Die Gnade Gottes wurde in ihr Gegenteil verkehrt
Eine Predigt zur Eröffnung der Elften Kirchensynode der EKHN
von Susanne Bei der Wieden

Liebe Gemeinde, oft haben wir dieses Lied (EG 200, 1+2+4) bei Taufen gesungen – und vielleicht ist es auch gesungen worden bei der Taufe von manch einem von uns. Als wir hinzugezählt wurden zum Volk, das Gott geheiligt heißt. Als wir verbunden worden sind mit dem Tod und der Auferstehung des Messias, des Juden Jesus Christus. Als wir Kirchenmitglieder geworden sind, im geistlichen Sinn Glieder am Leib Christi.

Und wahrscheinlich, so denke ich, ist dieses Lied aus der Tradition heraus auch gesungen worden bei der Taufe mancher Kinder mit jüdischen Eltern, Kinder, die in die  Gemeinschaft der Kirche, in die Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi hineingesenkt wurden, obwohl sie längst durch ihre Herkunft zum geheiligten Gottesvolk gehörten. Ich möchte der Taufe dieser Kinder einmal nachdenken. Ihrer Taufe, und was es heißt, dann diese getauften Kinder aus der Gemeinschaft der Kirche auszuschließen.

Dazu lese ich Gal. 3,26-29
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann nich Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.

In meiner Hand halte ich ein altes Taufbuch unserer Gemeinde. 1933. 17. Januar, wenige Tage vor der Machtergreifung Adolf Hitlers, ein Eintrag: Ernst Eberhardt Billermeyer, Mutter evangelisch, Vater: israelitisch. Eine Seite dahinter sein Bruder Rudolf. Ein paar Seiten weiter, Ende April, das Ermächtigungsgesetz ist erlassen, ein weiterer Taufeintrag: Heinrich Helmut Nehm, beide Eltern israelitisch, dann Helmut Alfred Palfi, dann Hildegard Josefsohn. Wir könnten weiter lesen, und würden weiter finden, Kinder jüdischer Eltern, in unserer Gemeinde zur Taufe gebracht, wie in  vielen Gemeinden. Kinder, die uns anvertraut worden sind, wie uns eben Kinder bei der Taufe anvertraut werden.

1933 waren es besonders viele Kinder. Deren Eltern sich mit der Taufe zum Messias Jesus Christus bekannten. Die ihm zutrauten, dass in seinem Wirkungsbereich eine andere Welt, jenseits von Hass und Gewalt, möglich wäre. Eltern, die sich mehr als zuvor danach sehnten, dass Gott vor dem heraufziehenden Grauen seine schützende Hand über diese kleinen Menschen halten und sie bewahren möge. Eltern, die mit der Taufe ihrer Kinder auch ihre Hoffnung zum Ausdruck brachten, die Kirche, diejenigen, die sich zu Jesus Christus als ihrem Herrn bekennen, würden ihre Kinder vor diesem Grauen schützen können, oder wenigstens gegen ihre Ausgrenzung protestieren. Vergeblich.

Dabei haben wir diese Kinder getauft, wie wir alle Kinder taufen, um sichtbar zu machen, dass Gott ihr Leben unlösbar mit seiner Gnade verbindet. Um an jedem Einzelnen sichtbar zu machen: Gott hat dieses Kind erwählt, hat es zu einer lebendigen Hoffnung berufen, ihm gilt seine ganze Liebe, und durch die Verbindung mit Jesus Christus ist dieses Kind zum ewigen Leben bestimmt. Wer getauft ist, sagt Paulus, hat Christus angezogen. Dahinter steht das alte orientalische Verständnis, dass das Kleid eines Menschen unlösbar zu ihm gehört, sein Wesen und seine Bedeutung gleichsam sichtbar werden lässt. So wird an einem Menschen durch die Taufe sichtbar: Jetzt bin ich durch Christus bestimmt. Christi Zusage; Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende, diese Zusage hüllt mich ein wie ein Gewand. Weil er gestorben und auferstanden ist, deshalb wird der Tod auch mein Leben einst nicht zerstören können, wenn ich mit ihm verbunden bin.

Von Gott her, von Jesus Christus her ist dieses Geschehen unverbrüchlich. Wer einen anderen Menschen aus dieser Verbindung herauslösen will, wer seine Zugehörigkeit zu Jesus Christus bestreitet, der tastet Christus selbst an und zerstört damit nicht die Verbindung des anderen Menschen zu Christus, sondern die eigene. Mit dem Ausschluss jüdischer Menschen aus der Kirchengemeinschaft hat unsere Kirche versucht, die Wirkmacht der Gnade Jesu Christi, des Juden, an gerade den Menschen seines Volkes zu bestreiten. Sie hat die Taufe für nichtig erklärt und die getauften Menschen exkommuniziert – um, wie im Mittelalter, mit dem Ausschluss aus der Kirche auch den Ausschluss aus der Gesellschaft zu rechtfertigen. Um die für das Ewige Leben Bestimmten den Gaskammern preisgeben zu können. Schärfer kann man die Gnade Gottes nicht in ihr Gegenteil verkehren.

„Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Freier noch Sklave, hier ist nicht Mann noch Frau, sondern ihr seid allesamt eins in Christus“, schreibt Paulus. Die jüdischen Eltern, die ihre Kinder zu uns zur Taufe brachten, hatten ein sehr tiefes Gespür dafür gehabt, was die Taufe, in all ihren theologischen Facetten, für das Leben ihrer Kinder bedeuten sollte. In der Taufe geht es ja nicht nur um uns Einzelne und unser Christsein, sondern auch um unsere Kirche. Weil alle Getauften gleichermaßen Christus angezogen haben, weil alle Getauften gleichermaßen zum ewigen Leben bestimmt sind, deshalb gibt es schon jetzt keine Unterschiede mehr. Die Unterschiede des alten Menschen, die seine soziale Stellung, sein Ansehen in der Gesellschaft, seine Macht beschreiben, die Unterschiede, die wir Menschen zur Durchsetzung unserer eigenen Interessen so gern gebrauchen, sie zählen nicht mehr. Was zählt, ist allein die Gemeinschaft der Glieder am Leib Jesu Christi, von der es heißt: Wenn ein Glied leidet, so leiden die anderen Glieder mit. In vielen Taufliturgien wird die Gemeinde aufgerufen, für getaufte Kinder zu beten, sie in der Gemeinde willkommen zu heißen, und somit Verantwortung zu übernehmen für die, die unter uns die Taufe empfangen haben. In der alten Taufliturgie unserer Gemeinde, die bei uns in den 30er Jahren im Gebrauch war, heißt es:

Unser Herr bestätigt uns durch die Taufe, dass wir zu ihm gehören. Als Glieder seines Leibes stehen wir gemeinsam im Dienst unseres Hauptes, Jesus Christus. Als seine Glieder tragen wir füreinander Verantwortung. Darum gilt uns allen die Mahnung des Apostels: Jeder von uns lebe so, dass er seinem Nächsten zum Guten und zur Erbauung dient....
Gott schenke uns, dass keiner den andern zurücklässt, sondern dass wir miteinander den guten Kampf kämpfen und die Krone des Lebens erringen. Und der Herr wird euch stärken und vor dem Bösen bewahren.

Keiner soll den anderen zurücklassen in jener Gemeinschaft der Getauften, in der die alten Grenzen aufgehoben sind. Wie sind wir mit diesem unserem Selbstverständnis umgegangen? Es war ja nicht die Kirche, möchten wir gern sagen, es war doch die Gesellschaft, die die Grenzen aufgerichtet hat zwischen sog. "Ariern" und Juden, zwischen Nachbarn, zwischen Freunden, zwischen Ehepartnern. Die Gemeinden, ihre Pfarrer, sie haben doch immerhin den Mut bewiesen, weiterhin jüdische Kinder zu taufen. Aber diese Taufe blieb ohne Folgen. Sie blieb ohne Folgen für die taufende Gemeinde und deshalb, weil sie ohne Folgen für die taufende Gemeinde blieb, deshalb blieb sie auch ohne Folgen für die getauften Kinder. Weil die Kirche diese Kinder nicht gestärkt und vor dem Bösen bewahrt hat, deshalb lief die Verheißung Gottes ins Leere.

Und mehr noch; die Kirche hat diese Getauften ja nicht nur aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, damit ihr deren weiteres Geschick egal sein könne, sondern weil sie in der Kirchenmitgliedschaft der getauften Juden die Reinheit eines selbsternannten, eines angeblich neuen erwählten Volkes, zerstört sah. Weil sie sich selbst an die Stelle des erwählten Gottesvolkes setzte. In einem bewegenden Brief protestiert ein jüdischer Christ aus Frankfurt gegen diese deutschchristliche Unterscheidung zwischen „vollwertigen deutschen Protestanten“ und „minderwertigen Judenchristen“, zu welchen demnach zu zählen meine liebe, uns vorbildliche Mutter, meine drei Geschwister und ich selbst die Ehre haben“, so schreibt er. „Ich habe bis jetzt das Christentum als etwas gesehen, das von einem Volke nicht in Erbpacht genommen werden kann... Mein Glaube war bis jetzt, dass wir alle... vor unserem Herrgott gleiche Kinder sind, und da bei Gott nicht unterschieden wird nach Rasse, Rang, Geburt oder Vermögen, so hielt ich bislang dafür, dass ich als Christ in jedem meiner Mitmenschen den Bruder oder die Schwester zu ersehen und zu finden habe“.

Die Kirche hat nicht mehr in der Taufe den Grund für die Zugehörigkeit ihrer Glieder erkannt, sondern sie hat nach gesellschaftlichen Gesichtspunkten entschieden, wie Kirche zu definieren sei. Was draußen in der Welt galt, das bestimmte, was in der Kirche gilt – gegen alle biblischen Grundlagen. Und aus ihrer Selbstdefinition heraus wollte sie auf den Namen ihres Herrn getaufte herausreißen aus ihrer Gemeinschaft. Dabei hat sie einen tiefen Riss gerissen in die Gemeinschaft des Leibes Christi selbst. Ja, sie hat sich selbst losgerissen vom Leib Jesu Christi.

