Martin Buber, Franz Rosenzweig und die Verdeutschung der Schrift
von Stefan Schreiner

Unter dem Titel „An einem denkwürdigen Tage“ druckte die Neue Zürcher Zeitung am 31. März 1963 die Rede, die Gershom Scholem im Februar desselben Jahres anlässlich des Abschlusses der Buber-Rosenzweig’schen Bibelübersetzung in Bubers Haus in Jerusalem gehalten hat. Für Scholem war diese „aus der Verbindung eines Zionisten und eines Nichtzionisten hervorgegangen(e)“ Übersetzung so „etwas wie das Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen Volk in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden hinterlassen konnten“; aber es war ein Gastgeschenk, wie er sogleich hinzufügte, das aus der Rückschau, „historisch gesehen […] nicht mehr ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern […] das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“ geworden ist. 2 Denn jetzt, da diese Bibelübersetzung abgeschlossen vorliegt, gibt es nicht nur die deutsche Sprache nicht mehr, in die Buber und Rosenzweig die Bibel einst zu übersetzen begonnen hatten, es gibt auch das „Deutsche Judentum“ nicht mehr, in dem doch diese Übersetzung „eine lebendige Wirkung, eine Aufrüttelung und Hinführung zum Original bewirken sollte“. ´

Zur Entstehung der Übersetzung
Der Gedanke, die Schrift zu übersetzen, war beiden, Buber wie Rosenzweig, gekommen, wenn auch zunächst unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten. Buber hatte nach eigenen Worten Anfang 1914 bereits mit einigen Freunden „den Plan einer Übertragung der hebräischen Bibel“ gefasst, Rosenzweig hingegen erst 1920 „die Frage einer für die jüdische Gemeinschaft in deutschsprachigen Ländern bestimmten neuen Übersetzung“ erörtert. Während Buber jedoch die Übertragung der hebräischen Bibel „als notwendig“ erachtet hatte, „ohne aber eigentlich zu wissen, worin das Neue zu bestehen habe, also auch ohne eigentlich zu wissen, weshalb sie notwendig sei“, wie er aus der Rückschau gestand, stand Rosenzweig dieser Idee zunächst ablehnend gegenüber. Zwar war die Frage einer neuen Übersetzung der Schrift, wie Buber später bekannte, seit 1922/23 – Rosenzweig war zu jener Zeit mit der Übersetzung von Hymnen und Gedichten Jehuda Halevis beschäftigt und hatte sich dabei des öfteren Rat suchend an Buber gewandt – die „magnetische Mitte“ des Gesprächs zwischen den Freunden geworden; dennoch hatte Rosenzweig noch Anfang 1925, am Vorabend des Beginns der gemeinsamen Arbeit, „grade als Deutschjude eine neue offizielle Bibelübersetzung nicht bloß für unmöglich, sondern sogar für verboten und nur eine jüdisch revidierte (teils viel teils wenig revidierte) Lutherbibel für möglich und erlaubt“ gehalten.

Doch es ist anders gekommen. Anfang 1925 erhielt Buber von dem ihm bis dahin unbekannten Verleger Lambert Schneider die Anfrage, ob er bereit sei, eine Übersetzung des Alten Testaments zum Druck vorzubereiten, gleichviel, ob eine Neuherausgabe, eine Bearbeitung oder ein eigenes Werk. Die Anfrage war zwar nicht ganz überraschend gekommen; dennoch, so sagte er später, habe er erst nach Rücksprache mit Franz Rosenzweig nur unter der Bedingung zugesagt, dass er, Rosenzweig, mitmache, was Rosenzweig dann auch tat; und schon bald nach Beginn der gemeinsamen Arbeit gestand Rosenzweig Buber: „Die Mitarbeit hat mich von meinen anfänglichen Vorbehalten bekehrt; ich halte jetzt selbst das von Ihnen gefundene Prinzip einer Übersetzung für das richtige.“

