Das Bilderverbot im Judentum
von Micha Brumlik

Das Verbot bildlicher Gottesdarstellungen war ein zentraler Grundsatz des im 5./6. Jahrhundert v. d. Z. im babylonischen Exil kodifizierten jüdischen Monotheismus, der sich vor anderen Religionen dadurch ausgezeichnet sah, dass er in seinem Tempel kein Abbild des einzigen Gottes Jahwe duldete. Während das spätantike rabbinische Judentum am biblischen Verbot der Gottesdarstellung festhielt, wich die christliche Religion mit ihrem trinitarischen Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, dem Sohn Gottes, der Mensch geworden war, und den entsprechenden bildlichen Darstellungen davon ab (und forderte damit den Islam zu einem noch strikteren Verbot bildlicher Darstellungen nicht nur Gottes, sondern auch seines Propheten heraus). Das Bilderverbot wurde von den modernen deutsch-jüdischen Religionsphilosophen vielfach aufgegriffen und ist ein getreuer Indikator ihres jüdischen Selbstverständnisses. Vor allem im 20. Jahrhundert hatte es zudem in der Ästhetik eine wesentliche Bedeutung.

1. Einführung
Seit Moses Mendelssohn wurde das Bilderverbot von zahlreichen modernen jüdischen Philosophen thematisiert. Dabei sind Denker wie Salomon Maimon, Salomon Ludwig Steinheim, Hermann Cohen und Franz Rosenzweig eher Immanuel Kant als Mendelssohn verpflichtet. Der in seiner Religionsphilosophie durchaus antijüdische Kant erklärte das Bilderverbot in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) zum Inbegriff des Erhabenen, also dessen, was über allen Vergleich groß ist: »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis, weder dessen was im Himmel noch auf der Erden noch unter der Erden ist usw. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit anderen Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt. Eben dasselbe gilt auch von der Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns« [6. 147]. Mendelssohn (Bi ur) verweist in Jerusalem (1782) in aufklärerischer Absicht darauf, dass die Verbildlichung moralischer Begriffe eine Irreführung der Vernunft darstelle. Salomon Ludwig Steinheim polemisiert in Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge (3. Teil, 1863) gegen die »Idololatrie« (Idolatrie), die ihm als Inbegriff gegenaufklärerischen, mythischen Denkens gilt, während der »Abscheu vor dem Bilderdienste« bei den Juden eine hohe geistig-sittliche Bedeutung zukomme, die von Kant hinreichend gewürdigt worden sei [10. 212]. Salomon Maimon argumentiert in seiner Lebensgeschichte (1792), als Philosoph, der der Vernunft verpflichtet ist, deshalb nicht Christ werden zu können, weil das Christentum eine Religion der »allegorischen Vorstellungen der für den Menschen wichtigsten Wahrheiten« sei [8. 170]. Für Hermann Cohen ( Gottesidee) bewährt sich der jüdische Monotheismus in seinem Gegensatz gegen jedes Bild; er lehrt, »dass Gott schlechterdings kein Gegenstand sei, der nach Anleitung eines Bildes gedacht werden könnte. Und es ist die Probe des wahren Gottes, dass es kein Bild von ihm geben kann« [4. 86, 90]. In Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) stellt der christliche Glaube mit seinem Beharren auf einem menschlichen Bild Gottes einen Rest ungläubigen Heidentums dar, in dessen Götzenbildern »das Leben der göttlichen Liebe zur taub-blinden Tatund Sprachlosigkeit [erstarrt]« [9. 388, 280]. Leo Baeck fasst das Bilderverbot in Das Wesen des Judentums (1921) als den Inbegriff einer nüchternen Ablehnung aller ausschweifenden Jenseitsphantasien: Es wurde ihm zufolge zunächst als ein Verbot verstanden, »daß die Bilder vom Totenreiche, die Gestalten aus der Unterund Überwelt in Israels Gedankenleben einträten«; nach der Überwindung des Götzendienstes konnte dann »von dem ewigen Leben freier und bestimmter gesprochen werden« [2. 203 f.].

Die philosophischen Argumentationen folgen einem modernen, in den deutschsprachigen Ländern entstandenen religiösen jüdischen Selbstverständnis und einer liturgischen Praxis, denen zufolge der Glaube im Unterschied zum Christentum als »ethischer Monotheismus« in der Nachfolge Kants zu begründen ist – ein Selbstverständnis, in dem sich bei allen sonstigen Differenzen das Reformjudentum ( Reform) mit der Neo-Orthodoxie einig war.