Aber gerade dieses Geschehen gibt uns bis heute Fragen auf. Wenn wir unsere Taufe nicht auch in ihren Folgen für unser Miteinander bedenken, dann stehen wir immer wieder in der Gefahr, Risse einzutragen in den Leib Christi. Heute kommen andere, die unsere Gemeinschaft und unseren Schutz suchen: Verfolgte, Asylsuchende, heute kommen Arme und Menschen, mit queren, gebrochenen Lebensläufen, und auch heute kommen gesellschaftlich Geächtete... und viele davon sind getauft wie wir.

Und viele sind auch nicht getauft. Aber das heißt nicht, dass die Gemeinschaft mit ihnen und die Verantwortung für sie an der Taufe halt macht. Sind doch in unserer Zeit und Gesellschaft die Grenzen zwischen Kirche und Welt längst zerflossen – wie sollten wir da nicht zu denken wagen, dass der Leib Christi auch Menschen umschließt, die – noch – nicht um ihre Zugehörigkeit wissen.

Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben – so endet unser Text – und greift auf die alten Verheißungen der hebräischen Bibel zurück. Nach ihrem Zeugnis hat Gott in seinem erwählten Volk früh die Erwählung aller im Blick. Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzu laufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem, und er wird Recht sprechen unter den Heiden und zurecht bringen viele Völker. Was mit der Taufe dem Einzelnen zugesagt wird, das ist auf der Ebene der Völkerwelt schon längst vorweggenommen. Israel ist das erwählte Volk Gottes, aber von Anfang an sind auch wir in seiner Erwählung mitgedacht als die, die dazukommen. Und nicht nur wir, ja alle Völker – in und nach dem erwählten Volk Gottes.

In diesem Sinn öffnet Jesus selbst, öffnet die junge Kirche, die Verheißungen an Gottes Volk für alle Menschen, die im Glauben an Israels Gott, an den Vater Jesu Christi, ihr Heil suchen. Gehört ihr Christus an, so seid ihr Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben. Durch Abraham und sein Volk. Nicht etwa aus dir selbst, so weist Paulus an anderer Stelle die junge heidnische Christenheit in ihre Schranken. Du, der du ein wilder Ölzweig warst, und eingepropft bist und Teil bekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums Israel, rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so wisse, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel dich.

Unser Heil – auch das uns in der Taufe zugeeignete Heil - ist nur im Heils des erwählten Volkes denkbar. Damit wir demütig bleiben. Und auch, damit wir uns nicht etwa über die anderen Völker erheben. Im biblischen Heilszusammenhang ist kein Raum für irgendwelche Hierarchien unter den heidnischen Völkern – und schon gar nicht für Rassenwahn und rechtes Denken. Nein, wer solches Denken – wie wir es ja heute in erschreckender Weise wieder in unserer Gesellschaft ausmachen – wer solches Denken duldet, der solchem Denken nicht aufs Schärfste widerspricht, der löst sich aus diesem Heilszusammenhang.

Wir haben mit der Zerstörung und Vernichtung des Gottesvolkes schon einmal unseren eigenen Heils- und Lebenszusammenhang zerstört. Und das durchzieht bis heute unseren Glauben wie ein Riss. Denn im Geist zählen wir uns zu Gottes Volk, aber im Leben gehören wir eben zu dem Volk, das unendliches Leid, Hass, Gewalt und Zerstörung über Gottes Volk gebracht hat. Zu dem Volk, das einen Retter und Heiland aus dem Volk Israel nicht wollte und nicht brauchte und mit dem Volk Israels auch ihn verworfen hat. Dieser Riss geht durch uns, dieser Riss wird uns immer prägen.

Und allein darin liegt unsere Hoffnung, dass wir selbst getauft sind, und dass Gottes Handeln in seiner Taufe unverbrüchlich ist. Darin liegt unsere Hoffnung, dass mit unserer Taufe, mit unserer Verbindung mit Jesus Christus, dem Messias Israels, eben auch unser altes Leben hineingenommen ist in seinen Tod und uns neues Leben geschenkt ist. Das wir mit unserer Schuld, die wir tragen, durch unsere Taufe eben auch hineingenommen sind in Gottes großes Heil, in dem Schuld vergeben ist. In dem Versöhnung zugesprochen - und möglich wird.

Noch einmal nehme ich das Taufbuch unserer Gemeinde in die Hand, eines von vielen. Taufbücher sind ja auch ein Symbol für das Buch des Lebens, in das unsere Namen mit der Taufe geschrieben sind. Sie hören mit 1942 nicht auf; sie gehen weiter bis heute. Auch unsere Namen stehen darin. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.

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