Ungläubige trifft das Zorngericht
Mit dem ersten Thessalonicherbrief beginnt die Geschichte des christlichen Antisemitismus
von Gerd Lüdemann

Allem Anfang liegt ein Zauber inne, schrieb Hermann Hesse. Die Christenheit hat bis zur Aufklärung ähnlich über ihren Beginn gedacht. Am Anfang stand ein Mysterium: die Verkündigung Jesu und die Gründung der Kirche durch Jesus auf dem „Felsen“ Petrus. Ihm gab Jesus die Schlüssel des Königreichs der Himmel und stattete die zwölf Apostel mit übernatürlichen Kräften aus, damit sie die Botschaft vom auferstandenen Jesus in alle Welt tragen. Die wundersamen Nachrichten über Jesus und seine Jünger fanden die Christen in den Evangelien und der Apostelgeschichte. Sie stehen aus gutem Grund am Anfang des Neuen Testaments.

Die historische Kritik zertrümmerte beides: die heilige Legende vom goldenen Zeitalter der Kirche und das Dogma, dass die vier Evangelien und die Apostelgeschichte die ältesten christlichen Texte oder gar Quellen von hohem historischen Wert seien. An ihre Stelle traten als Primärquellen die sieben echten Briefe des Paulus – nach der Ordnung des Neuen Testaments: Brief an die Römer, zwei Briefe an die Korinther, Brief an die Galater, Brief an die Philipper, erster Brief an die Thessalonicher, Brief an Philemon – und die Entdeckung, dass die Frühzeit der Kirche nicht Harmonie, sondern vor allem Streit prägte.

Als frühesten dieser Briefe und damit als den ältesten christlichen Text sehen Neutestamentler in der Regel den ersten Thessalonicherbrief an. Bis vor kurzem galt ca. 51 n.Chr. als Abfassungsdatum, wobei die anderen echten Schreiben des Paulus innerhalb von drei bis vier Jahren danach verfasst wurden. Doch hat sich inzwischen durch Anstöße aus Nordamerika das Jahr 41 n.Chr. als alternatives Datum für den ersten Thessalonicherbrief empfohlen, und es gewinnt immer mehr Anhänger.

Ein Agent des Herrn Jesus

Wenn wir also wissen wollen, wie das frühe Christentum im ersten Jahrzehnt seines Bestehens aussah, steht uns dafür mit dem ersten Thessalonicherbrief eine unschätzbare Quelle zur Verfügung.

Das Schreiben an die Christen in der makedonischen Hauptstadt Thessalonich ist ein ungemein herzlicher Brief des Paulus an eine erst kürzlich gegründete Gemeinde. In ihm zieht der Heidenapostel alle sprachlichen Register, um bei ihren Mitgliedern Gehör zu finden. Nichts war ihm wichtiger, als den Thessalonichern seine tiefe Zuneigung, seine Sehnsucht nach ihnen und seine Sorge um ihr Ergehen mitzuteilen. Paulus ist überzeugt: Er gehört mit der Gemeinde unzertrennlich zusammen. In allen Bereichen besteht eine Gegenseitigkeit des Gebens und Nehmens.

Das Schreiben ist trotz aller friedlich-harmonischer Töne „ein Feuerbrief“ (A. Ehrhardt). Insgesamt richtet es sich intensiver als die anderen echten Paulusbriefe auf die Zukunft aus. Ebenso wie die Christen vor ihm erwartet Paulus in seinem ältesten Brief die Wiederkunft Jesu noch zu Lebzeiten der ersten Generation und sagt allen Ungläubigen – Heiden wie Juden – das Zorngericht, ohne Möglichkeit des Entkommens, an. Damit bestärkt er die Thessalonicher in ihrem Glauben. Sie hatten ja im Gegensatz zu den Genannten durch das Evangelium die Chance genutzt, der nahen Vernichtung zu entkommen.