Wenige Monate nach Rosenzweigs Tod – Rosenzweig war am 10. Dezember 1929 gestorben; er und Buber waren gerade mit der Übersetzung des Kapitels Jesaja 53 befasst – veröffentlichte Buber unter dem Titel Aus den Anfängen unsrer Schrifübertragung eine erste Rechenschaft über die gemeinsame Arbeit und darin vor allem über das Anliegen, das Rosenzweig und er mit der gemeinsamen Schriftübertragung verfolgten, und die Prinzipien, die sie dabei leiteten. Zugleich gewährte er damit einen Einblick in ihre Arbeitsweise, aus der nicht zuletzt eine wachsende wechselseitige Befruchtung im Verstehen und Verständlichmachen der Schrift spricht.

Als „Hauptabsicht bei diesem Unternehmen“ hatte Gershom Scholem rückblickend in seiner o. e. Rede den „Anruf an den Leser“ erkannt „gehe hin und lerne Hebräisch!“ In der Tat war und ist diese Übersetzung „keineswegs der Versuch, die Bibel im Medium des Deutschen auf eine Ebene klarer Verständlichkeit über alle Schwierigkeiten hinweg zu erheben, […] die Bibel nicht leichter zu machen als sie ist“. Vielmehr war es den Übersetzern, wie Scholem richtig gesehen hat, um das gesprochene Wort der Schrift oder, wie Buber es nannte, um die Gesprochenheit des Wortes zu tun; denn „sie wollten nicht die Bibel als Schrifttum übersetzen, nicht das Literarische, vom Leser auch mit den Augen Aufnehmbare […], sondern gerade die Sphäre des lebendigen gesprochenen Wortes“. Es ging um nicht weniger als den Versuch, die Schrift in ihrer ursprünglichen Gesprochenheit neu zum Sprechen zu bringen, nur eben in einer anderen, der deutschen Sprache nämlich.

Übersetzung als Kunst, zwei Herren zu dienen
Die eigentliche, zentrale Frage ist das Wie des Übersetzens der Schrift. Hatte nicht einst R. Jehuda gemahnt: „Wer einen Schriftvers wörtlich übersetzt, ist ein Lügner, und wer hinzufügt, ist ein Verleumder und Gotteslästerer“ (Talmud Bavli, Traktat Qiddushin, Bl. 49a)? Wie dann kann, ja, soll man übersetzen?

Rosenzweig beschrieb die Kunst des Übersetzens und damit die Aufgabe des Übersetzers als die – im Letzten von niemandem wirklich leistbare – Kunst, „zwei Herren zu dienen“, nämlich der Sprache, aus der übersetzt, und der Sprache, in die übersetzt wird. Eine Übersetzung ist folglich nur dann gelungen, wenn sie – mit Rosenzweig zu reden – die „Vermählung zweier Sprachgeister“ zuwege bringt bzw. gebracht hat. Um das leisten zu können, muss – mit Bubers Worten – „der Dolmetsch aus dem hebräischen Buchstaben wirkliche Lautgestalt empfangen; er muß die Geschriebenheit der ,Schrift‘ in ihrem Großteil als die Schallplatte ihrer Gesprochenheit erfahren, welche Gesprochenheit sich – als die eigentliche Wirklichkeit der Bibel – überall neu erweckt, wo ein Ohr das Wort biblisch hört und ein Mund es biblisch redet.“

So interessant es wäre, Rosenzweigs und Bubers Theorie des Übersetzens weiter zu verfolgen; allein, sie auf wenigen Zeilen nachzeichnen zu wollen, wäre mehr als vermessen. Zudem haben sich beide davon – wie den zwischen ihnen ausgetauschten Arbeitspapieren zur Verdeutschung der Schrift und den mit der Übersetzung entstandenen bzw. sie begleitenden, wenige Jahre später unter dem Titel Die Schrift und ihre Verdeutschung veröffentlichten Aufsätzen, Seite um Seite zu entnehmen ist – immer wieder neu, ja, permanent Rechenschaft gegeben.

