Die Zukunft der Erinnerung
von Hermann Düringer

Was ist die religiöse Dimension  von Erinnerung?

In den späten Dreißigerjahren - also noch vor dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa - gab es zwischen den beiden Kritischen Theoretikern Max Horkheimer und Walter Benjamin einen hochinteressanten – brieflichen  - Dialog.

Walter Benjamin hatte 1937 in einem Aufsatz der „Zeitschrift für Sozialforschung“ davon gesprochen, „die Vergangenheit sei nicht abgeschlossen“.

Horkheimer hat diesem Gedanken ganz entschieden widersprochen. Er schrieb an Benjamin: „Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist, heilt keine Zukunft mehr. ... Natur und Gesellschaft haben ihr Werk an ihnen getan und die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, in welche die unendliche Sehnsucht von Bedrückten und Sehnsucht eingegangen ist, bildet nur einen Überrest des primitiven Denkens, das die nichtige Rolle des Menschen in der Naturgeschichte verkennt und das Universum vermenschlicht.... Letzen Endes ist Ihre Aussage theologisch.“

Walter Benjamin hält dem entgegen und schreibt: „Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, dass die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist.  Was die Wissenschaft festgestellt hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann ... das Abgeschlossene, das Leid, zu einem Unabgeschlossenen machen.“ Er fügt hinzu: „Das ist Theologie. Aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wie wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“

Worauf Benjamin hinweist ist das, was den Allermeisten auch intuitiv bewusst ist: Das Gedächtnis der Opfer, ja jedes Toten  hat  eine die Faktizität von Raum und Zeit transzendierende, und damit eine religiöse Dimension. Und die besteht, wie er das ausdrückt, in der Unabgeschlossenheit der Geschichte und der Zeit. Darüber lässt sich in der Sprache der Wissenschaften nicht reden, aber eben in poetischen Bildern und in religiösen Metaphern - und  in der Sprache einer Stille, die mehr ist als phonetische Leere.

Für biblisches Denken und damit für alle, die sich auf biblisches Denken und Tradition beziehen, ist die Kategorie der Erinnerung von ganz elementarer Bedeutung. Ja, man muss sogar sagen: Sowohl das Judentum als auch die christlichen Kirchen sind zuallererst Gedächtnisgemeinschaften. Für Juden ist das am deutlichsten in der Pessach-Feier präsent. Da beruft man sich auf das Wort aus 2. Mose 13, 14, wo es heißt: Wenn dein Kind dich fragt, was das bedeute, dann sollst du ihm sagen, Gott hat uns mit mächtiger Hand aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt.

Indem man diese Geschichte vergegenwärtigt, wird die feiernde Generation heute mit dieser ersten Generation vereint.

Das zentrale Sakrament des Christentums ist ebenfalls ein Gedächtnismahl – im Anschluss an das Pessach-Mahl. „Das tut zu meinem Gedächtnis“, sagt Jesus, nachdem er mit seinen Jüngern das Sedermahl gefeiert hat. In jedem Abendmahl, in jeder Eucharistiefeier, feiert die Christenheit nicht die Erinnerung an Jesus Christus, sondern sie feiert die Gegenwart Jesu Christi.  Gedächtnis ist in diesem Verständnis eben mehr als ein  ‚daran Denken’, was in der Vergangenheit einmal war. Es ist zugleich eine Relativierung der Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Kategorien unserer Anschauung, aber es sind keine ontologisch absoluten Größen. Vor Gott sind bekanntlich tausend Jahre wie ein Tag und was gestern war, ist morgen nicht ungeschehen, und der kommende Messias ist heute wirksam. Der Glaube denkt gewissermaßen immer auch kontrafaktisch – kontrachronisch.

Positivistisch denkende Zeitgenossen würden sagen, der Glaube sei realitätsverweigernd. Ich halte es für angemessener zu sagen: der Glaube ist realitätserweiternd – und feiert das in der liturgischen Praxis.

„Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.“ heißt es bei dem Propheten Jesaja (56,5). Das ist der Vers, der der Gedenkstätte Yad Vashem den Namen gegeben hat.