Paulus suchte den Kontakt zu Menschen. Ein Zwang lag auf ihm, das Evangelium zu predigen. Dabei kam er seinen Zuhörern entgegen. Den Heiden wurde er wie ein Heide, den Juden wie ein Jude, er selbst aber war eigentlich weder Jude noch Heide. Im ersten Thessalonicherbrief wandelt er sich sogar zum kynischen Moralphilosophen.

Seine missionarische Basis waren heidenchristliche Gemeinden wie die in Thessalonich in anderen Städten des Römischen Reiches. Ihnen predigte er das Evangelium, das er in der von ihm verfolgten Kirche von Damaskus kennen gelernt hatte. Es umfasste die Lehre von dem einen Gott und von Jesus Christus, dem zukünftigen Retter, den Gott angeblich von den Toten erweckt hatte. Hinzu kam die urjüdische Lehre von der Heiligung, die katechismusartig die Thora des Alten Testaments wirksam vergegenwärtigte und christliche Enthusiasten an die Aufgaben des Alltags erinnerte. Die Beschneidung war dagegen in heidenchristlichen Gemeinden von Anfang an nicht üblich. Obwohl Paulus Taufe und Herrenmahl in seinem ältesten Brief nicht ausdrücklich erwähnt, dürfte er, wie in Korinth, beide Riten auch bei der Gründung der Gemeinde in Thessalonich als christliche Spielart der Mysterien eingeführt haben.

Paulus sah sich als Agent des Herrn Jesus. Zusammen mit ihm war er Teil eines von Gott gelenkten Erlösungsdramas von kosmischem Ausmaß. Die irdische Seite seines Herrn war eine andere Sache, sie kam bei Paulus fast gar nicht vor. Jesus von Nazareth war dem Heidenapostel weder persönlich noch in seinen Worten bekannt. Er hatte auch kein Interesse am Wanderprediger aus Nazareth; allein der Kyrios, der ihm Anteil an der göttlichen Macht gab, zählte.

In Paulus baute sich ein ungeheures Selbstbewusstsein auf. Er fühlte sich von Gott berufen und setzte die eigene Person vollständig mit der Sache Gottes gleich. Seine eigene Predigt hielt er ausdrücklich für Gottes Wort und lobte die Thessalonicher, dass sie das auch taten. Dem römischen Staat, der mit der Formel „Friede und Sicherheit“ politische Werbung trieb, bot er Paroli, indem er ihm im Namen des „Gottes des Friedens“ die baldige Vernichtung ankündigte. Ein Zeichen des politischen Widerstands setzend, identifizierte er im Eingang des ersten Thessalonicherbriefs die von ihm gegründete Gemeinde sogar mit der Bürgerversammlung der Polis. Paulus kann froh sein, dass die römische Behörde von dem Inhalt des Briefs nichts erfuhr.

Die Arbeit des Paulus hatte jedoch vor allem religiöse Ziele. Der für ihn springende Punkt seiner Mission in göttlichem Auftrag bestand darin, dass die Erlösung auch Heiden gelte, nun aber nicht so, dass sie vorher zu Juden werden müssten. Vielmehr gehörten sie – obwohl unbeschnitten – in gleichem Rang wie die an Christus glaubenden Juden der Kirche als dem neuen Israel an und hielten, ohne die Speisegesetze zu beachten, regelmäßig Mahlzeit mit anderen Glaubensbrüdern. In Christus waren sie ja eins.

All das waren innerhalb des Judentums neue Gedanken, die den Frommen Kopfzerbrechen bereiteten. Sie sahen durch das Wirken des Paulus die Reinheit des Gottesvolkes gefährdet und wollten ihn deswegen – zumeist vergeblich – durch Anwendung von Gewalt an seinem Wirken hindern. Dasselbe hatte Paulus in seiner vorchristlichen Zeit – genauso vergeblich – gegen Christen in Damaskus versucht.

