Umgang mit belasteter Geschichte – ihre Überwindung durch Dialog und Begegnung
von Hermann Düringer

Geschichte ist eine Ressource für das Zusammenleben der Völker. Geschichte enthält zugleich schwerwiegende Belastungen, die wie eine geschlossene Stahltür vor der Zukunft stehen. Das Bestreben, diese Tür zu öffnen, ist Aufgabe von Politik und ist Thema wissenschaftlicher Aufarbeitung von Geschichte. Beide Zugänge würden aber ihr Ziel nicht erreichen, wenn es daneben nicht zivilgesellschaftliche Bemühungen gäbe, durch Dialog und Begegnung ein neues Kapitel zwischen Völkern, ethnischen und religiösen Gruppen aufzuschlagen.

Elf internationale Dialog- und Begegnungsinitiativen kamen in Arnoldshain zu einem intensiven Gedankenaustausch zusammen, um ihre Arbeit zu reflektieren und neue Impulse zu erhalten.

Schüler der Philipp-Reiß-Schule in Friedrichsdorf berichten von der Schulpartnerschaft mit Gilboa/Israel.
Sie beschrieben die Unsicherheit, mit der sie als Schüler aus Deutschland zu den Begegnungen nach Israel fuhren und die Intensität der Gespräche, die sie mit israelischen Schülern und Erwachsenen, darunter auch mit arabischen Israelis, führten. Dass über die Belastungen der Geschichte, d.h. über die Verbrechen, die in deutschem Namen an Juden verübt wurden, gesprochen wurde, ermöglichte es, dass bald auch ganz unverkrampft die Themen in den Vordergrund traten, wie sie Jugendliche überall in der Welt beschäftigen.

Seit 2000 führt das Projekt „Breaking the silence“  in England und Deutschland therapeutisch ausgerichtete Begegnungen und Seminare durch, in denen transnational und transgenerational Menschen im Gespräch ihre durch die Nazi-Herrschaft entstandenen familiären Belastungen aufarbeiten. Ziel ist es, Menschen zusammenzubringen, die selber, bzw. der Großeltern und Eltern Opfer, Täter, Soldaten, Kollaborateure oder Retter gewesen sind. Menschen von der Last transgenerationaler Belastungen zu befreien ist das Ziel.

Die Initiative Stolpersteine in Frankfurt a.M. erinnert an die Namen von Holocaustopfern - auf Messingquadern im Straßenpflaster vor ihrem ehemaligen Wohnhaus. „Durch die Gedenksteine wird die Erinnerung an diesen Menschen in unseren Alltag zurückgeholt.“ (Gunter Demnig, der Künstler, der die Steine verlegt) Mitglieder der Gruppe berichteten von 530 Stolpersteinen, die bis jetzt in Frankfurt verlegt wurden; dabei werden Angehörige der ehemaligen Bewohner eingeladen, für die die Verlegung ein sehr bewegender Moment ist, in dem ihre ermordeten Angehörigen einen Ort des Gedenkens erhalten. Durch ihre Gegenwart erhält die Aktion ihren Begegnungs- und Versöhnungscharakter. Diskutiert wurden in der Gruppe auch die Vorbehalte, die es an einigen Orten gegen die Aktion gibt.

Die „evangelische Initiative für eine bessere Zukunft von Deutschen und Polen“ Zeichen der Hoffnung – znaki nadziei unterstützt (derzeit 247)ehemalige polnische KZ-Opfer und lädt sie regelmäßig zu Begegnungen und Zeitzeugengesprächen ein. Alina Dabrowska (81) und Eugeniusz Szobski (89), beide deutschsprachig, waren aus Polen zu der Tagung angereist und berichteten von dem großen Wert, den die direkten Begegnungen mit Deutschen für sie und ihre ehemaligen Mithäftlinge haben. Ihr entschiedenes Eintreten für das Nicht-Vergessen hatte sich bei beiden verbunden mit einer sehr überzeugenden Versöhnungsbereitschaft, die beide eindrucksvoll repräsentierten.

Seit dem Sommer 2002 werden im Rahmen der Aktion Ferien vom Krieg des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V. junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren aus Israel und Palästina (Westbank) zu Dialogseminaren und „Ferien vom Krieg“ nach Deutschland eingeladen. Für die Beteiligten ist die Teilnahme an den Begegnungen nicht unproblematisch. Auf beiden Seiten können diese Kontakte als ‚Verrat’ oder ‚Kollaboration mit dem Feind’ denunziert und geahndet werden. Die Erfahrungen von „Ferien vom Krieg“, die zuvor während des Jugoslawien-Krieges Bosnische, kroatische und Serbische Jugendliche zusammengebracht hatte, zeigen dennoch, wie stark Vorurteile durch Begegnung – und vielleicht nur durch Begegnung – abgebaut werden können.

Das Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt wird jährlich in Zusammenarbeit mit der Stadt Frankfurt und dem Hessischen Kultusministerium durchgeführt wird. Ehemalige Frankfurterinnen und Frankfurter jüdischer Herkunft werden von der Stadt Frankfurt eingeladen. Die Projektgruppe organisiert Besuche in Schulen und Begegnungen mit heutigen Frankfurter Bürgern. Lehrerinnen und Lehrer werden in Seminaren auf die Begegnungen intensiv vorbereitet. Die Gespräche in den Schulen geben den Zeitzeugen Gelegenheit, ihre Lebensgeschichte und die Schicksale von Familienmitgliedern an junge Menschen in Deutschland weiterzugeben. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass die Jugendlichen zur Wachsamkeit gegenüber Ungerechtigkeit und Diskriminierung angeregt werden.