„Ist die Schrift übersetzbar? Ist sie schon wirklich übersetzt? Was bleibt noch zu tun? Wenig? Viel? das Entscheidende? […] Und über alles: wie ist die Schrift zu übersetzen? Wie ist sie in diesem Zeitalter zu übersetzen?“ Das waren die Fragen, die es zu beantworten galt, und sie brachen mit umso größerem Nachdruck auf, je mehr sich Buber und vor allem Rosenzweig mit dem Problem des Übersetzens überhaupt befassten.

Noch als Buber und Rosenzweig 1925 anfingen, die gemeinsame Arbeit der Schriftübertragung zu beginnen, war Rosenzweig zutiefst davon überzeugt, dass für „alle Versuche in deutscher Sprache […] keine Neuübertragung, sondern nur eine Luther-Revision unternommen werden könne, wenn auch eine unvergleichlich umfassendere und eindringendere als alles, was bisher so bezeichnet worden ist“. Dennoch, für ihn kam nur eine „jüdisch revidierte Lutherübersetzung“ in Betracht, und dies deshalb, weil er in Luthers Übersetzung des Alten Testaments jene „Vermählung der beiden Sprachgeister“ geleistet sah, die eine wirkliche Übersetzung auszeichnet.

So begannen denn auch Buber und Rosenzweig, einen „ jüdisch-revidierten Luthertext“ zu versuchen. Aber bereits nach einem Tag Arbeit – gestand Buber später – „standen wir vor einem Trümmerhaufen. Es hatte sich erwiesen, daß man auf diesem Weg nirgends hinkam. Es hatte sich erwiesen, daß Luthers ,Altes Testament‘ in alle Dauer ein herrliches Gebild blieb, aber schon heute keine Übertragung der Schrift mehr war.“

Und dies durchaus nicht allein aus Gründen der Philologie, wie Rosenzweig in Die Schrift und Luther (1926) klar gemacht hat. Vielmehr hatte die eingehende Beschäftigung mit Luthers Übersetzung des Alten Testaments zutage gefördert, dass hier nicht nach dem Maßstab der Philologie, sondern nach dem Maßstab des Glaubens gearbeitet worden war: Denn, so Rosenzweig, „Luther hatte in der ,Analogie des Glaubens‘ die nie versagende Wünschelrute, die ihm an all den Stellen, wo das Alte Testament ,Christum trieb‘, aufzuckte. Wo es so für ihn, den Christen, lebendiges Gotteswort war, da, und nur da, da aber unbedingt, mußte es wörtlich genommen werden und also auch in ,steifer‘ Wörtlichkeit übersetzt. Überall sonst, und das umfaßte für ihn beim Alten Testament den größten Teil des Textes, wo es nach der herrlichen Stelle der Vorrede auf das Alte Testament (resp. der Vorrede zum Deutschen Psalter) nur ein Bild und Exempel des Regiments und des Lebens ist, wie es ,zugehet, wenn es im Schwang gehet‘, läßt der Übersetzer (d. i. Luther) ,die hebräischen Worte fahren und spricht frei den Sinn heraus aufs beste Deutsch, so er kann‘!“

So kann es denn nicht überraschen, dass es Buber und Rosenzweig, im Gegensatz zu Luther, als ihre vornehmliche, philologisch verstandene und entsprechend gefasste Aufgabe ansahen, dem „überlieferten Text der hebräischen Bibel“ so weit als nur irgend möglich zu folgen; und als diesen überlieferten Text betrachteten sie den masoretischen Text. Gleichviel, ob dieser überlieferte Text zugleich auch der sogenannte Urtext der Schrift ist, ist er ihrer Meinung nach jedoch der einzige objektiv fassbare Text der hebräischen Bibel.