2. Der Hintergrund der hebräischen Bibel

Die klassische Formulierung des Verbots der bildlichen Darstellung Gottes findet sich in den Zehn Geboten: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen« (Ex 20,2–5; beinahe wortgleich in Dtn 5,8). Eine weitere Formulierung mit präzisierenden Details findet sich in Deuteronomium, wo es heißt: »Lauft nicht in euer Verderben, und macht euch kein Gottesbildnis, das irgendetwas darstellt, keine Statue, kein Abbild eines männlichen oder weiblichen Wesens, kein Abbild irgendeines Tiers, das auf der Erde lebt, kein Abbild irgendeines gefiederten Vogels, der am Himmel fliegt, kein Abbild irgendeines Tiers, das am Boden kriecht, und kein Abbild irgendeines Meerestieres im Wasser unter der Erde. Wenn du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Himmelsheer siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann lass dich nicht verführen! Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen« (Dtn 4,16–19).

Vermutlich steht dieses Bilderverbot am Ende einer Geschichte, in der um die Zulässigkeit von Bildern des einzigen Gottes Israels in seinem Tempel gerungen wurde [22]; die Erzählungen um das Goldene Kalb in Ex 32 sind demnach weniger eine Polemik gegen eine Vergottung des Reichtums denn der Niederschlag einer Debatte, ob im von den Assyrern im 8. Jahrhundert zerstörten Nordreich Israel, im Tempel zu Samaria, der Gott Israels in Stierform verehrt werden durfte. Den Schriften des Exilpropheten Ezechiel lässt sich entnehmen, dass auch im Tempel Jahwes im Südreich Juda Bilder standen und verehrt wurden: »Ich ging hinein«, lässt Ezechiel aus einer ekstatischen Vision wissen, »und sah: viele Bilder von abscheulichen kleinen und großen Tieren und allen Götzen des Hauses Israel; sie waren ringsum in die Wand eingeritzt« (Ez 8,10).

Es war wahrscheinlich der letzte vorexilische König des um Jerusalem zentrierten Südreichs Juda, Joschija, der im Bund mit den Propheten erstens auf einer Zentralisierung des Kults in Jerusalem bestand, zweitens unnachsichtig jeglichen Polytheismus und seine Ausdrucksformen in Bildern verfolgte und drittens die jüdische Religion als Buchreligion neu begründete (was allerdings erst im babylonischen Exil vollendet wurde). Diese Ereignisse werden in den historisch vergleichsweise zuverlässigen Passagen in 2 Kön 23–24 sowie ausführlich in 2 Chr geschildert:

»Im achten Jahr seiner Regierung, als er noch jung war, begann er, den Gott seines Vaters David zu suchen. Im zwölften Jahr fing er an, Juda und Jerusalem von den Kulthöhen, den Kultpfählen, den Schnitzund Gußbildern zu reinigen. Vor seinen Augen riss man die Altäre der Baale nieder. Er ließ die Rauchopferaltäre, die auf ihnen standen, zerschlagen, die Kultpfähle zerstören, die Schnitzund Gussbilder zermalmen, ihren Staub auf die Gräber derer streuen, die ihnen geopfert hatten, und Gebeine von Priestern auf ihren Altären verbrennen. So reinigte er Juda und Jerusalem. Auch in den Städten von Manasse, Efraim, Simeon bis nach Naftali riss er überall auf ihren Plätzen die Altäre nieder, zerstörte ihre Kultpfähle, zermalmte die Götzenbilder und zertrümmerte die Rauchopferaltäre im ganzen Land Israel. Dann kehrte er nach Jerusalem zurück« (2 Chr 34,3–7).

Im Bilderverbot der hebräischen Bibel fließen existentielle Erfahrungen, theologische Erkenntnisse und politische Interessen zusammen: Die Erfahrung eines übermächtigen, gnädigen und befreienden Gottes, der sein Angesicht lebenden Menschen nicht zeigt (Ex 33,20), sondern sich allenfalls in Naturgewalten äußert, findet ihre rationale Fassung in der Einsicht, dass sich ein solch übermächtiger Gott allen menschlichen Versuchen entzieht, ihn begrifflich oder bildlich zu fassen. In Ex 3,14 offenbart Gott sich mit dem Namen »Ich bin, der ich bin«. Das Bilderverbot erweist sich damit als theologische Folge und liturgische Konsequenz aus der Anerkennung der Einzigkeit und damit auch Einzigartigkeit Gottes.

