„Wo ist dein Bruder?“
Erfahrungen im christlich-jüdischen Gespräch in der DDR
von Friedrich Magirius

„Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil es so wenig Versöhnung gibt. Lasst uns der Bitterkeit und dem Hass eine Kraft entgegensetzen, wenn wir selbst wirklich vergeben, Vergebung erbitten und diese Gesinnung praktizieren. Dies zum Zeichen bitten wir die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, dass Sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Lande etwas Gutes zu tun. Lasst uns mit Polen, Russland und Israel beginnen…“

So heißt es im Gründungsaufruf der Aktion Sühnezeichen aus dem Jahr 1958. Doch die Realisierung dieser Vorhaben war für uns äußerst schwierig. Nach dem Bau der Mauer 1961 erlaubte die DDR-Regierung nicht einmal Einsätze in unseren östlichen Nachbarländern. In kommunistischen Staaten sei keine Versöhnung erforderlich – und die Schuldigen befänden sich ohnehin in der Bundesrepublik. So konnte in den 60er Jahren nur inoffiziell und unter schwierigen Bedingungen die Arbeit in Polen aufgebaut werden. Zur CSSR war nach dem Prager Frühling kein Kontakt möglich.

Umso mehr lag uns daran, den Kontakt zu jüdischen Menschen in der DDR zu suchen. Doch nach den belastenden Erfahrungen, die die Überlebenden gemacht hatten, war das sehr schwierig. Die kleinen jüdischen Gemeinden schirmten sich auch gegenüber der Öffentlichkeit ab und beschränkten sich auf das religiöse Leben. Erst in den 70er Jahren erlaubte uns die Berliner Gemeinde auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee Arbeitseinsätze durchzuführen. Der riesengroße Friedhof auf einem Areal von über 40 Hektar mit etwa 115000 Gräbern war nach 1945 vollkommen zugewachsen. Wer sollte auch die Gräber der Angehörigen aufsuchen und pflegen, wo doch fast die gesamte Gemeinde in den Konzentrationslagern ausgelöscht worden war.

Seit 1977 konnte Sühnezeichen Jahr für Jahr Sommerlager durchführen. Unter Anleitung der kleinen Gruppe von Mitarbeitern versuchten wir zunächst, wenigstens die Hauptwege des „Urwalds“ wieder begehbar zu machen, Bäume zu fällen und Sträucher zu verschneiden und den Wildwuchs auf Gräbern zu beseitigen. So waren wir mitten unter den namenlosen Opfern und gedachten ihrer Vorfahren. Unsere bescheidene Hilfe ließ Schritt für Schritt Vertrauen zu den jüdischen Gemeindegliedern wachsen. Noch sehe ich unsere Gruppe zum Mittagsgebet zusammenstehen, als Angehörige aus den USA nach den Gräbern ihrer Angehörigen suchten. Sie konnten nicht fassen, dass junge Menschen Jahrzehnte danach sich zu diesem Dienst versammelt hatten und Tränen standen in ihren Augen. Bewegend waren die Gespräche mit dem Vorsitzenden der Gemeinde Herrn Dr. Kirchner und dem Mitglied des Vorstands Herrn Dr. Zarrach, der dem Warschauer Ghetto als Kind entronnen war.

Mit 1500 jungen Leuten kamen wir am Vorabend des 9. November 1978 in der Sophienkirche zu einem Gottesdienst zusammen, gingen danach schweigend zum Gedenkstein in der Hamburger Straße, wo einst das Altersheim der Jüdischen Gemeinde stand. Schließlich zogen die vielen Teilnehmer (die nur den Fußweg benutzen durften) zur Ruine der Großen Synagoge in der Oranienburger Straße, wo Bischof Schönherr und ich Worte der Mahnung und des Gedenkens sprachen. Auf allen Gittern des Absperrzauns waren hunderte Kerzen aufgesteckt zur Erinnerung an die Opfer.

Das folgende Jahrestreffen mit 300 Teilnehmern stand unter dem Thema „Weiße Weste – Weiße Liste“ – Kristallnacht und ihre Folgen. Als Gäste sprachen Oberrabbiner Dr. Ödön Singer aus Budapest, Bischof Scharf und Dr. Kirchner, der uns wünschte, „dass sich die Kontakte in Zukunft weiter fortsetzen und das freundschaftliche Miteinander, das eine vollkommen neue Qualität gegenüber dem damals Gewesenen erreicht hat, sich fortsetze und vertiefe.“

Zwei Treffen sind noch besonders zu erwähnen: Regelmäßig begegneten sich die Verantwortlichen für die Jüdisch-christliche Zusammenarbeit beim Bund der Evangelischen Kirchen zum Erfahrungsaustausch unter Leitung von OKR Tschörner. Zu meiner besonderen Freude kamen jeweils im Januar die Vertreter der Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) aus Westberlin zu uns in das Büro von Aktion Sühnezeichen in die Auguststraße und gaben Anstoß zum gegenseitigen Lernen.

