Die 10 Worte
von Daniel Neumann

Was glauben Sie, welche biblischen Vorschriften die Menschen am ehesten einzuhalten bereit sind? Ich bin ziemlich sicher, dass ihre Wahl auf die 10 Gebote fallen würde. Sie gelten gemeinhin als Quintessenz der in der Bibel enthaltenen g“ttlichen Verhaltensnormen und als prägende und universelle Grundlage der westlichen Zivilgesellschaft. Dies bestätigt auch eine Emnid-Umfrage vor einigen Jahren, in der immerhin gut zwei Drittel der Befragten angaben, die 10 Gebote als verbindlich für ihr tägliches Leben zu erachten. Aber der Wahrheit die Ehre: nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Befragten kannte überhaupt alle zehn Gebote. Wie dem auch sei, zumindest die in westlichen Gesellschaften auch durch die Strafgesetzgebung normierten Verbote des Tötens und des Stehlens, waren den meisten bekannt. Diese sind es dann schließlich auch, die eine große Mehrheit als die wichtigsten ansieht.

Aus jüdischer Sicht - zumindest aus der traditionellen - werden solche Einstellungen kritisch betrachtet, auch wenn eine Umfrage unter Juden wohl ein ähnliches Ergebnis ergeben würde. Aber sind denn die 10 Gebote tatsächlich die wichtigsten der in der Thora genannten? Und gibt es innerhalb der Mitzvot, also der biblischen Ge- und Verbote, qualitative Unterschiede? Gibt es Vorschriften, die wertvoller sind als andere oder solche, die wir gar ruhigen Gewissens vernachlässigen können?

Lassen wir doch einmal kurz Revue passieren, was die 10 Gebote sind und woher sie überhaupt kommen: Die sogenannten 10 Gebote, die im hebräischen Original Asseret ha-dwarim, also die 10 Worte, heißen, sind dem Volk Israel nach seinem Auszug aus Ägypten in der Wüste am Berg Sinai von G“tt offenbart worden. Er sprach sie zu den Israeliten und schrieb sie anschließend auf 2 steinerne Tafeln, die Moses dem Volk vom Berg Sinai herabbrachte. Sie waren Teil des Bundes, den G“tt nach der Erwählung des Volkes Israel mit ihm geschlossen hat.
 
Auf der ersten Tafel finden sich 5 Gebote, die sich auf das Verhältnis zu unserem Schöpfer beziehen: Die Betonung des einen und einzigen G“ttes, das Verbot anderen G“ttern zu huldigen, das Verbot G“ttes Namen zu missbrauchen, das Gebot der Heiligung des Shabbat und das Gebot Vater und Mutter zu ehren.

Auf der zweiten Tafel sind die Gebote oder, in diesem Fall, Verbote aufgezählt, die sich dem Miteinander von Menschen, also gewissermaßen einer zivilgesellschaftlichen Grundordnung widmen: morde nicht, begehe keinen Ehebruch, stiehl nicht, lüge nicht und begehre nicht deines nächsten Haus, Hof oder Frau.

Doch Moment: was hat das 5. Gebot, das die Ehrerbietung gegenüber Vater und Mutter verlangt, auf der ersten Tafel zu suchen? Würde es nicht eigentlich auf die 2. Tafel gehören, auf der die zwischenmenschlichen Verhältnisse geregelt werden?

Diese Frage ist von unseren Weisen eindeutig beantwortet worden: Die Eltern, die ein Kind zur Welt bringen, helfen G“tt bei seinem Werk. Sie schaffen Leben und sind im Verhältnis von Kind zu Eltern als dessen Schöpfer anzusehen. Es geht also nicht nur um den g“ttlichen Schöpfer, sondern auch um den menschlichen. Ein Midrasch, also eine Auslegung oder Erzählung zu der Vorschrift durch unsere Weisen, besagt, dass es drei Partner bei der Erschaffung des Menschen gibt: Mutter, Vater und G“tt.

Können wir nun also davon ausgehen, dass wir gute Menschen oder genauer: gute Juden werden, wenn wir diese Gebote halten? Sind sie das Herzstück unserer Lehre? Die Top Ten des jüdischen Religions- und Moralkodex? Ja und Nein.

Einerseits sind sie nicht mehr und nicht weniger als 10 der für Juden durch die Thora vorgeschrieben 613 Ge- und Verbote, die es zu beachten gilt. Auch ohne sie bleiben immer noch 603 weitere Mitzvot, die uns als Leitfaden durch das religiöse und moralische Leben dienen. Aus traditionell jüdischer Sicht sind sie nicht mehr oder minder wichtig, als alle anderen Vorschriften der Thora. Denn schon der Versuch, eine Abwägung oder Beurteilung der Gesetze vorzunehmen, birgt die Gefahr in sich,  über Kurz oder Lang zu einer qualitativen Neubewertung bestimmter Gebote zu führen.
Und auch im jüdischen Gebet lässt sich eine besondere Stellung des Dekalogs, also des Zehnwortes, nicht erkennen. Während etwa die Amida, das zentrale Achtzehngebet und das Schma-Israel, also das monotheistische Glaubensbekenntnis, mehrmals täglich gesprochen werden, lesen wir die 10 Gebote nur ganze dreimal im Jahr.