Die Exilierung der judäischen Oberschicht am Ende des 6. Jahrhunderts nach Babylon, wo sie keinen eigenen Tempel mehr zur Verfügung hatte, verfestigte die Abkehr von jedem Bilderdienst. In Babylon wurden die exilierten Judäer mit der Astronomie bekannt, die ihnen zeigte, dass die Gestirne berechenbar waren und damit nicht göttlicher Natur sein konnten. Diese Einsicht schlug sich im dort entstandenen biblischen Schöpfungsbericht nieder, in dem ein gestaltloser Schöpfer die ehemals als göttlich verehrten Gestirne aus dem Nichts erschafft. Mit der Abkehr vom Blick auf den Himmel fällt der Blick auf die Weisungen, die als Schrift vorliegen; Erkenntnis und Verehrung Gottes konzentrieren sich auf die schriftliche Fixierung seiner Weisung und der Erzählungen seiner befreienden Kraft. Man geht kaum zu weit darin, hierin einen starken Impuls in der Entwicklung jüdischer Textgelehrsamkeit zu vermuten.

3. Neues Testament und spätantikes Judentum

Auch die hellenistischen Juden wichen zu keiner Zeit von der Überzeugung ab, dass es unwürdig sei, sich vor selbst geschaffenen Bildern niederzuwerfen, was in Leben und Briefen des Apostels Paulus bezeugt ist. Paulus versuchte skeptische bis agnostische Griechen für den Messias Jesus zu gewinnen und predigte in diesem Kontext gegen den Götzendienst: »Da wir also von Gottes Art sind, dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung« (Apg 17,29). In seinem Brief an die römische Gemeinde verspottet er Menschen, die Gott, den ewigen, allmächtigen Gott, in dinglichen Bildern verehrten und sich deshalb auch noch für weise hielten. Womöglich spielt Paulus damit auf bestimmte platonische Schulen an, denen zwar aufgrund ihrer philosophischen Überlegungen klar war, dass das ewige, göttliche Prinzip durch keine endliche Darstellung zu erreichen war, die aber gleichwohl in Befürwortung der Volksreligion die Verehrung von Bildern als Hinführung zu einem Symbol des Göttlichen akzeptierten. »Sie behaupteten, weise zu sein«, predigt Paulus, »und wurden zu Toren. Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die einen vergänglichen Menschen und fliegende, vierfüßige und kriechende Tiere darstellen« (Rö 1,22 f.) – ein Zitat, das unmittelbar auf die entsprechenden Passagen in Exodus und Deuteronomium verweist.

Auch in den Evangelien, die in diesem Zusammenhang als »Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte« – so der Titel von Leo Baecks Schrift aus dem Jahr 1938 – angesehen werden können, ist die Anbetung des womöglich sogar als Erscheinung Gottes verstandenen Jesus nicht denkbar. Selbst im Johannesevangelium, das noch am ehesten von allen Evangelien die Göttlichkeit Jesu unterstellt, ist völlig unbezweifelbar, dass Gott, der Geist ist, nur im Geist und in der Wahrheit anzubeten ist (Joh 4,24). Gleichwohl ging das Christentum später einen anderen Weg, der nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet war, das Bilderverbot systematisch aufzuheben. Auch das antike und spätantike Judentum hielt sich keineswegs strikt an das Bilderverbot der hebräischen Bibel ( Tanach). Wenn überhaupt, so verbot es die Abbildung Gottes, ansonsten folgte es der allgemeinen Bilderfreude der damaligen Welt. Das Bilderverbot war also im rabbinischen Judentum keineswegs von Anfang an zentral; diesen Stellenwert erhielt es erst infolge der theologischen Konfrontation mit dem bildergläubigen Christentum und dem radikal ikonoklastischen Islam seit dem 7. Jahrhundert.