Paulus kritisiert im ersten Thessalonicherbrief die „ungläubigen“ Juden so heftig wie kein anderer Christ in den ersten beiden Jahrhunderten. Er bedient sich in diesem Schreiben Anwürfen innerjüdischen und heidnischen Ursprungs. Die innerjüdischen Angriffe benutzen ein bekanntes Schema: Die Juden haben die Propheten getötet und so den Zorn Gottes auf sich geladen. Die Attacken von heidnischer Seite vereinen weit verbreitete antisemitische Klischees: Die Juden gefallen Gott nicht und hegen gegenüber allen Menschen feindseligen Hass.

Teuer erkaufte „Versöhnung“

Paulus ist – soweit bekannt – der einzige antike Jude, der Einzelvorwürfe des paganen Antisemitismus gegen sein eigenes Volk geschleudert hat. Er schlug zu, als Juden ihn an der Heidenmission hindern wollten, und nahm giftig die genannten antisemitischen Formeln in seinen Brief an die Heidenchristen in Thessalonich auf. Kurz vor dem Aufbruch nach Jerusalem diktierte Paulus in Korinth den Römerbrief: gut ein Jahrzehnt, nachdem er in dieser Stadt den ersten Thessalonicherbrief verfasst hatte. Im Römerbrief legt der Apostel in den ersten acht Kapiteln die Botschaft von der Glaubensgerechtigkeit dar, die als freie Gnade aufgrund des Sühnetodes Jesu im Glauben zu ergreifen sei und sowohl für Juden als auch für Heiden gilt. Doch merkt Paulus offenbar nicht, dass er in den darauf folgenden Partien teilweise all das zurücknimmt, was er vorher geschrieben hat.

Plötzlich zieht Paulus ein überwunden geglaubter Patriotismus in den Bann. Denn nun meint er ernsthaft: Ganz Israel werde, auch ohne an Christus zu glauben, am Ende der Tage, nachdem die Fülle der Heiden eingegangen ist, die Rettung erlangen. So gilt plötzlich die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk durch Geburt viel mehr, als die ersten acht Kapitel des Römerbriefs und der erste Thessalonicherbrief hätten erwarten lassen.

Diese Kehre hat einen besonderen Grund. Paulus selbst deutet ihn in den einleitenden Bemerkungen am Anfang von Kap. 9 des Römerbriefs an. Er leidet Höllenqualen, weil die große Mehrheit seiner Volksgenossen das Heil in Christus doch nicht angenommen hat, und spricht den Wunsch aus, zugunsten seiner ungläubigen jüdischen Brüder sogar von Christus weg verflucht zu sein.

Hier zeigt sich eine andere Seite des Paulus, die seine Leser nach der gehässigen Polemik im ersten Thessalonicherbrief geradezu erleichtert. Vom Judenfeind keine Spur. Zum Freund geworden, will der Heidenapostel sogar sein Leben für die „ungläubigen“ Juden geben. Er hat sich offenbar, wenigstens einen Augenblick, mit seinem Volk und mit sich selbst versöhnt.

Diese „Versöhnung“ war teuer erkauft. Vom Kontext der missionarischen Strategie des Paulus und seiner Lebensumstände her war die paulinische Kehre nämlich katastrophal. Heidenchristen hielten ihn fortan für einen Wendehals, auf dessen Aussagen kein Verlass mehr ist, während Juden den späten Patriotismus des Paulus nicht ernst zu nehmen vermochten. Sie sahen sich in ihrer Verachtung dieses Apostaten nur bestärkt und verzichteten gern auf eine derartige „Rettung“ am Ende der Tage.

Gerd Lüdemann ist emeritierter Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums in Göttingen. Von ihm erschien zuletzt: „Der älteste christliche Text: Erster Thessalonicherbrief“, Verlag zu Klampen; 132 S.; 12,80 Euro.

aus: Frankfurter Rundschau, 13.12.2011

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