Das Prinzip Leitwortstil und Kolometrie
Das Anliegen, die Schrift nach dem Maßstab der Philologie zu übersetzen, und das Bemühen, dabei soweit als möglich beim überlieferten Text zu bleiben, wären völlig missverstanden, wollte man in ihnen den Versuch sehen, die Schrift „einzudeutschen“. Um solche „Eindeutschung“ geht es nicht; das würde „Eindeutschen des Fremden“ bedeuten. Mit Bedacht sprechen Buber und Rosenzweig daher stets von der Verdeutschung der Schrift, niemals und nirgends von einem Versuch ihrer Eindeutschung. Verdeutschung aber heißt, dem überlieferten Text in seiner literarischen Form, im Stil ebenso wie in der Philologie die Treue zu halten.

Als das sprachliche Charakteristikum der biblischen (Rede-) Texte hatte Buber ein Strukturprinzip erkannt, das er auf der Ebene der Sprache des Textes als „Leitwortstil“ und auf der Ebene der Poetik als „Kolometrie“ definierte. „Leitwortstil“ bedeutet nach Buber „die emphatische Wiederholung“: „Es geht hierbei um das Bezogenwerden zweier oder mehrerer Textstellen, sei es im gleichen Abschnitt, in verschiedenen Abschnitten, sei es auch in verschiedenen Büchern, aufeinander durch Wiederholung von Wörtern, Wortstämmen, Wortgefügen, und zwar solcherweise, daß die Stellen im Verständnis des Hörers einander erläutern, die neugehörte die altbekannte verdeutlicht, aber auch diese die neue zulänglicher erfassen hilft.“

Dem gegenüber besagt „Kolometrie“: Das Ursprüngliche in der Gliederung des Bibeltextes ist nicht das Metrum, das syntaktischen Regeln folgende Versmaß, sondern „die Gliederung in Einheiten (Kolen), die zugleich Atemeinheiten und Sinneinheiten sind“. Denn da „im Bereich der reinen Mündlichkeit […] Atemholen und Sinnpause derselbe Moment sind“, ist das Kolon, die Sinn- und Atemzeile in einem, wie Rosenzweig ergänzte, „das Grundprinzip der natürlichen, der mündlichen Interpunktion“.

Mit der Entdeckung dieses Strukturprinzips der Schrift meinte Buber den Universalschlüssel gefunden zu haben, dessen Anwendung es ermöglicht, die Schrift so ins Deutsche zu übersetzten, dass aus der Übersetzung sowohl jene ursprüngliche Gesprochenheit des Wortes erneut gehört als auch ihr Charakter als Zwiesprache von Gott und Mensch wahrgenommen werden kann; und Rosenzweig stimmte ihm darin zu.

Die Aufgabe des Übersetzers besteht demzufolge darin, die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes, eines Wortstammes oder einer Wurzel auszugraben und eine ihr entsprechende in der Sprache zu finden, in die übersetzt wird; wurzelgleiche Worte also allenthalben durch wurzelgleiche wiederzugeben, um so die wechselseitigen Bezogenheiten – also den „Leitwortstil“ – auch in der Übersetzung erkennbar werden zu lassen.

Ob und – wenn: ja – wie weit das bei zwei so grundverschiedenen Sprachen wie Hebräisch und Deutsch überhaupt möglich ist, muss hier dahingestellt bleiben. Kein Geringerer als Mose b. Maimon (Abu¯ ÝImra¯n Mu¯sa¯ b. ÝUbaidalla¯h Maimu¯n) (1138–1204) hatte bereits ein solches Verfahren selbst im Blick auf die beiden verwandten Sprachen Hebräisch und Arabisch für unmöglich gehalten. In einem Brief an seinen Hebräischübersetzer Shemuel b. Jehuda ibn Tibbon (1160–1230) im provençalischen Lunel hatte er daher geschrieben:

