Von der ‘Judensau’ zum ‘Saujuden’
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Bei der ‘Judensau’ handelt es sich um ein antijüdisches Schmähbild in der plastischen und graphischen Kunst Mitteleuropas. Die Darstellungen zeigen, wie Juden ekelerregende Handlungen an verschiedenen Körperteilen eines Schweins vornehmen. Die unmittelbar empfundene Anstößigkeit diffamiert sie als Säue. Im Mittelalter handelte es sich um Skulpturen an kirchlichen Gebäuden. In der Neuzeit kamen Profanbauten und Druckschriften hinzu. In der nationalsozialistischen Hetzrede vom ‘Saujuden’ kulminierten die jahrhundertealten Schmähungen zu ihrer mörderischen Wirkung. Heute sind in Deutschland und Österreich derartige Beschimpfungen strafbar.  (1) 

Mittelalterlicher Kampf zwischen Kirche und Synagoge
Die älteste erhaltene Darstellung einer ‘Judensau’ stammt aus der Zeit um 1230. Sie befindet sich in der Kathedrale zu Brandenburg. An einem Schwein mit Menschengesicht und Judenhut saugen fünf Ferkel. Insgesamt sind 48 Judensau-Motive bekannt.  (2)  30 befinden sich an Kirchen auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ihre Verbreitung konzentriert sich im deutschen Sprachraum.  (3)  Skulpturen mit Judensau-Motiv entstanden und verbreiteten sich seit der Zeit der Kreuzzüge. Die im 13. Jahrhundert aufkommende antijüdische Hetze und immer wieder aufflammende Pogromstimmung passen zu dem abstoßenden und diffamierenden Motiv.
Die ältesten Reliefs finden sich ausschließlich im Inneren von Kirchen, waren also Bildpredigt an Klerus und Gemeinde. Jüdische und christliche Theologen bekämpften sich gegenseitig im Bild der Sau.  (4)  Schon in der Antike übertrugen jüdische Bibelausleger  die Typologie des um den Segen konkurrierenden Bruderpaares Jakob und Esau auf das Verhältnis Israels zu Rom. Jakob galt als Gerechter, Esau war Sinnbild für Brutalität, Ausschweifung und Schlemmerei, kurz: eine Sau. Mit der Christianisierung des Römischen Reiches und seiner antijüdischen Gesetzgebung übertrugen die Rabbinen den Esau-Typos auf das Christentum. Doch schon der Kirchenvater Tertullian drehte die Typologie einfach um und erklärte die Juden zum älteren Bruder Esau und die Kirche zum wahren Israel. Zur Zeit der Kreuzzüge polemisierte Raschi  (5)  mit dem Esau-Motiv gegen die scheinheiligen Christen, die mordend, raubend und vergewaltigend als Säue durch die Lande zogen. Insoweit waren Judensäue in den Kirchenräumen des 13. Jahrhunderts einerseits Ausdruck des Konfliktes um die Erstlingsschaft als Bundesvolk. Andererseits erweiterte sich die theologische Polemik auf christlicher Seite zu antijüdischen Wahnvorstellungen (> Hostienfrevel) und erhielt eine mörderische Eigendynamik. Die jüdische Polemik dagegen hielt sich an wirklich Geschehenes.
Für Juden war die Gleichsetzung mit einem Schwein von vornherein besonders verletzend, weil die Treue zu Gebot, kein Schweinefleisch zu verzehren (3Mose 11,7f), als Bekenntnis galt.  (6)  Später galt auch das Wort ‘Schwein’ als unrein und wurde von manchen rabbinischen Weisen nicht in den Mund genommen.  (7) 
Die älteste graphische Wiedergabe des Judensau-Motivs ist ein Holztafeldruck um 1470.  (8)  Eine übergroße Sau wird von neun Juden umringt. Sieben, kenntlich an ihrem Judenhut,  (9)  machen sich an Maul, Euter, Schwanz und Anus obszön zu schaffen. Spruchbänder unterstreichen die Widerwärtigkeit ihrer Handlungen: „Saug, lieber Bruder, hart, so blase ich ihr in ihren Arsch.“ Zwei Rabbiner weisen auf das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch hin. Eine gemeine Sentenz unter dem Holzschnitt bindet beides zusammen: „Und dass wir nicht essen Schweinebraten, darum sind wir geil und stinkt uns der Atem.“

