Urteil statt Vorurteil. Heute:
Die Gottesmordlüge
von Klaus-Peter Lehmann

Grundsätzliches
Die Anschuldigung, die Juden hätten Christus bzw. Gott ermordet, (1) bildete den Wurzelboden, der die giftigen Lügengewächse des mittelalterlichen und neuzeitlichen Antisemitismus nährte. Sie legitimierte die wahnhaften Legenden über die Juden (Von der Judensau zum Saujuden, Pest und Brunnenvergiftung, Ritualmordlegende, Verleumdung des Talmud), ihre Verteufelung (Hostienfrevel), ihre soziale Diskriminierung (Antijüdische Gesetzgebung) und die mörderischen Pogrome (Kreuzzüge). Der Vorwurf des Gottesmordes stempelte die Juden zum Inbegriff des Bösen und ist deshalb als die Quelle des antisemitischen Vernichtungswahnes anzusehen. Er kommt ihrer kollektiven Verurteilung zu ewiger Vogelfreiheit gleich.

Die kirchliche Lehre
Die Gleichsetzung des Judentums mit dem Bösen durchzieht die kirchliche Lehre seit dem 2. Jahrhundert wie ein roter Faden. Alle antiken Kirchenväter urteilten wie Origenes (185-254): „Das Blut Jesu haftet nicht nur an jenen, die Jesu Zeitgenossen waren, sondern an allen künftigen jüdischen Geschlechtern bis zum Ende der Zeiten.“ (2) Johannes Chrysostomos (345-407) predigte: „Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und auch keine Entschuldigung.“ Bis in die mittelalterliche Scholastik führt die Spur der Gottesmordlüge. (3)
Auch die reformatorische Theologie erhebt diesen Vorwurf. Doch entfallen für sie die wahnhaften Legenden, weil sie die Wandlungslehre ablehnt. Trotzdem wurden die Juden mit unverminderter Härte weiter verteufelt: „Wo du einen rechten Juden siehst, magst du mit gutem Gewissen ein Kreuz für dich schlagen und frei und sicher sprechen: Da geht ein leibhaftiger Teufel.“ Auch wurden sie wie im Mittelalter mit dem Antichrist gleichgesetzt: „Sie könnens nicht leiden, dass wir Heiden ihnen vor Gott gleich sein sollten, mit ihnen am Messias teilhaben, und ihre Miterben und Brüder heißen sollten, kreuzigten sie eher noch zehn Messiasse und schlügen Gott - wenn dies möglich wäre - selber tot mit allen Engeln und Kreaturen, und wenn sie tausend Höllen statt einer verdienten.“ (4)

Das Neue Testament
Bis heute beschäftigt die Theologie die Frage: Wer war schuld an Jesu Tod? (5) Mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Neue Testament einen jüdischen Gottesmord nicht kennt. Der Ruf einer jüdischen Volksmenge Kreuzige, kreuzige ihn! (Lk 23,21) und Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! (Mt 27,25) sowie das Agieren des Hohenpriesters Kaiphas (Joh 11,47-53) galten traditionell als Belege für die jüdische Schuld. Allerdings waren öffentliche Kreuzigungen in ihrer unüberbietbaren Grausamkeit eine Todesstrafe, deren Vollzug ohne Rom als Besatzungsmacht undenkbar ist. Das christliche Glaubensbekenntnis erinnert in aller Deutlichkeit daran: gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt. Es liefe auf eine Verkennung der Machtverhältnisse in römisch besetzten Gebieten hinaus, anzunehmen, Pilatus hätte sich jüdischem Drängen auf eine Hinrichtung Jesu beugen müssen. Seine Geste des Händewaschens mit den Worten: Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten (Mt 27,24) ist die zynische Inszenierung eines terroristischen Statthalters, der wider bessere Erkenntnis die Dinge gewissenlos laufen lässt. Tatsächlich bezeugt das Neue Testament Überlegungen der unter Roms Gnaden amtierenden jüdischen Priesterschaft, eine Hinrichtung Jesu zu favorisieren. In den Worten des Kaiphas: Lieber einer kommt um, als das ganze Volk (Joh 11,25) artikuliert sich ein Problem, mit dem alle jüdischen Gruppen damals kämpften: Wie kann Israel die römische Besatzung unbeschadet überstehen? Das Königshaus und die Priesterschaft zogen eine Kooperation mit den Besatzern vor, die jederlei messianische Aufstandsprovokation mied. Die Pharisäer sahen in der Sammlung der Juden um die Tora, im frommen synagogalen Leben, die Dauer Israels gewährleistet. Die Essener sonderten sich von dieser Welt ab. Die Zeloten propagierten den Aufstand gegen die Besatzer. Deutlich ist, dass die Jesus-Bewegung als messianisch inspirierter Aufstandsversuch wahrgenommen wurde und deshalb ein verheerender Eingriff römischer Truppen befürchtet wurde, wie er dann auch im Jahre 70 p.C. stattfand und mit der Zerstörung des Tempels endete. Die vielschichtige Interessenlage im besetzten Judäa entzieht der Vermutung einer kollektiven Verstrickung der Juden in den Tod Jesu den Boden.
Wichtig ist der Hinweis auf die theologische Widersprüchlichkeit des Gottesmordvorwurfs. Der christliche Glaube wurzelt in dem Satz, dass Jesus Christus um der Erlösung der sündigen Welt willen, um unsertwillen, den Tod auf sich genommen hat. Der Messias muss leiden (Mk 8,31). So hat die Passion Jesu ein aktives Moment im Wollen Jesu. Andererseits muss die aktive Mitwirkung von Juden und Heiden an der Passion Jesu als ihre äußere und unbewusste Mitwirkung an der Erlösung der Welt gesehen werden. Theologisch sind sie Werkzeuge Gottes in seinem messianischen Erlösungswerk. (6) Wichtig ist außerdem, dass die Jünger Jesu Juden waren. Ebenso waren die ersten Gemeinden rein jüdisch. Erstmalig in Apg 10 wird von dem Wunder erzählt, dass ein Heide vom Heiligen Geist erfasst worden sei. Die Auseinandersetzung um die Messianität Jesu ist der Sache nach ein innerjüdischer Streit. Jesus-Gläubige heidnischer Herkunft sind erst später dazugekommen. Als mit ihrer Überhandnahme auch heidnisches Denken um sich griff, wurde aus dem innerjüdischen Streit ein Kampf der Kirche gegen das Judentum.