The Aftermath oft he Holocaust on Both Sides ist eine deutsch-englische Initiative, die das Weiterwirken der NS-Schreckensherrschaft in der Erlebnisgeneration, aber darüber hinaus auch in der zweiten und dritten Generation thematisiert. Die an dem Projekt Beteiligten sind zum Teil persönlich, zum Teil über das Schicksal von Familienangehörigen, zum Teil über pädagogische und therapeutische Arbeit mit der Thematik befasst. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über Begegnung und den Dialog mit der „anderen Seite“ ist, so zeigen die Erfahrungen der Teilnehmenden, mitunter ein schmerzhafter Prozess. Die Begegnungen klären Fragen, werfen aber auch immer neue auf.

Second Generation Network, eine englische Initiative, begann ihre Arbeit, 2008 in Kooperation mit der Helen Bamber Stiftung in London. In Seminaren werden Menschen verschiedener Gruppen eingeladen, die an Nachwirkungen von Verfolgung und Völkermord leiden. Dazu gehören Menschen aus Chile, Nord-Irland und Eritrea ebenso wie Nachfahren jüdischer Holocaust-Überlebender und Flüchtlinge. David Clark schilderte es als eine große Ermutigung, an der Tagung in Arnoldshain teilzunehmen, Solidarität zu erfahren und neue Ideen zu gewinnen.

Der Israeli Nir Oren und sein Palästinensischer Kollege Mazen Faraj präsentierten die israelisch-palästinensische Gruppe Parents circle. In diesem Projekt kommen Menschen von „beiden Seiten“ zusammen, Israelis und Palästinenser, die Angehörige in dem Konflikt verloren. Gemeinsam zu trauern und gemeinsam nach Wegen aus dem Teufelskreis der Gewalt zu suchen, ist ihr Anliegen. Eine zentrale Aufgabe dabei ist die Wahrnehmung der unterschiedlichen, oft konträren und feindseligen Narrative auf beiden Seiten. Ob und wie das gelingen kann, war der am intensivsten diskutierte Punkt in diesem workshop.

Das britische Forum for Discussion of Israel and Palestine (FODIP) hat– angeregt durch Besuche in Yad Vaschem - verschiedene Dialog-Ansätze entwickelt, die für Konfliktbearbeitung, Menschenrechtsbildung und Gewaltüberwindung angeboten werden. Eindrucksvoll wurde die „Heart or hear“-Methode vorgestellt, die es Konfliktpartnern, Gegnern, historisch Belasteten ermöglichen soll, aus festgezurrten Blockadesituationen herauszukommen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch der „dual narrative approach“, das Sich-Einlassen auf die Perspektive des anderen, auf seine „Erzählung“ und Sicht. Eine weitere Aktivität ist Förderung gesellschaftlicher Verantwortung unter der Frage „Are we bystanders today?“

Der Arbeitsgruppe Anerkennung – gegen Genozid, für Völkerverständigung und dem Verein der Völkermordgegner geht es um eine Bearbeitung und Überwindung der Nachwirkungen des Völkermords an den Armeniern in den letzten Jahren des 1. Weltkrieges. Beide Projekte stehen vor der Situation, dass Begegnung und Dialog bis jetzt fast nicht möglich sind. Bevor es dazu kommen könne, müsse es zunächst eine Anerkennung des Völkermordes geben. Deutlich wurde: das gespannte Verhältnis zwischen Türken und Armeniern auch beinahe 100 Jahre nach dem Völkermord zeigt, wie stark und wie nachhaltig solche traumatischen Erfahrungen nachwirken und wie notwendig Dialog- und Begegnungsarbeit sind.

Begleitet wurde die Tagung von zwei Referaten: Die israelische Psychotherapeutin Prof. Dr. Yolanda Gampel - bekannt geworden durch ihr Buch „Die Kinder Schoah – die transgenerationelle Weitergabe der Zerstörung“ -berichtete über ihre vielfältige praktisch-therapeutische Arbeit.

Aus ihren Erfahrungen heraus hat sie einen theoretischen Rahmen entwickelt für Dialog- und Begegnungsarbeit. Als Metapher verwendet sie den ambivalenten Charakter von Radioaktivität. Einerseits wirkt sie, weitgehend unsichtbar und verborgen in destruktiver Weise weiter. Andererseits enthält sie Potentiale, die
medizinisch zum Nutzen und zur Heilung von Menschen angewandt werden kann. Diese Ambivalenz gelte es fruchtbar zu machen auch im Umgang mit belasteter Geschichte.

Die Autorin Alexandra Senfft berichtete von ihrem Projekt „Fremder Feind – so nah“. Ausgehend von ihrer Zusammenarbeit mit dem inzwischen verstorbenen israelischen Psychoanalytiker Dan Bar-On hat sie Begegnungen von Israelis und Palästinensern ermöglicht, in denen die Beteiligten die Auswirkungen des Nahost-Konflikts jeweils aus ihrer Sicht beschrieben. In diesem Konzept des „storytelling in conflict“ ging es darum, den Repräsentanten des Konflikts eine wechselseitige Perspektivenübernahme zu ermöglichen. Hintergrund ist Überzeugung, dass die Bereitschaft, die durch den Graben aus Feindschaft und Hass gekennzeichnete Situation mit den Augen des Anderen wahrzunehmen, die Voraussetzung für jeden Dialog ist.

aus: Arnoldshainer Akzente 2/11

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