Reformation und Neuzeit
Die Judensau-Skulptur an der Wittenberger Stadtkirche spitzt das antijüdische Vorurteil theologisch zu. Das Relief trägt den Titel: Schem Hamphoras (hebr.: der unverstellte Name). Es bringt den jüdischen Namen Gottes mit dem Schwein in Verbindung, eine ungeheuerliche Unterstellung von Blasphemie, die Luther in seinen Schriften unterstreicht: „... dass die Juden, wenn sie Exegese treiben, den Säuen gleichen, die in die Schrift einbrechen.“ Zur Wittenberger ‘Judensau’ schreibt er: „Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor und mit seiner linken Hand zieht er den Bürzel über sich, bückt und guckt mit großem Fleiß der Sau unter den Bürzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbst haben sie gewisslich ihr Schem Hamphoras... das heißt: ‘Hier Dreck.’“  (10) 
Die mit der frühen Neuzeit einsetzende Anbringung von Judensau-Reliefs am Äußeren von Gebäuden dokumentiert die Judenhetze als öffentliche gesellschaftliche Norm.  (11)  Eine touristische Attraktion war die Frankfurter Judensau, ein Gemälde am Alten Brückenturm in Frankfurt a. M., entstanden um 1475.  (12)  Es zeigte einen Rabbiner rückwärts auf einer Sau reitend, an deren Zitzen und After junge Juden saugen. Eine auf einem teuflischen Ziegenbock reitende Jüdin und der Teufel selbst stehen dahinter. Darüber war der verstümmelte Leichnam des Simon von Trient zu sehen, der einem jüdischen >Ritualmord zum Opfer gefallen sein soll. Die Bildunterschrift lautete: „Saug die Milch, friß den Dreck, das ist doch euer best Geschleck.“ Die Verknüpfung mit einer Ritualmordlegende war besonders geeignet Pogromstimmung zu schüren.
Die Drucktechnik führte zu einer weiten Verbreitung von Judensau-Spottbildern in Flugschriften und Büchern. Die Verbindung von Juden, Sau und Teufel wurde in Bildern immer mehr aufs Körperliche übertragen. So zeigt ein Pamphlet von 1571 Juden mit Teufelskrallen und Schweinegesichtern, sie tragen einen gelben Fleck.
Im 19. Jahrhundert ist die Assoziation Juden = Schweine geläufig. Damals finden sich unter unzähligen Postkarten mit judenfeindlichen Motiven z.B. solche, die reiche, gut gekleidete und Zylinder tragende Juden mit Schweinsköpfen zeigen.  (13)  In der Öffentlichkeit war eine Geisteshaltung normal, die immer wieder zum Ausdruck brachte, dass die Juden wegen ihres schweinischen Charakters eher der Tierwelt als der Menschheitsfamilie zuzurechnen seien. So ist die Diffamierung der Juden durch das Judensau-Motiv auch als Wegbereitung für die mörderischen Energien zu verstehen, die sich im nationalsozialistischen Völkermord an den Juden freisetzten.