4. Reformatorische Positionen

Nach intensiven Auseinandersetzungen im 8. Jahrhundert, die ihren Höhepunkt in der eigens für die Behandlung dieses Problems einberufenen Synode im Jahr 754 in Hiereia fanden [19], brach der Bilderstreit im westlichen Christentum erst 800 Jahre später mit der Reformation wieder aus. Hier kam es nicht nur zur Zerstörung katholischer Kunstwerke durch aufgebrachte Volksmassen, sondern auch zu wesentlichen Differenzen zwischen der Anhängerschaft Calvins und den Lutheranern. Für Johannes Calvin (1509–1564) ist der Wunsch, Gott in und an Bildern zu verehren, nichts anderes als der Ausdruck einer götzendienerischen Haltung: »Der Ursprung des Götzendienstes besteht, wie das Beispiel der Israeliten zeigt (Ex 23,1 ff.) darin, daß der Mensch nicht glaubt, Gott werde ihm zur Seite stehen, wenn er sich nicht leiblich als gegenwärtig darstellt. [. . .] Sie [. . .] glaubten nicht, er sei ihnen nahe, wenn sie nicht mit eigenen Augen ein körperliches Merkzeichen seines Angesichts sähen, das ihnen die Leitung durch Gott verbürgte. [. . .] Auch die alltägliche Erfahrung bezeugt, daß das Fleisch stets unruhig ist, bis es ein Gebild seinesgleichen erhascht hat, dessen es sich als eines Bildes Gottes töricht getrösten könne. Um diesem blinden Gelüste zu frönen, haben die Menschen zu allen Zeiten fast seit der Erschaffung der Welt Zeichen errichtet, in welchen sie Gott vor ihren fleischlichen Augen zu schauen wähnten!« [3. 45].

Dementsprechend stellen sich die reformierten Kirchen bis heute als leere Tempel des zu verkündenden Wortes dar, in denen als Symbol allenfalls ein Kreuz, auf keinen Fall aber ein Kruzifix ausgestellt ist. Eine differenziertere Haltung nimmt Martin Luther ein, der keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Bildern der menschlichen Einbildungskraft und gemalten oder gezeichneten Bildern sieht. Luther nimmt das Faktum der menschlichen Einbildungskraft ernst, die von Natur aus Begriffe und Vorstellungen verbildlicht und Abbilder der Welt hervorbringt. Im Unterschied zu Calvin, der in der Sehnsucht nach Bildern einen Mangel an Glaubensfestigkeit erkennt, akzeptiert Luther dieses Bedürfnis als Ausdruck der Geschöpflichkeit des Menschen: »So weiß ich auch gewiß, daß Gott will haben, man solle seine Werk hören und lesen, sonderlich das Leiden Christi. Soll ichs aber hören oder gedenken, so ists mir unmöglich, daß ich nicht in meinem Herzen sollt Bilder davon machen. Denn ich wolle oder wolle nicht, wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen ein Mannsbild, das am Kreuze hänget; gleich als sich mein Antlitz natürlich entwirft ins Wasser, wenn ich drein sehe. Ists nun nicht Sünde, sondern gut, daß ich Christi Bild im Herzen habe; warum sollts Sünde sein, wenn ichs in Augen habe« [7. 88].