Gottesmordlüge und säkularer Antisemitismus
Obwohl theologisch unhaltbar, hat der Vorwurf des Christusmordes das Verhältnis der Kirche zum Judentum bis in die jüngste Zeit geprägt. Aus ihm leiten sich auch die Vernichtungsphantasien des säkularen Antisemitismus her. Das antisemitische Vorurteil, den bösartigen Juden sei nichts heilig, sie wollten die Welt beherrschen und ihre Ordnung zerstören (Protokolle der Weisen von Zion), wurzelt in den Wahn, der Bestand und das Heil der Gesellschaft gründe in einem göttlichen Prinzip, das die Juden, angeblich im Erwählungsdünkel befangen, nicht anerkennen wollen. Hier wird in völlig verzerrter Gestalt etwas Richtiges geahnt und mit Hass abgewehrt: dass die Verheißung des Schalom, die mit dem erwählten Volk (Erwählung) nach biblischem Zeugnis untrennbar verbunden ist, die bestehende Weltordnung unter das Gericht von Gottes Gerechtigkeit und damit vor eine unübersehbare revolutionäre Veränderung stellt (Jes 65,17; 2Petr 3,10-13). Der Gott Israels ist mit einem Gott, der den Bestand einer ungerechten Welt legitimiert, nicht kompatibel. Der Ursprung des Antisemitismus ist hier zu vermuten: in der Heiden Angst vor dem Gott der Juden.

Kirchliches Umdenken
Erst als der Vernichtungswahn des Antisemitismus im NS-Völkermord offen zutage lag, begann ein Umdenken. Die evangelische Synode von Weißensee erklärte 1950: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“ Damit widerrief eine offizielle kirchliche Stellungnahme der EKD erstmals die aus dem Gottesmord abgeleitete Enterbungslehre. Langsam bahnte sich unter dem Einfluss des jüdisch-christlichen Dialoges eine Revision der antijudaistischen Lehren an. Nostra Aetate, die Erklärung des 2. Vatikanischen Konzils von 1965, verkündete eine neue katholische Lehre: „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Auch hat ja Christus, wie die Kirche immer gelehrt hat und lehrt, um der Sünden aller Menschen willen sein Leiden und seinen Tod in unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes zu verkünden.“

  • Im Rahmen der Lehre von der Menschwerdung Gottes oder der Trinitätslehre wäre der Mord an Christus als Mord an Gott zu sehen.

  • Ähnlich Tertullian (gest. 222 p.C.): „Die ganze Synagoge der Söhne Israels hat Jesus getötet.“ (F. Gleiss, von der Gottesmordlüge zum Völkermord, Bad Segeberg 1995, S. 14).

  • Thomas von Aquin (1225-1274): „Die Juden sündigten als Kreuziger nicht nur des Menschen Jesus, sondern auch des Gottes Christus.“ (a.a.O.)

  • M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543. Den Judenhass hat diese Korrektur im Feindbild wohl nicht vermindert. Denn nicht der Judenhass wurde für unchristlich befunden, sondern, wie dieses Zitat zeigt, mit gleicher feindlicher Energie eine theologische Unstimmigkeit im beibehaltenen Vorurteil beseitigt. Auch im reformatorischen Feindbild agieren die Juden blindwütig gegen die Kirche und den Messias.

  • P. Lapide, Wer war schuld an Jesu Tod?, Gütersloh 1987

  • Das ist eine Denkfigur, die das Alte Testament vorgibt, wenn es z.B. den König des persischen Imperiums Kyros als Messias tituliert (Jes 45,1), weil er Israel aus dem Exil erlöst.

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