Judentum und Natur
von Daniel Neumann

Das Judentum und seine zentralen Lehren, nämlich die Thora und deren Auslegungskompendium, der Talmud, enthalten eine Vielzahl von Weisungen und Geboten, die sich direkt oder indirekt mit dem Verhältnis des Menschen zu Umwelt und Natur beschäftigen. Sie zeugen von einem geschärften Bewusstsein für den sorgsamen, schonenden und respektvollen Umgang mit der Umwelt und bilden gewissermaßen das historisch erste niedergeschriebene Naturschutzrecht. Gerade in Zeiten, in denen angesichts einer galoppierenden Klimaerwärmung ein Krisengipfel dem nächsten folgt und in denen die fortschreitende Globalisierung ebenso wie die weltweite Industrialisierung und Wohlstandsmehrung zu einer rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen führen, lohnt sich ein Blick auf die jüdischen Traditionen zum verantwortungsvollen Umgang mit unser aller Umwelt.

Schon gleich zu Beginn des Buches Bereschit, dem ersten der fünf Bücher Mose, wird die Pflicht zum sorgsamen Umgang mit unserer Umwelt als zentraler Bestandteil jüdischer Ethik formuliert. Dort heißt es „Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan...“, wobei die etwas seltsam gewählte Formulierung des „untertan machens“ laut unseren Weisen nichts anderes bedeuten soll, als dass der Mensch die Erde gebrauchen, aber nicht missbrauchen darf. Der Mensch ähnelt also einem Pächter oder besser Verwahrer, der zwar Nutzen aus dem verwahrten Gut ziehen, es aber in seiner Existenz keinesfalls gefährden darf; der sorgsam damit umgehen und sich stets der Tatsache bewusst sein soll, dass er das Verwahrte vielleicht irgendwann wieder wird zurückgeben müssen. Der restlose und hemmungslose Verbrauch natürlicher Ressourcen ist ebenso strikt verboten, wie eine umfassende Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung. Der Mensch ist Beauftragter G“ttes und in dieser Eigenschaft Bewahrer und Behüter der größten aller Schöpfungen: der Welt.

Dieser Gedanke und die mitunter vorgebrachte Annahme, dass die Menschheit gar als Partner G“ttes zu einer Verbesserung der Welt und damit des g“ttlichen Schöpfungswerkes beitragen soll, wird durch einen Abschnitt im Talmud ausgedrückt: Danach führte G“tt den Menschen, in der Stunde, in der er ihn erschaffen hatte, vorbei an allen Bäumen des Gartens Eden und verkündete: Sieh meine Schöpfungen, wie schön und wundervoll sie sind. Alles, was ich geschaffen habe, habe ich nur für dich geschaffen. Bedenke dies und zerstöre und vernachlässige nicht meine Welt. Denn wenn Du sie erst zerstörst hast, ist nach dir keiner mehr da, der sie wieder reparieren kann.

Ein weiteres Gebot oder besser gesagt Verbot, das die mutwillige Zerstörung natürlicher Güter behandelt, ist das sog. „Bal tashchit“, was übersetzt soviel bedeutet wie „Zerstöre nicht“. Das aus den Kriegsvorschriften des 5. Buch Mose, Kapitel 20 stammende Prinzip verbietet im Kern die mutwillige Zerstörung von lebenden Objekten, also Lebewesen ebenso wie Pflanzen und Bäumen, aus denen ein anderer noch Nutzen ziehen kann. Ein kluges und humanes Prinzip, das später auch auf nichtlebende Objekte ausgeweitet wurde und das gerade wegen seines Ursprungs als Verhaltenskodex während kriegerischer Auseinandersetzungen besondere Anerkennung verdient.

Doch neben diesem, durch umfangreiche Diskussion und Auslegung zu einem allgemeinen Grundsatz erhobenen Prinzip finden sich in der Thora weitere Vorschriften, die unser Verhältnis zu Umwelt und Natur klar definieren und den Umgang des Menschen mit dem ihm überlassenen Boden durch ganz konkrete Handlungsanweisungen beschreiben.

So finden wir etwa im 3. Buch Mose, Kap. 25 die Anordnung einer stetig wiederkehrenden Ruhephase für das durch den Menschen bewirtschaftete Land :  

„So ihr in das Land kommt, das ich euch gebe, so feiere das Land eine Feier des Ewigen. 6 Jahre besäe dein Feld und 6 Jahre beschneide deinen Weinstock und sammele seinen Ertrag ein. Aber im 7. Jahre sei eine Sabbatfeier für das Land, eine Feier des Ewigen; dein Feld sollst du nicht besäen und deinen Weinstock nicht beschneiden. Den Nachwuchs deiner Ernte sollst du nicht ernten und die Trauben deiner ungepflegten Weinstöcke sollst du nicht lesen; ein Feierjahr sei für das Land.“

Die seinerzeit bahnbrechende Einführung eines wöchentlichen Ruhetages, des Shabbat, in Anerkennung des Schöpfungswerks und damit das grundlegende Verhältnis von Arbeits- und Ruhephasen sowie Schöpfungsprozess und Einmaligkeit des Schöpfers, wurden auf das Verhältnis des Menschen zu dem von ihm bewirtschafteten Land übertragen. Das jeweils 7. Jahr – das sogenannte Schmittajahr oder Shabbatjahr – soll dem Boden eine Ruhepause gönnen. Er soll sich regenerieren können und neue Kraft erlangen. Und gleichzeitig sollen wir uns der Hoheit G“ttes über das Land und dessen Ertrag bewusst werden. Ich wüsste nicht, dass es in irgendeiner anderen Religion ein ähnliches Gesetz gibt, welches das Verhältnis zwischen Mensch, G“tt und Schöpfung in ähnlichem Maße regelt.