Im Schatten von Auschwitz
In den 20er Jahren ging das deutsch-nationale Stammtischlied um: „... knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau.“ In der Ausgabe des nationalsozialistischen ‘Stürmer’ von April 1934 symbolisiert eine Judensau die angebliche jüdische Medienmacht. Die von einer Mistgabel durchbohrte Sau trägt die Aufschrift ‘Juden-Literatur-Verlage.’ Die Unterzeile lautet: „Wenn die Sau tot, müssen auch die Ferkel verrecken.“ Als am Tropf der Verlage hängende Ferkel sind u.a. dargestellt: Albert Einstein, Magnus Hirschfeld, Alfred Kerr, Thomas Mann, Erich Maria Remarque.
Obwohl ‘Judensau’ und ‘Saujude’ heute als Beleidigung gelten, sind solche Beschimpfungen etwa auf Fußballplätzen gegen israelische Sportler zu hören. Neonazistische Aktionen bedienen sich bis in die jüngste Zeit des Judensau-Motivs. Zu Hitlers Geburtstag (20.4.1992) und nach dem Tod von Heinz Galinski (20.7.1992) warfen Neonazis eine Schweinekopfhälfte auf das Gelände der Erfurter Synagoge. Auf einem Zettel stand: „Dieses Schwein Galinski ist endlich tot. Noch mehr Juden müssen es sein.“ Im Oktober 1998 trieben Neonazis ein Schwein mit aufgemaltem Davidstern und dem Namen von Ignatz Bubis über den Alexanderplatz in Berlin.  (14)
Heute sind die erhaltenen Judensau-Reliefs großenteils mit Mahntafeln versehen. An der Bayreuther Stadtkirche brachte die evangelische Kirche 2005 eine Tafel mit der Inschrift an: „Unkenntlich geworden ist das steinerne Zeugnis des Judenhasses an diesem Pfeiler. Für immer vergangen sei alle Feindseligkeit gegen das Judentum.“

    1. StGB § 185, wegen Volksverhetzung nach StGB § 130.
    2. Vollständiges Verzeichnis s. ‘Judensau’-Darstellungen in der plastischen Kunst Bayerns, Begegnungen, Zeitschrift für Kirche und Judentum, Sonderheft, März 2007, S. 3. Eine unvollständige Aufzählung s. „Judensau“ bei Wikipedia.
    3. Ausnahmen in Chartres, Evora (Portugal), Posen. Ein englisches Wort für Judensau gibt es nicht. Der englische Autor I. Shachar spricht von einem speziell deutschen Motiv. S. ders., The Judensau, A Medieval Anti-Jewish Motif and its History, London 1974.
    4. Für das Folgende s. D. Krochmalnik, Im Garten der Schrift, Augsburg 2006, S. 40-43.
    5. Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105), bedeutender jüdischer Bibel- und Talmudkommentator.
    6. Der Seleukidenherrscher Antiochus Epiphanes (175-164 a. C.) wollte die Juden in seinem Reich zwangsweise hellenisieren. Er befahl ihnen per Erlass, Schweine zu opfern (1Makk 1,47). Es wird erzählt, dass die Seleukiden den greisen Schriftgelehrten Eleazar zwingen wollten, Schweinefleisch zu essen oder wenigstens so zu tun. Er weigerte sich und starb als Märtyrer (2Makk 6,18-31; 7,1f). In jener Zeit wurde das Schwein für Juden zum Objekt besonderer Abscheu.
    7. Der Verzehr eines Schinkenbrötchens wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Abkehr vom jüdischen Glauben angesehen. (Begegnungen, S. 3).
    8. Ausgestellt im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.
    9. Gelber Judenhut und gelber Fleck wurden mit dem Laterankonzil von 1215 obligatorisch und letzterer von den Nazis wieder aufgegriffen.
    10. M. Luther, Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, 1543, WA 53.600,7-601,13.
    11. Das älteste öffentliche Judensau-Relief stammt aus dem 15. Jahrhundert und befindet sich am Salzburger Rathaus.
    12. 1801 wurde der Brückenturm abgerissen.
    13. Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten, Heidelberg 1999, S. 218. Eine andere Postkarte kommentiert ihr Bild mit Juden als Tieren: „Löw, Bär, HiVorsitzender der jüdischen Gemeinde Berlins und 1954-1963 sowie 1988-1992 Präsident rsch und Cohnsorten in Karlsbad,“ Poststempel von 1903, a.a.O.
    14. Galinski war 1949-1992 1. Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Berlin und 1949-1963 sowie 1988-1992 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Sein Nachfolger Bubis hatte dieses Amt 1992-1999 inne.

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