„Wer aus einer Sprache in eine andre übersetzen will und sich vornimmt, ein bestimmtes Wort immer nur durch ein bestimmtes andres Wort wiederzugeben, und die Ordnung der Abhandlung und die der Worte einzuhalten, der wird damit viel Plage haben, und es wird dabei eine zweifelhafte und verworrene Übersetzung herauskommen. Es ist nicht richtig, derart vorzugehen. Vielmehr muß sich der Übersetzer zuerst den Gedankengang klarmachen; dann soll er ihn so berichten und darstellen, daß er in der andren Sprache verständlich und ganz klar wird. Das ist nicht zu erreichen, wenn er nicht manchmal die Folge des früher oder später Gesagten abändert, ein einziges Wort durch mehrere Worte, und mehrere durch ein einziges wiedergibt, manche Wendungen fortläßt und andere hinzufügt, bis der Gedankengang geordnet und ganz klar ist, und der Ausdruck verständlich wird als ein der Sprache, in die übersetzt wird, gemäßer.“

So zu verfahren, wie es Mose b. Maimon seinem Übersetzer empfohlen hatte, war für Buber und Rosenzweig indessen im Blick auf die hebräische Bibel nicht nur nicht angemessen, sondern führte geradeswegs an der Sache vorbei. In dieser Weise zu übersetzen, verbot sich ihnen ebenso aufgrund ihres Verständnisses von philologischer Treue gegenüber dem Text, der übersetzt wird, wie aus Gründen der Sache, die durch die Übersetzung neu gehört werden soll.

Während Bubers Beitrag zum gemeinsamen Übersetzungswerk die Entdeckung des Strukturprinzips der hebräischen Redetexte war, lag Rosenzweigs Beitrag auf benachbartem Gebiet, wiewohl er anfänglich, dank seines engen Kontaktes zur traditionellen Exegese, nur die Rolle der gründlichen Muse spielen wollte. Am Ende jedoch ist es seinem Genius zu verdanken, dass das von Buber gefundene Prinzip konkretisiert und umgesetzt werden konnte. War er es doch, dem es gelungen ist, die ursprünglichen Wurzelbedeutungen und deren deutschsprachige Entsprechungen zu finden, also gewissermaßen den Wortschatz der Buber-Rosenzweig’schen Bibelübersetzung zu schaffen. Zu den genialen Lösungen, die Rosenzweig dabei gefunden hat, gehört nicht zuletzt die Wiedergabe der Wurzel ·s - d-q durch wahr, und nicht wie üblich durch recht, was für die Wurzel š-p-t· vorbehalten blieb, weswegen dann ·saddiq nicht mit der Gerechte, sondern der Bewährte wiedergegeben worden ist; ganz zu schweigen von den vielen der Sprache des Kultus und des Rechts entstammenden Begriffen. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden.

Die Wiedergabe des vierbuchstabigen Gottesnamens
Die – nicht zuletzt theologisch – folgenschwerste Entscheidung der Buber-Rosenzweig’schen Bibelübersetzung indessen ist die auf Rosenzweig zurückgehende Wiedergabe des Tetragramms, des unaussprechlichen vierbuchstabigen Gottesnamens, den er nicht als Ausdruck eines Seins, sondern eines Da-seins, eines Bei-uns-seins verstanden wissen wollte, wie er in seinem oft zitierten Aufsatz Der Ewige – Mendelssohn und der Gottesname (1929) eingehend erläutert hatte. Und es war eben diese Deutung des Namens, die zu seiner Wiedergabe durch das Personalpronomen – je nach Kontext – in der 1., 2. oder 3. Person geführt hat, also Ich; Du oder Er (oder deren entsprechende flektierte Formen).