Schon bevor ich 1982 zum Superintendenten von Leipzig berufen wurde, hat hier Pfarrer Siegfried Theodor Arndt seit 1978 eine regelmäßige Arbeit mit der Israelitischen Religionsgemeinde aufgebaut. Der Höhepunkt war jeweils ein gemeinsamer Gottesdienst an die Reichspogromnacht am 9. November in der Thomaskirche, musikalisch ausgestaltet vom Synagogalchor. Mich hat es sehr bewegt, wie die beiden Männer sich gefunden haben: Arndt, der aus seiner braunen Vergangenheit umgekehrt ist, Pfarrer wurde und intensiv die Gesprächsbrücke sucht. Eugen Gollomb, Überlebender des KZ Auschwitz, aktiv in der polnischen Untergrundarmee, aufrecht in seiner Haltung auch gegenüber den DDR-Behörden. Weil er den Namen „Israelitische Religionsgemeinde – Leipzig“ verteidigte, wurde sie im offiziellen Amtsblatt der jüdischen Gemeinden nicht erwähnt. Regelmäßig fanden gemeinsam verantwortete Vorträge statt mit immer größerem Zulauf, da diese Thematik besondere Anziehungskraft besaß. Zum überraschend genehmigten Kirchentag 1979 war der Synagogengottesdienst völlig überfüllt und die Plätze der Reformierten Kirche reichten nicht aus zu dem anschließenden Informationsabend.

Gemeinsam haben wir diese Arbeit in den 80er Jahren fortgesetzt. Obwohl jedes Mal schwierige Verhandlungen erforderlich waren bei der Abteilung Kirchenfragen im Rathaus, um Einreiseerlaubnis für die Referenten zu bekommen und die Druckerlaubnis für die Programme, ist es uns gelungen Experten, aus Ost und West zu den Jahrestagungen und zur Vortragsreihe zu gewinnen. Neben Herrn Landesrabbiner Levinson aus Heidelberg oder Prof. von der Osten-Sacken aus Berlin, Edna Brocke aus Essen und Günter Bernd Ginzel aus Köln sprachen der Rektor des Rabbinerseminars aus Budapest Prof. Schweitzer, Dr. Martin Fuchs aus Warschau oder Dr. Seifert aus Budapest sowie Dr. Josef Bor, Prag, und Fachleute aus unserer Mitte Prof. Kurt Nowak und Prof. Siegfried Wagner aus Leipzig, Helmut Eschwege aus Dresden, Dr. Günter Baumbach aus Berlin.

Besonders dankbar bin ich, dass wir in diesen Jahren sehr intensiv im Arbeitskreis verbunden waren, sowohl im „Triumvirat“ Arndt, Hollitzer, Magirius als auch bei den monatlichen Zusammenkünften mit den Vertretern der Israelitischen Religionsgemeinde, der Kath. Kirche und Vertretern der Freikirchen. Nach dem Tod von Eugen Gollomb hat Aron Adlerstein kontinuierlich die Arbeit fortgesetzt. Ihm verdanken wir die Umbenennung von AG Kirche und Judentum in Jüdisch-christliche AG.

Ein besonderer Höhepunkt war das Jahr 1988, 50 Jahre nach der Pogromnacht. Der Ökumenische Arbeitskreis wollte einen Gedenkstein aufstellen am Partheufer, wo 1938 die vielen jüdischen Menschen aus der Stadt zur Deportation zusammengetrieben wurden. Die Behörden lehnten den Antrag ab und meinten, wir sollten solchen Stein in unseren Kirchen aufstellen. Doch plötzlich wendete sich die DDR Politik: Erich Honecker wollte in die USA reisen. Überraschend wurde uns gestattet, das Denkmal an der vorgesehenen Stelle zu errichten. Überwältigend war die Freude, dass zum ersten Mal ehemalige Leipziger Bürger aus Israel unsere Gäste sein konnten. Oberrabbiner Dr. Ödön Singer weihte den Stein, der bis heute alle Vorübergehenden auf dem Weg zum Zoo mit der Frage konfrontiert: „Wo ist Dein Bruder?

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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