Glaube – eine Grundlage des Judentums?
von Daniel Neumann

Wenn man als Jude seinem nichtjüdischen Gegenüber die eigene Religionszugehörigkeit offenbart, dann folgt häufig ein erstauntes „Ach tatsächlich?“, oftmals gefolgt von der Frage, ob man denn auch ein gläubiger Jude sei.
Und während das erste Erstaunen meist daher rührt, dass das durch Zeitung, Fernsehen und die eigenen Vorurteile verzerrte Bild eines in Westeuropa lebenden Juden recht wenig mit der Realität gemein hat, beweist die anschließende Frage, so simpel sie auch zu sein scheint, eine grundlegende Unkenntnis über die Unterschiede von Judentum und Christentum. Folgt auf diese Frage von jüdischer Seite nun der Versuch, seinen eigenen Glauben qualitativ oder anhand einer Art religiöser Richterskala zu messen und daraus seine eigene Frömmigkeit abzuleiten, so ist dies nicht selten ein Impuls, der dem selben Missverständnis und der Sozialisation in einem christlich geprägten Umfeld geschuldet ist.

Denn Christentum und Judentum unterscheiden sich gerade in der Frage des Glaubens und dessen unbedingter Notwendigkeit für das Selbstverständnis der jeweiligen Religion ganz erheblich voneinander: Für das Christentum ist der Glaube das grundlegende Element. Es ist der feste Glaube an die Trinität, an den Vater den Sohn und den heiligen Geist, der das Fundament christlicher Überzeugung ausmacht. Es ist der Glaube an Jesus, der die von Geburt an unvollkommenen und mit der Erbsünde belasteten Menschen von ihren Sünden befreit und ihnen den Weg in G“ttes Himmelsreich öffnet. Er ist nach christlicher Vorstellung der Erlöser, der die Sünden der Menschheit aufgenommen hat und den Opfertod gestorben ist. Wer glaubt, der wird gerettet. Wer glaubt, dem steht der Weg in den Himmel und zu G“ttes Gegenwart offen.

Dem Judentum dagegen ist eine solche Vorstellung vollkommen fremd. Neben der Ablehnung der Ideen der Dreifaltigkeit und von Jesus als G“ttes Sohn, die mit dem monotheistischen Prinzip auch gar nicht in Einklang zu bringen sind, betrachtet das Judentum den Gedanken einer Erbsünde als abwegig. Der frühere Offenbacher Rabbiner Max Dienemann schrieb dazu im Jahr 1919 in seinem Buch über die Unterschiede von Judentum und Christentum: „Das Judentum lehrt, dass die Seele des Menschen von Geburt an rein und sündlos ist, dass der Mensch von Natur aus mit der Fähigkeit begabt ist, das Gute zu tun und sittlich zu handeln aus eigener Kraft.
Das Christentum lehrt, dass der Mensch von Geburt an mit Sünde behaftet ist, dass seine eigene Kraft nicht ausreicht, das Gute zu tun, dass Sünde und Schuld die herrschende Macht im menschlichen Leben ist.“

Entscheidend ist allerdings ein anderer Aspekt, der in diesen Gedanken anklingt: Das Judentum nimmt vorrangig die Tat als solche in den Fokus und nicht den Glauben. G“tt hat dem jüdischen Volk am Berg Sinai sein Gesetz offenbart. Die Torah, die 613 Mitzvot, also Ge- und Verbote, enthält. Mit der Annahme der Torah und der Besiegelung des g“ttlichen Bundes hat sich das jüdische Volk zur Einhaltung dieser Vorschriften verpflichtet. Sie werden seit Jahrtausenden unverändert überliefert, wurden in unterschiedlichen Kompendien zusammengefasst und durch unsere Weisen immer wieder kommentiert. Sie sind es, die das Gesicht des Judentums prägen. Sie sind der Rahmen, in dem sich fromme Juden bewegen und sie sind es, die nahezu jeden Lebensbereich bis ins letzte Detail regeln. In ihnen sind die ethischen und moralischen Grundlagen enthalten, die unsere gesamte westliche Zivilisation und deren Gerechtigkeitsvorstellung geprägt haben.

Nun ist es keineswegs so, dass alle Strömungen im Judentum diese 613 Mitzvot auch tatsächlich als bindend ansehen, ganz abgesehen davon, dass sich ein Teil der Vorschriften auf den Dienst im Tempel von Jerusalem bezieht, der ja bekanntermaßen im Jahr 70 unserer Zeitrechnung von den Römern zerstört wurde, womit auch die damit in Zusammenhang stehenden Gebote eigentlich keine Bedeutung mehr haben. Zumindest solange nicht, wie der Tempel nicht wieder aufgebaut wird.
Vielmehr gibt es unterschiedliche religiöse Strömungen, die die Verbindlichkeit der Gebote wegen ihres unterschiedlichen Selbstverständnisses auch unterschiedlich bewerten.
Die beiden wesentlichen Richtungen im Judentum sind die Orthodoxie und das liberale Judentum.