Und schließlich ist da noch Tubischwat, das Neujahrsfest der Bäume, das wir Juden jedes Jahr am 15. des Monats Schwat, also meist im Januar oder Februar, feiern und das unser Verhältnis zu Natur, Umwelt und Schöpfung eindrücklich prägt.

Ursprünglich diente der 15. Schwat, der das Ende der viermonatigen israelischen Regensaison markiert, dazu, die jährliche Pflicht-Abgabe eines Teils des Obstertrages zu bestimmen. Außerdem war dieses Datum entscheidend für die sog. Orla-Vorschriften, wonach einem Baum drei Jahre ungestörten Wachstums zu gewähren sind, bevor seine Früchte im 4. Jahr geerntet werden dürfen. Die Bäume wurden daher am 15. Schwat gepflanzt, so dass die Geburtstage der Bäume nur allzu leicht zu bestimmen waren.

Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 und der Zerstreuung der Juden in alle Welt verlor das Fest scheinbar seine Existenzgrundlage. Übrig blieb über beinahe zwei Jahrtausende ein Gedenktag, dessen Bezugspunkte, nämlich nationaler Boden, die darauf wachsenden Bäume und der Tempel nicht mehr in jüdischem Besitz oder gar zerstört waren. Was blieb, war ein nahezu entkleideter Gedenktag, der durch die Erinnerung und den gemeinsamen Verzehr exotischer Früchte aus dem heiligen Land fortexistierte. Doch spätestens seit der Besiedelung Palästinas Anfang des 20. Jahrhunderts und der Gründung des Staates Israel 1948 wurde auch dem Feiertag Tubischwat als Fest der Natur und der Bäume neues Leben eingehaucht. Dieser Feiertag ist zum Sinnbild der Aufforstung und Begrünung Israels geworden, dessen öde und trockene Landstriche seit Jahrzenten mit viel Arbeit, Kraft und Engagement zum Blühen gebracht wurden und wo mit Hilfe des israelischen Nationalfonds und mit finanzieller Unterstützung von Juden aus aller Welt Millionen von Bäumen gepflanzt wurden und weiterhin gepflanzt werden.

Gerade in Israel machen sich Schulkinder mit ihren Klassen an Tubischwat auf, um feierlich Samen zu setzen und Stecklinge einzupflanzen, während wir hierzulande die Erstlingsfrüchte Israels wie Oliven, Datteln, Feigen, Trauben und Granatäpfel genießen und G“tt mit Segenssprüchen für diese Früchte danken.

Daneben schärfen wir unser Bewusstsein für die Wunder dieser Welt und feiern das Neujahrsfest und den Geburtstag der Bäume, von denen die Thora sagt, dass sie dem Mensch gleichen.

Der frühere Frankfurter Rabbiner Ahron Daum griff dieses Gleichnis in seinem Buch „Die Feiertage Israels“ auf und schrieb: „Am Anfang ist der Baum zart und klein. Er wächst, bekommt Blätter und Früchte, strebt in die Höhe und glaubt, den Himmel zu erreichen, doch muss auch er erfahren, dass ihm Grenzen gesetzt sind. Seine Früchte und sein Laub werden mit der Zeit spärlicher, der Stamm wird anfälliger und schwächer, ein leichter Windstoß schon kann ihn umstürzen und er verschwindet. Doch er hinterlässt Setzlinge, in denen sich sein Werk fortsetzt.

Das gleiche geschieht mit dem Menschen. Auch er wird klein, zart und schwach geboren, er wächst, blüht, schafft und glaubt, die Welt zu erobern, doch Sorgen, Krankheiten und das Alter zermürben ihn. Er wird alt, müde und leidend und schließlich stirbt er. Doch hinterlässt er Kinder, die sein Werk fortsetzen und sein Andenken nicht der Vergessenheit anheimfallen lassen.“

Gerade wir Juden sollten uns stets vergegenwärtigen, dass wir nur dann kraftvoll wachsen können, wenn unsere Wurzeln fest mit dem Boden und damit tief in unserer jahrtausendealten Religion und Tradition verankert sind. Und dann ist der behutsame und respektvolle Umgang mit unserer Umwelt und der Natur ebenso wie mit unserem Schöpfer eine Selbstverständlichkeit. Ganz so, wie es die Thora, die auch Ez chajim – „Baum des Lebens“ genannt wird, vorschreibt.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen
Aus der Jüdischen Welt, HR-Sendung

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