Andererseits sind sie es und nicht die übrigen 603 Ge- und Verbote, die G“tt nach der Überlieferung zum Volk Israel sprach. Sie sind es, die erst der Ewige selbst und später Moses auf die steinernen Tafeln schrieben. Und diese Tafeln mit samt der darauf verzeichneten Worte waren es, die zunächst in der heiligen Bundeslade und später im inneren und heiligsten Ort des Jerusalemer Tempels aufbewahrt wurden.

Das verdeutlicht, dass die 10 Gebote eine besondere Stellung innerhalb des Gesetzeskompendiums einnehmen. Nimmt man die Quersumme der 613 in der Thora enthaltenen Gesetze, zählt man also die Zahlen 6, 1 und 3 zusammen, so ergibt dies die Zahl 10. Die 10 Worte.
Sie sind gewissermaßen die Überschriften, unter denen alle folgenden Vorschriften aufgezählt werden können. Sie sind die Kategorien, in die sich die weiteren Mitzvot einordnen lassen. Sie bilden die Grundprinzipien des jüdischen Glaubens.

Sie sind es, die das kollektive jüdische Bewusstsein geprägt haben und sie sind es, die später in der gesamten westlichen Welt, wenn auch mit leichten Änderungen, adaptiert worden sind. Sie symbolisieren die religiöse Symbiose von Glaube und Tat und verdeutlichen gleichzeitig, dass die jüdische Religion auf dem gleichberechtigten Miteinander von g“ttlicher Moral und mitmenschlicher Ethik beruht. Das Judentum kennt keinen blinden Gehorsam gegenüber G“tt zu Lasten des Menschen und umgekehrt. Die Gebote auf beiden Tafeln stehen sich auf Augenhöhe gegenüber. Obwohl die meisten vermeintlich religiösen Menschen wohl den Geboten, welche dem Schöpfer gelten, einen gefühlten Vorsprung zumessen und die eher Säkularen zu den zwischenmenschlichen Gesetzen tendieren, sind sie doch zwei Seiten derselben Medaille.

Während etwa das 1. Gebot, also die Bekräftigung des einen und einzigen G“ttes ,der grundsätzlichen Standortbestimmung des Menschen gegenüber G“tt dient, definiert sein Konterpart auf der 2. Tafel, nämlich das Mordverbot die unbedingten Grenzen im zwischenmenschlichen Bereich. Das heißt: So sehr der Mensch in seinem eigenen Orientierungssystem eine Existenz und damit eine Grenze über sich beachten muss, so sehr muss er eine Grenze neben sich und im Verhältnis zu anderen berücksichtigen. Und nur durch die Verinnerlichung und Befolgung beider Gebote und Grenzen ist gewährleistet, das der Mensch sich nicht des eines Gebotes bedient, um die Übertretung des anderen zu rechtfertigen.

Nur nebenbei: Das 6. Gebot wird fälschlicherweise oft übersetzt als: „Du sollst nicht töten“. Richtig übersetzt bedeutet „lo tirzach“ allerdings: „Morde nicht“. Der Unterschied könnte größer nicht sein, wie auch hiesige Strafrechtler bestätigen können, da diese Unterscheidung noch heute, wenn auch nicht mit der inhaltsgleichen Bedeutung, im deutschen Strafgesetzbuch vorhanden ist. Mit dem biblischen Gebot ist das Verbot des unentschuldbaren, ungerechtfertigten oder willkürlichen Tötens Unschuldiger gemeint. Eine Tötung in Notwehr, Nothilfe oder aufgrund einer sonstigen akzeptierten Rechtfertigung ist demgegenüber nicht von dem Verbot umfasst.

Aber nun zurück: Die Gebote sind also untereinander gleichwertig und miteinander verbunden. Was aber passiert etwa, wenn wir in eine Situation geraten, in der wir eine Entscheidung zwischen den g“ttlichen und den zwischenmenschlichen Geboten treffen müssen? Gibt es nicht doch die Ausnahme, die die Regel bestätigt? Es gibt sie!

Und eine kleine Erzählung verdeutlicht dies: Einst kam ein Verhungernder zu einem Weisen und bat inständig um ein wenig Brot. Der Weise, der gerade in ein Gebet vertieft war, reagierte nicht auf das Flehen des Mannes, so dass der Hungrige schließlich weiterzog. Als der Weise sein Gebet endlich beendet hatte und den Mann suchte, um ihm etwas zu Essen zu bringen, fand er ihn tot am Wegesrand. Er war verhungert.

G“tt hat uns seine Gebote zwar auf zwei gleichwertigen Tafeln offenbart, doch er hat im Gegensatz zum Menschen keine unaufschiebbaren Bedürfnisse. G“tt kann nicht verhungern, verdursten oder an einer ihm beigebrachten Wunde sterben. Der Mensch schon. Im Unterschied zum Menschen kann G“tt warten. Außerdem ist jede Wohltat, die wir zugunsten des Anderen erbringen, stets auch ein Dienst an G“tt. Die Hilfe und die Wohltat für unsere Mitmenschen ist von einem dualen Charakter geprägt, der Erfüllung g“ttlicher und gleichzeitig menschlicher Mitzvot.

Noch einmal zu der entscheidenden Frage: Reicht die Einhaltung der 10 Gebote, also der Grundprinzipien, denn nun aus? Sicher nicht. Aber es wäre zumindest ein guter Anfang!

Ich wünsche Ihnen einen guten Shabbat. Shabbat Shalom. 

Aus der Jüdischen Welt: Sendung vom Juli 2011

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