„Wegen der paar Juden lohnt sich das nicht.“
Erfahrungen im christlich-jüdischen Gespräch in Dresden
von Siegfried Reimann

Die sogenannte „Stuttgarter Schulderklärung“ wurde dem Geschehenen nicht gerecht. Die Erklärung der Sächsischen Landessynode im Frühjahr 1948 ging in die notwendige Richtung, erzielte aber keine Breitenwirkung.

In Leipzig, wo ich von 1949 – 1954 studierte, wurde alljährlich in den fünfziger Jahren und später in der Pfingstwoche eine sogenannte „Missionswoche“ gehalten. Ein Tag dieser Woche galt dem Judenthema, aber unter dem Gesichtspunkt der Judenmission. Die gehaltenen Vorträge zogen fast ausschließlich ältere Zuhörer an.

In den sechziger Jahren berief die Sächsische Landeskirche einen Pfarrer als „Landesbeauftragten für Judenfragen“, sein Name war Fritz Schulz, Pfarrer in Dresden an der Petrikirche. Besondere Resonanz fand er nicht, aber er wurde für mich sehr wichtig, weil er im frühen Jahr 1964 ein Pastoralkolleg unter dem Thema „Juden – Christen – Deutsche“ initiierte. Von da an – ich war zunächst noch in Karl-Marx-Stadt tätig – engagierte ich mich für Gemeindevorträge zu diesem Thema und sammelte dabei eine Menge Erfahrungen, positive wie negative.

Seit Juni 1964 in Dresden amtierend blieb ich dem Thema treu, hatte aber vorrangig mit Kinder-, Jugend- und Familienarbeit zu tun.

Allerdings schockierte mich in den allerersten Tagen meines Dienstes in Dresden folgendes: Mir wurde vom Pfarramtsleiter die Akte eines Kirchensteuersäumigen in die Hand gedrückt, dessen ich mich annehmen sollte. Auf ihr stand außen in großen Buchstaben – quer geschrieben: „JUDE“. Ich protestierte deutlich, woraufhin mir die Akte wieder abgenommen wurde. Dabei erlebte ich, was mir erst sehr viel später klar geworden ist: ehemalige NSDAP-Mitglieder, die nach 1945 entlassen worden waren, hatten bei der Kirche Anstellung gefunden. Das galt für Lehrer als Katecheten, für Verwaltungsbeamte in der kirchlichen Verwaltung bis in die oberen Etagen und dort auch für Juristen im Landeskirchenamt. 1965 sprach mich ein juristischer Oberlandeskirchenrat nach meinem Vortrag zu o.g. Thema vor dem “mittleren“ Personal – Theologen nahmen daran nicht teil – in der Diskussion auf „die Juden“ an und verwies auf seine Erfahrungen als Anwalt, dass Juden meist mit unlauteren Mitteln ihren Besitz erworben hätten. Auf meine Gegenfrage, wie ehrlich denn arische Konzerne und Großunternehmer zu Besitz gekommen wären, verließ er sofort die Diskussionsrunde. Ein Bürodirektor meinte zum gleichen Thema: „Die Juden hätten doch aber eine andere Rassenseele als wir.“

In Vorbereitung des sächsischen Kirchentages im Lutherjahr 1983, der auch die Judenthematik aufnehmen sollte, wurde uns – Pfr. Siegfried Theodor Arndt und mir – durch den dafür zuständigen Referenten die Meinung des Bischofs dazu mitgeteilt: „Wegen der paar Juden lohnt sich das nicht.“ Pfr. Arndt reagierte empört und brachte den damaligen Synodalpräsidenten auf die Beine, der zwei Tage vor Heilig Abend bei mir zu einem zweistündigen Gespräch deswegen erschien. Er wandte sich an Präsident Aris, das brachte eine gewisse Besserung.

Im Herbst 1981 gründete eine kleine Gruppe von Menschen unterschiedlicher Konfessionen bzw. nichtkonfessioneller Menschen und einem Juden den „Dresdner Arbeitskreis Begegnung mit dem Judentum“. Am Nachmittag und Abend des 14.2.1982 trat er erstmalig an die Öffentlichkeit unter dem Thema: „2000 Jahre christlicher Antisemitismus“. Referent war Dr. Franz Sonntag – katholisch – aus Erfurt. Anschließend wurde ein Gedenkgottesdienst gehalten, denn am 14.2.1349 seien laut „Dresdner Chroniken“ die Dresdner Juden „auf dem Altmarkt zu Dresden verbrannt worden“. (Nach dem 14.2.1945 wurden auf dem Dresdner Altmarkt fast 7000 Bombenopfer öffentlich verbrannt.)

Bei der ersten Veranstaltung dieser Art und bei diesem Thema musste natürlich der Vorsitzende und damalige Präsident der Juden in der DDR, Helmut Aris, eingeladen werden. Er galt als ein nicht ganz einfacher Mann. Unsere Gruppe entschied, dass ich ihn besuchen und einladen sollte. Bis dahin hatte ich ihn noch nie gesprochen. Für mich gipfelte das Gespräch in seiner Frage an mich: „Ich soll in Ihre Kirche kommen. Wissen Sie, dass fast alle, die unsere Leute in Gaskammern und Krematorien warfen, Tauf- und Konfirmationsschein in der Tasche trugen?“ Mit hochrotem Kopf saß ich ihm gegenüber. Beschämt musste ich ihm recht geben.