Der ‚ewige Name’  steht hier nicht nur als Repräsentanz für  das jüdische Volk, sondern hat ein universale Konnotation.

Der ‚ewige Name’ hält die Geschichte jedes Menschen offen, indem er über den raum-zeitliche Begrenzung hinausweist.

Dass also in einem ganz allgemeinen Sinn der Toten namentlich gedacht wird, dass auf der Mauer des Jüdischen Friedhofs in Frankfurt die Namen der Verschleppten und Ermordeten auf kleinen Täfelchen angebracht werden,  dass die Namen von Ermordeten auf sogenannten Stolpersteinen in das Straßenpflaster geschrieben werden, dass auch die Namen von im Krieg getöteten Soldaten auf Kriegsgräberfriedhöfen genannt werden und nicht nur summarisch Zahlen von Toten  angegeben werden, das ist Ausdruck der Hoffnung und Verheißung: „Einen ewigen Namen will ich ihnen geben.“ Der „ewige Name“ benennt zudem eine unbedingte und unverfügbare Würde der Person. Ein letztes Urteil über sie steht Menschen nicht zu. 

Deshalb ist es richtig, an öffentlich zugänglichen Orten, an Gedenkstätten, an Kriegsgräberfriedhöfen an die Namen zu erinnern, auch an die Namen derer, die ohne jeden Zweifel zu den Tätern gerechnet werden müssen und die sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht haben. Die siebzehnte Kerze vor dem Dom in Erfurt brannte 2002 für den Amokschützen, der vorher sechzehn Menschen getötet hatte. Kein Mensch soll namenlos verscharrt werden, auch der Täter nicht. Auch der Tod eines Mörders ist kein Anlass zur Freude. Das bedeutet andererseits, dass ohne jede Einschränkung Rücksichtnahme Unrecht und Schuld beim Namen zu nennen sind. Auf Vergebung und Versöhnung kann nur hoffen, wer auch von Schuld spricht. Das Jüngste Gericht, in dem alles noch einmal zur Sprache kommt, ist die Metapher dafür, dass einerseits jeder Mensch für seine Biografie einzustehen hat und andererseits dafür, dass Gerechtigkeit hergestellt wird.  Wer bei diesem Gedanken nicht resignieren will – und wer hätte keinen Grund dazu - der muss auf eine (auf-)richtende Macht – die gerecht und gnädig zugleich ist - zumindest hoffen können. Die Metapher vom Jüngsten Gericht, in dem alle Geschichte aufgerufen wird, verpflichtet, die Begriffe Schuld, Gerechtigkeit, Gnade und Erlösung in einer radikalen Weise ernst zu nehmen. Es gibt bei Gott keine billige Gnade, wie es auch keine gnadenlose Gerechtigkeit gibt.

Gedenkstätten und Friedhöfe sind in diesem Verständnis Orte des Eingedenkens. Sind sie auch Lernorte?

„Nie wieder!“ oder „Erinnern, damit so etwas nie wieder geschieht.“ waren und sind  pädagogische Ziele bei Besuchen von Gedenkstätten und Kriegsgräberfriedhöfen.

Problematisch wäre es, das Gedächtnis an die Opfer und die Toten auf eine pädagogische oder auf eine politische Funktion zu reduzieren. Opfer erhalten keinen Sinn dadurch, dass Nachgeborene aus ihrer Geschichte lernen. Wenn das der vorrangige oder gar alleinige Grund wäre, wenn wir das kollektive Gedächtnis darauf reduzierten, dann würden die Toten nach ihrer physischen Vernichtung noch einmal Mal eliminiert – sie würden instrumentalisiert und verdinglicht.

Die Erinnerung geschieht um der Opfer selbst willen und nicht für einen anderen Zweck. Solche Zweckfreiheit ist ein ganz wesentlicher Beitrag zu einer Kultur der Humanität und Menschenwürde. Und nur wenn das Gedenken zweckfrei bleibt, kann es – vielleicht – eine pädagogische Wirkung entfalten.

aus: Arnoldshainer Akzente 2/11

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email