie auch des Engagements von israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten. Diesem Anliegen aber hat Jochen Vollmer durch seine höchst einseitige Israelkritik und seinen altneuen Antijudaismus einen Bärendienst erwiesen.

2. September 2011

Pfarrer Friedhelm Pieper, Europabeauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Zentrum Ökumene, Frankfurt a.M., Mitglied in "ImDialog - Ev. Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau", ehemaliger Generalsekretär des "Internationalen Rates der Christen und Juden

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