Die Entscheidung, das Tetragramm nicht mit Herr wiederzugeben, sollte der christologischen Interpretation der hebräischen Bibel den Boden entziehen. Denkt doch der Christ, schrieb Rosenzweig, wenn er liest, „Der Herr ist mein Hirte“ (Ps 23,1) „nicht an Gott, sondern an den ,guten Hirten‘!“ Dies aber darf nicht geschehen; denn ein solches „Christuszeugnis“ kennt die hebräische Bibel nicht. Daher müsse – so Rosenzweig – die Wiedergabe des Tetragramms in einer Weise erfolgen, die ausschließt, dass die Vier Buchstaben JHWH gedanklich mit Kyrios und / oder Christos assoziiert werden, von ihrer Gleichsetzung ganz zu schweigen.

Zudem ist das Tetragramm, wie Rosenzweig in seiner Begründung zur Übersetzung von 2. Mose 3,14 ausdrücklich feststellt, ohnehin kein Name, schon gar kein Göttername, denn 2. Mose 3,14 sagt nichts von einer eigentlichen Offenbarung, einer Enthüllung oder Entbergung des Namens, sondern erzählt allein von einem Aufleuchten Seines Da-seins, enthält also (S)eine Präsenzzusage, die die Präsenzzusage eines Gottes ist, der wohl zu den Menschen redet, wie er von ihnen angeredet werden kann – dies ist der Sinn der Wiedergabe des Tetragramms durch das Personalpronomen –, sich aber nicht offenbart, bzw. genauer: sich nicht entbirgt, sondern El ha-Nistater ist, ein „Gott, der im Verborgenen bleibt“ (Jes 45,15). Demgegenüber würde die Wiedergabe des vierbuchstabigen Gottesnamens durch Kyrios (Herr), der seit dem Neuen Testament mit Christos gleichgesetzt wird, einen – wie Rosenzweig sagt – entborgenen Gott suggerieren, den die hebräische Bibel nicht kennt.

Übersetzung als Auslegung
Mit dieser weitreichenden – theologisch begründeten – Entscheidung haben Buber und Rosenzweig deutlich machen und mit ihrer Bibelübersetzung dokumentieren wollen, dass die hebräische Bibel nicht das ,Alte Testament‘, und schon gar kein christliches Buch ist. Gerade an Stellen, wie den oben genannten, zeigt sich, dass die Übersetzung als solche, um ein weiteres Mal Gershom Scholem zu zitieren, denn auch „nicht nur Übersetzung [ist], sie ist, ohne doch ein Wort der Erklärung als solche hinzuzufügen, zugleich auch ein Kommentar“. Tatsächlich erweist sich die Buber-Rosenzweig’sche Bibelübersetzung immer wieder als dieser Kommentar, der ganz auf dem Boden der jüdischen Tradition steht und im Medium der Übersetzung nicht zuletzt der christlichen Bibelwissenschaft das Gespräch anbietet und dabei auch die Auseinandersetzung mit ihr nicht scheut.

Geradezu sprichwörtlich geworden sind Rosenzweigs diesbezügliche Worte „Der Wissenschaft folgen wir doch immer, nur eben unserer“, die Buber zitiert. Denn anders als der (christlichen) Bibelwissenschaft jener Zeit, die – wie es den Anschein hatte – allein daran interessiert war, die Schrift zu fragmentieren, indem sie sie auf gegeneinander abgrenzbare und abgegrenzte Quellen verteilte, war es Buber und Rosenzweig in der Wiedergabe der Schrift darum zu tun, die „vorliegende literarische Ganzheit der Schrift“ wiederzugeben, „also, um die Sigel der modernen Bibelwissenschaft zu gebrauchen, nicht J (den ,Jahwisten‘) oder E (den ,Elohisten‘) usw., sondern R (den ,Redaktor‘), d. h. das Einheitsbewusstsein des Buches“. Dabei deutete Rosenzweig dieses R, wiederum anders als die (christliche) Bibelwissenschaft, nicht als „Redaktor“, sondern als „Rabbenu“ (unser Meister). Insofern hat Scholem gewiss recht, als er sagte, dass „diese Hineinnahme des Kommentars [und zwar eines auf dem Boden der jahrhundertealten jüdischen Tradition stehenden Kommentars] gerade in die entschlossenste Wörtlichkeit der Übersetzung […] eine der großen Leistungen“ dieser Bibelübersetzung ausmacht.