Die Orthodoxie betrachtet die am Berg Sinai empfangene Torah samt der Mitzvot als unmittelbar von G“tt offenbart und betont den g“ttlichen Ursprung der gesamten jüdischen Lehre.
Das bedeutet, dass diese Vorschriften auch allesamt eingehalten werden müssen. Kein Ge- oder Verbot steht zur Disposition des Einzelnen, der je nach persönlichem Gusto über die Gültigkeit oder die Einhaltung der Gebote befinden könnte. Oder der die im Wandel der Zeit unpassend erscheinenden Vorschriften einfach gänzlich streicht. Zwar sind seit der Übergabe der Torah unsere Weisen damit beschäftigt, die Gesetze zu interpretieren, auszulegen und auch gelegentlich
moderate Anpassungen vorzunehmen, die die Fortentwicklung von Umwelt und Gesellschaft nicht völlig aus dem Blick lassen. Dabei dürfen die Mitzvot jedoch weder in ihrer Zahl noch in ihrem Kerngehalt verändert werden.

Das liberale Judentum hingegen meint, dass die Torah zwar g“ttlich inspiriert, letztlich jedoch von Menschenhand zusammengestellt und niedergeschrieben worden sei. Die Ge- und Verbote seien damit nicht ausschließlich g“ttlichen Ursprungs und deshalb auch nicht unveränderbar. Weder in ihrer Gesamtheit noch in ihrem Sinngehalt. Und obgleich den Ethik- und Moralvorstellungen ein großes Gewicht und eine weitgehende Verbindlichkeit zugemessen werden, findet im liberalen Judentum -zumindest im Idealfall- eine andauernde Auseinandersetzung mit der Frage statt, welche Vorschriften ihrem vermeintlichen Sinn nach noch Gültigkeit haben, welche Gesetze einen fortdauernden Wert für den Menschen haben und welche Gebote im Laufe von tausenden von Jahren noch zeitgemäß erscheinen. In letzter Konsequenz ist es also eine individuelle Auseinandersetzung mit den Mitzvot und der Frage, welche Vorschriften ein jeder als
verpflichtend betrachtet und welche eben nicht.

Einig sind die unterschiedlichen Richtungen allerdings in ihrem Grundverständnis über die Notwendigkeit der Einhaltung von Geboten und dem Verhältnis von Tat und Glauben.

Im Judentum hat derjenige einen Anteil an der kommenden Welt, der die Ge- und Verbote hält. Derjenige, der gute Taten vollbringt. Der entsprechend dem jüdischen Moralkodex lebt und die mitmenschliche Ethik praktiziert. Der sich durch seine Handlungen G“tt nähert und ein positives Beispiel für alle Völker setzt. Denn das ist es, weswegen das Jüdische Volk auf Erden weilt. Es soll ein Vorbild für alle Menschen sein,  ein Licht unter den Nationen.

Und wie sieht die Realität aus? Halten alle Juden die Vorschriften? Ob nun nach orthodoxem
oder liberalem Verständnis?
Schön wär’s! Ein Jude ist so unvollkommen, wie jeder andere Mensch. Er hat die gleichen Laster und trägt wie jeder andere Mensch die Anlage in sich Gutes oder Schlechtes zu tun. Und er besitzt - wie alle anderen - die größte aller Gaben: Einen freien Willen, der die Wahl der guten Tat und die Befolgung der Gebote so wertvoll macht.

Worauf er auf seinem Weg allerdings jederzeit zugreifen kann, ist die Torah, die ihm ein g“ttliches Koordinatensystem und einen Pfad durch die Unwägbarkeiten des Lebens bietet. Ein ethisch-moralisches Gerüst, an dem er sich orientieren kann. Eine Gesetzessammlung und einen Verhaltenskodex, die in jeder nur denkbaren Situation einen Weg weisen und Halt bieten.

Heißt das denn nun, dass das Judentum auch unabhängig vom Glauben existieren kann? Genügt die ausschließliche Einhaltung von Verhaltensnormen und Geboten, um den g“ttlichen Willen zu erfüllen? Natürlich nicht! Denn schon das 1. der 10 Gebote macht deutlich, dass der Glaube eine unabdingbare Voraussetzung für das Judentum darstellt: „Ich bin der ewige, dein G“tt, der Dich aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat.“.
Rabbi Ibn Ezra, einer der bedeutendsten Torah-Kommentatoren, wies vor gut 900 Jahren mit Blick auf dieses Gebot darauf hin, dass ein Gebot ohne Gebieter schon gar nicht denkbar ist.
Der Glaube an den einen und einzigen G“tt ist die Gewähr für die Einhaltung der Mitzvot. Er ist nicht die alleinige Botschaft, sondern das Mittel zum Zweck. Das Ziel hingegen ist, ein Leben in Heiligkeit zu führen, als Vorbild für alle Menschen, für das der Glaube eine notwendige Vorbedingung ist. 
Nach Rabbiner Dienemann ist der Glaube auch im Judentum die selbstverständliche Voraussetzung der Frömmigkeit, aber nie selbst Frömmigkeit. Und Rabbiner Ibn Ezra macht mit Blick auf die 10 Gebote darauf aufmerksam, dass, wenn man von der Zahl 10 die 1 wegnimmt, nur die 0 übrig bleibt. Ohne das 1. Gebot verlieren die übrigen Gebote ihre Grundlage oder mit anderen Worten: Der Glaube selbst ist nicht alles, aber ohne Glauben ist alles nichts.

Und wie lautet nun die Antwort auf die Frage, ob man denn ein gläubiger Jude sei?
Die muss jeder selber finden. Aber eines ist sicher: So einfach es für einen Christen ist, eine solche Frage zu beantworten, so schwierig ist es für einen Juden.

Aber wer hat schon gesagt, dass es einfach ist, ein Jude zu sein?

Aus der Jüdischen Welt, HR2, September 2011

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