5. Moderne Kunst und Kritische Theorie

Mit der Differenz von Calvin und Luther, von Reformierten und Lutheranern ist die christliche Grundsatzdebatte über das Bilderverbot im 16. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen. Sie kehrt ab dem späten 19. Jahrhundert auf dem veränderten Terrain der Kunst und der philosophischen Ästhetik wieder, die darin sowohl an Kants Kritik der Urteilskraft als auch an Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen anschließt; die ästhetischen Fragen des Bilderverbots gewinnen dabei eine genuin gesellschaftstheoretische Dimension. Vor dem Hintergrund der reformatorischen Debatte wird hier infrage gestellt, ob es Gedanken, Ideen und Begriffe gibt, die alle Bildlichkeit übersteigen und daher einer ›realistischen‹ Form gar nicht zugänglich sein können. In dieser Hinsicht lässt sich die moderne Ästhetik als säkularisierte Form des theologischen Diskurses beschreiben, der die Begriffe für ästhetische Erfahrungen und Ausdrucksformen bereits geprägt hatte, bevor diese selbst in Erscheinung traten. Nicht zuletzt suchten avantgardistische Künstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Antwort auf die Frage, wie die Darstellbarkeit des Nichtdarstellbaren bzw. die Nichtdarstellbarkeit des Darstellbaren Form gewinnen könne. So dachte Richard Wagner gelegentlich über ein nicht nur unsichtbares, sondern auch unhörbares Orchester nach [11. 181]. Die Begründer der abstrakten Malerei, etwa Kasimir Malewitsch mit seinen suprematistischen Gemälden oder der figürliche Surrealismus von René Magritte, versuchten diesem ästhetischen Grundparadox der Moderne ebenso gerecht zu werden und ihm Ausdruck zu geben wie Arnold Schönberg in der Musik oder JeanLuc Godard im Film. Es waren vor allem ästhetische Konzeptionen wie diejenige Arnold Schönbergs (Moses und Aaron, geschrieben 1930–1932, Uraufführung 1954), durch die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sich in Dialektik der Aufklärung zu einer gesellschaftstheoretisch begründeten Fassung des Bilderverbots motiviert sahen. Für sie steht das Bilderverbot in politischer Hinsicht gegen einen totalitären Verwirklichungswahn, wie ihn die stalinistische Sowjetunion an den Tag gelegt hatte, in ästhetischer Hinsicht für ein angemessenes Verständnis moderner Kunst und in sozialpsychologischer Hinsicht für eine Erklärung des Antisemitismus als projektiver Angst vor dem Abstrakten. In Dialektik der Aufklärung deuten Horkheimer und Adorno das Bilderverbot als das »Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns. [. . .] Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots« [5. 40]. Jenes Recht des Bilds (und damit der Kunst), so Adorno, besteht darin, dass das Kunstwerk als enigmatischer Zeuge die gesellschaftliche Unwahrheit zur Darstellung bringt und »in der Chiffernschrift des Leidens« [1. 731] zur Veränderung aufruft. In jüngeren Debatten an der hier erkennbaren Schnittstelle von Ästhetik und Gesellschaft ging es immer wieder um die Frage, wie – wenn überhaupt – der Holocaust und seine Schrecken abgebildet werden können. Diese Frage entzündete sich etwa an der Diskussion um Claude Lanzmanns Film Shoah [18. 143–169], um Steven Spielbergs Schindlers Liste oder um die Bewertung seltener, verblichener Fotos aus den Vernichtungslagern selbst [14].

 

[1] T. W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. 18: Musikalische Schriften V, Frankfurt a. M. 1997, 729–777.
[2] L. Baeck, Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 61995.
[3] J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, Neukirchen-Vluyn 51988.
[4] H. Cohen, Religion der Vernunft aus den  Quellen des Judentums, Wiesbaden 2008.
[5] M. Horkheimer / T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1981.
[6] I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. H. F. Klemme, Hamburg 2009.
[7] M. Luther, Ausgewählte Werke, hg. v. H. H. Borcherdt/G. Merz, Bd. 4: Der Kampf gegen die  Schwarmund  Rottengeister, München 31957.
[8] S. Maimon, Lebensgeschichte von ihm selbst geschrieben, hg. v. O. Winkler, Berlin 1988.
[9] F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 2: Der Stern der Erlösung, hg. v. R. Meyer, Dordrecht 41976.
[10] S. Steinheim, Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge, Dritter Theil, Hildesheim u. a. 1986 [Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1863].
[11] C. Wagner, Die Tagebücher, ed. u. komment. v. M. Gregor-Dellin/D. Mack, Bd. 3: 1878–1880, München 1976.
[12] H. Belting, Bild und Kult, München 1991.
[13] M. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot, Hamburg 22006.
[14] G. Didi-Huberman, Bilder trotz allem, Paderborn 2007.
[15] H. D. Döpmann, Die Ostkirchen vom Bilderstreit bis zur Kirchenspaltung von 1054, Zwickau 1990.
[16] E. R. Goodenough, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, Princeton 1992.
[17] G. Koch, Bilderpolitik im Ausgang des monotheistischen Bilderverbots, in: Babylon 23 (2010), 44–54.
[18] G. Koch, Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt a. M. 1992.
[19] T. Krannich u. a. (Hg.), Die ikonoklastische Synode von Hiereia  754, Tübingen 2002.
[20] H. Krellmann, Arnold Schönberg, in: U. Bermbach (Hg.), Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Komponisten, Stuttgart 2000, 403–428.
[21] K. Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001.
[22] B. Lang, Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus, München 1981.

aus: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Metzler Verlag 2011

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