Eine unchristliche Bibel zwar, aber dennoch auch für Christen
Über das Ergebnis ihrer Übersetzungsarbeit waren sich Buber und Rosenzweig im Klaren, und sie sahen auch die Konsequenzen, die sie im Blick auf die – zu jener Zeit noch in anderer Weise als heute – christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft haben wird. In einem Brief an einen Freund, den Juristen Eugen Mayer (Zweibrücken 1882–1967 Jerusalem) vom 30. Dezember 1925 befürchtete Rosenzweig: „Ich fürchte manchmal, die Deutschen (d. i. die Christen) werden diese allzu unchristliche Bibel nicht vertragen, und es wird die Übersetzung der heut ja von den neuen Marcioniten angestrebten Austreibung der Bibel aus der deutschen Kultur werden, wie Luthers die der Eroberung Deutschlands durch die Bibel war. Aber auch auf ein solches Golus Bowel könnte ja dann nach siebzig Jahren ein neuer Einzug folgen, und jedenfalls – das Ende ist nicht unsere Sache, aber der Anfang und das Anfangen.“

Noch Gershom Scholem schloss seine hier mehrfach zitierte Rede mit der bangen Frage: Was werden die Deutschen, deren Sprache sich seit dem Entstehen der Übersetzung „tief verwandelt“ hat, mit dieser Übersetzung anfangen? „Werden sich die finden“, die ihn [d. i., den lebendigen Laut der Sprache, in die die Bibel einst übersetzt worden ist] aufnehmen?“

Nach außen hin hatte Rosenzweig mit seiner Befürchtung wohl nicht recht gehabt, und Scholems bange Frage scheint unbegründet. Zumindest äußerlich brauchte Die Schrift keine siebzig Jahre auf ihren Wiedereinzug in die „deutsche Kultur“ zu warten, wie all die Auflagen und Ausgaben bezeugen, die sie seit ihrer ersten Gesamtausgabe (1954–1962) erlebte. Würden sich Rosenzweig und Buber aber ohne Einschränkung darüber freuen (können), dass ihre Übersetzung als so unchristlich offenbar doch nicht empfunden wird, wie ihr Gebrauch selbst im christlichen Gottesdienst belegt?

Mit ihrer Übersetzung der Schrift wollten Buber und Rosenzweig zurück zur ursprünglichen Gesprochenheit des Wortes, eines Wortes, das gleichermaßen Juden und Christen angeht, aber beiden, Judentum und Christentum vorausgeht. Über die Rückkehr zu seiner ursprünglichen Gesprochenheit sollte das Wort neu hörbar, vernehmbar werden, um durchs Hinhören auf das Wort der Schrift jene Wahrheit wiederzuentdecken, an der Juden und Christen, und in einem weiteren Sinne auch Muslime teilhaben, je auf ihre Weise.

 

Gershom Scholem, Judaica I, S. 207–215

Ebd., S. 214–215

Ebd., S. 214

Martin Buber II, S. 1175–1182, dort S. 1175

Ebd., S. 1175

Martin Buber / Franz Rosenzweig – zum Gedenken: Aus den Anfängen unserer Schriftübertragung (1930) = in: Martin Buber und Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 316-329; Auszüge daraus in: GS IV/2, S. IX–XXI, dort S. XVIf; Buber II, S. 1175

GS IV/1: Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi

Siehe Buber in: Rosenzweig, GS IV/2, S. XIf.