Trotzdem blieb die Frage, ob er kommen würde. Er war ja auch Genosse. Und tatsächlich: an der dreistündigen Veranstaltung nahm er teil. Für uns und die eben begonnene Arbeit bedeutete dies einen großen Gewinn. Trotzdem blieb das Verhältnis zu ihm nicht ohne Überraschungen unterschiedlicher Art in den folgenden Jahren.

Von 1982 an hielten wir jährlich etwa 4 – 6 Vorträge ab. Ein Budget dafür hatten wir nicht, Spenden der Besucher – zwischen jeweils 200 - 600 Personen – ermöglichten uns die Finanzierung der Arbeit.

Als auffällig erwies sich die Zusammensetzung der Besucher. Die deutliche Mehrzahl stellte die Altersgrupe zwischen 20 – 35 Jahre, die kleinere Gruppe stellten die mehr als 60-Jährigen. Die Altersgruppe dazwischen fiel aus, weshalb ist unbekannt.

Berichte über unserer Arbeit in den Unterlagen der Staatssicherheit der DDR reichen vom Anfang 1982 bis 1984. Erst nach der Wende wurde deutlich, dass von da an ein Spitzel über unsere Arbeit berichtete,

Im November 1986 bat mich Präsident Aris, bei der alljährlichen Gedenkfeier zum Pogromgedenken zu sprechen. Das war sonst stets eine Angelegenheit von Partei und Staat gewesen und dementsprechend gestalteten sich der Inhalt der Veranstaltung und die Persönlichkeit des Redners – für mich und jeden anderen an dieser Stelle ein zweischneidiges Schwert. Unser guter Geist im Landeskirchenamt, Oberlandeskirchenrat Auerbach, riet mir zu, obwohl ich zur gleichen Zeit – es war ein Sonntag, und ich hatte Dienst – unsere Enkeltochter taufen sollte.

Nach meiner relativ kurzen Ansprache sagte einer der jungen Juden – auch ein Genosse: „Jetzt haben Sie das gesagt, worauf meine Mutter seit Jahren wartete.“ Es war ein Durchbruch.

Im Jahre 1988 – 50 Jahre nach dem Pogrom – kulminierten Aufgaben und Probleme. Wohl seit 1986 planten wir eine Gedenktafel an der Kreuzkirche  am Altmarkt, eine Ausstellung über „Leben und Leiden der Juden in Sachsen“, einen ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Kathedrale mit beiden Bischöfen und schließlich ein Symposium über „Antisemitismus in der DDR“, und zwar ganztägig mit dortigen Studenten und Dozenten, ein ganz besonders heißes Eisen. Alles fand im November 1988 wirklich statt, ein Konzentrat von Fallen und Problemen, die Stasi hatte viel Arbeit mit uns.

Nur eines greife ich heraus: Die Gedenktafel ist in Bronze gegossen. Der Superintendent wollte sie nur in der Kirche, was ich bzw. wir ablehnten. Beim zweiten Anlauf – Oberlandeskirchenrat Auerbach machte mir dazu Mut – trug ich ihm den Textentwurf vor, den er sofort ablehnte: „Das ist mir zu viel Schuld“. Was er stattdessen wollte: einen Text zur Geschichte der DDR-Juden, was ich ablehnte, weil es Sache der Juden selbst war. Seine Zustimmung machte er von zwei kirchlichen Gremien abhängig: vom Votum des Kirchenvorstandes und der Bezirkssynode. Beide stimmten zu. Sehr problematisch blieb die Beschaffung von Bronze in der DDR, da Material knapp war und der Guss nur in einem VEB-Betrieb durchgeführt werden konnte. Meine Bitte beim Referenten für Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes um Unterstützung hatte Erfolg. Am 6.11.1988 wurde die Tafel angebracht. Bezahlt wurde sie von Spendern der Freunde unserer Arbeit. Aber es gab auch Proteste von Gemeindegliedern dagegen.

Die Hamburger Johanneskirchgemeinde plante nach der Wende eine Kopie unserer Tafel. Aber ohne Rückfrage bei uns wurde der Text verändert. Gestrichen wurde: „In Scham und Trauer…“ Das wäre für uns im Osten gut, im Westen sei das längst bewältigt. Gestrichen wurde auch: „Wir erkannten in ihnen unsere Brüder und Schwestern nicht.“ Die Einladung des Johanneskirchgemeindepfarrers, zur Einweihung nach Hamburg zu kommen, lehnte ich ab mit der Bemerkung: „Das ist nicht unser Geist zur Sache.“

Zweimal erlebte ich bei Kreuzchorvespern in der Kreuzkirche jeweils vor dem Sonntag Judica, dass der Chor auf Lateinisch sang – der deutsche Text stand daneben. „…nachdem die Juden Jesus gekreuzigt hatten…“ Auch hier half mein Protest beim Superintendenten nichts. Beim zweiten Male hatte ich selbst die Ansprache zu halten, verwies auf den Text und wies auf seine Folgen hin, die uns der damalige Vorsitzende der Jüdischen Leipziger Gemeinde – er stammte aus Polen – Eugen Gollomb – berichtet hatte: in der Karwoche hagelte es Steine und Prügel gegen Juden durch Christen, wenn sie auf der Straße anzutreffen waren.

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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