GS I, S. 1021; auch in: GS IV/2, S. XVI; Buber, II, S. 1175

Brief vom 19. Juni 1925, GS I, S. 1048; auch in: GS IV/2, S. XVIf; Buber, II, S. 1175

Siehe Anm. 6, sowie Buber, II, S. 1179

Hans-Christoph Askani, Das Problem der Übersetzung – dargestellt an Franz Rosenzweig: die Methoden und Prinzipien der Rosenzweigschen und Buber-Rosenzweigschen Übersetzungen, bes. S. 152–192

Dies erinnert an das Motto, das Franz Rosenzweig, Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs (1750-1819) Anmerkung zu seiner Übersetzung der Ilias VI, 484 (1778) zitierend, einst seinem Nachwort zu den Hymnen und Gedichten des Jehuda Halevi vorangestellt hatte: „O lieber Leser, lerne Griechisch und wirf
meine Übersetzung ins Feuer“ (GS IV/1, S. 1)

Scholem, Judaica I, S. 209

Ebd., S. 210

Die Schrift und Luther (1926) = GS III, S. 749–772, dort S. 749

Buber, Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift = in: Buber II, 1111–1130, dort S. 1114

Siehe dazu die Auswahl in: GS IV/2

Buber / Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936

GS IV/2, S. IX

Ebd. – Zu Rosenzweigs Würdigung der Luther’schen Bibelübersetzung siehe Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther (1926) = in: Buber / Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, S. 88-129, und GS III, S. 749–772

GS IV/2, S. X

Siehe Anm. 21; zur Sache auch Stefan Schreiner 1985: Was Luther vom Judentum wissen konnte?, in: Heinz Kremers / Hannelore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden, S. 58–71, bes. S. 65ff.

Die Schrift und Luther, in: GS III, S. 752

Siehe dazu Buber, Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs, in: Buber, II, S. 1131-1149; Buber, Das Leitwort und der Formtypus der Rede, in: II, S. 1150-1158; Rosenzweig, Das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen (1928) = in: GS III, S. 817–829

Buber, II, S. 1177 sowie S. 1131f.

Ebd., S. 1176

Ebd., S. 1177.

GS III, S. 777–783, dort S. 779

Siehe dazu Buber, I, S. 171–214

Hier zitiert nach Nahum N. Glatzer, Rabbi Mosche ben Maimon. Ein systematischer Querschnitt durch sein Werk, S. 151–155, dort S. 152f.

Buber, Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift, in: II, S. 1111–1130, dort weitere Beispiele. Zum selben Thema siehe auch Rosenzweig, Die Bibel auf Deutsch (1926) = in: GS III, S. 791–799

Ursprünglich erschienen in: Joel Bergmann / Simon Bernfeld et. al. (Hg.), Gedenkbuch für Moses Mendelssohn, Berlin 1929, S. 96–114 = in: GS III, S. 801–815. – Günter Bader, Die Emergenz des Namens,, S. 278–300, und Nadine Schmahl, Das Tetragramm als Sprachfigur.

GS III, S. 803

Siehe auch: GS IV/2, S. 93–96

Scholem, Judaica I, S. 211

Siehe Rosenzweig, Die Bibelkritik = in: GS III, S. 747–748

Rosenzweig, Die Einheit der Bibel. Eine Auseinandersetzung mit Orthodoxie und Liberalismus (1928) = in: GS I2, S. 1134–1137; vgl. dazu auch GS IV/2, S. XII

Scholem, Judaica I, S. 211

GS I, S. 1073–1074

Scholem, Judaica I, S. 215

 

Vorstehender Text ist mit freundlicher Genehmigung des Verlags folgendem Band entnommen:
Franz Rosenzweig. Religionsphilosoph aus Kassel
Hg. von Eva Schulz-Jander und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
euregioverlag * Kassel 2011, 140 S., m. zahlr. teils farbigen Abb., Euro 20,-

© 2011 Copyright bei Autor und Verlag
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Der Autor
Stefan Schreiner, Prof. Dr., Professor für Religionswissenschaft (mit Schwerpunkt Islam) und Judaistik an der Universität Tübingen; Chefredakteur der Zeitschrift JUDAICA – Beiträge zum Verstehen des Judentums.

 

 

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