Tel Aviv ist nicht Teheran
von Gil Yaron

Die acht Jahre alte Naama Margolis ist für Israel eine neue Art Held. In einem Land, das knallharte Generäle, selbstsichere Politiker, freche Fernsehstars und sexy Supermodels anhimmelt, ist die schüchterne Schülerin aus der Kleinstadt Beit Schemesch am Himmel der Medienstars eine Überraschung. Doch dieser Tage starrte das blonde, bebrillte Antlitz des Mädchens von allen Titelseiten. Naama wurde nach einer Fernsehreportage über Nacht zum Mittelpunkt einer politischen Debatte, an der Israel seit seiner Gründung immer wieder nagt: Der Kampf um den Charakter des Judenstaates.

Ende Dezember strahlte das Fernsehen eine Reportage über Naamas kurzen Schulweg aus, der von religiösen Extremisten zum Spießrutenlauf verwandelt wurde. Immer wieder beschimpften Fanatiker mit den langen Schläfenlocken das Kind als «Hure», andere Frauen aus Beit Schemesch berichteten, auch mal mit Steinen beworfen worden zu sein, weil ihr Rock den Fanatikern nicht lang und ihre Strümpfe nicht hoch genug waren. Übergriffe auf spärlich bekleidete Damen in der Nähe religiöser Stadtviertel gehören hier zwar zum Alltag, doch die Belästigung der züchtig gekleideten Naama hat Israel erschüttert: Nach langen Jahren, in denen religiöse Intoleranz sich immer weiter ausdehnte, haben gemäßigte Kräfte dem Phänomen jetzt den Krieg angesagt.

Dabei ist die Frauenbewegung in Israel eigentlich recht erfolgreich. Neben Zipi Liwni als Oppositionsführerin steht die Journalistin Schelly Jehimovicz an der Spitze der Arbeiterpartei. Die Richterin Dorit Beinisch hat den Vorsitz im höchsten Gerichtshof, unlängst wurde Orna Barbivai erstmals zur Generälin ernannt. Gleich fünf Frauen konnten in einer Woche im Dezember den Kampfpilotenkurs in der Armee abschließen – früher war diese prestigeträchtige Waffengattung ausschließlich Männern vorbehalten. Frauen leiten mehrere der größten israelischen Konzerne und Banken, auch in Medien, Kultur und Kunst spielen sie bedeutende Rollen. In der Kriminalisierung von Sexualdelikten habe Israel «in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte gemacht», konstatiert Professor Mordechai Kremnitzer vom Israelischen Institut für Demokratie, ein liberaler Thinktank. War es einst Usus, Sekretärinnen zu begrabschen, können Küsschen inzwischen Ministerkarrieren beenden oder Generäle in Schmach in Rente schicken. Dennoch droht der Emanzipation Gefahr.

Die Nötigung von Naama ist nur eines von vielen erschreckenden Beispielen, in denen Rabbiner versuchten, Frauen zu marginalisieren. An Friedhöfen verboten sie Witwen, Lobreden am Grab ihrer Männer zu halten. In der Armee mehren sich Zwischenfälle, in denen religiöse Soldaten sich weigern, bei Zeremonien den Stimmen von Sängerinnen zu lauschen. Seit Jahren versuchen extreme «Haredim», «Gottesfürchtige», in öffentlichen Buslinien eine Geschlechtertrennung durchzusetzen, und hatten damit teilweise Erfolg. Im Januar beschied ein Gericht, dass Frauen zwar nicht gezwungen werden könnten, in Bussen nur hinten zu sitzen, die Insassen sich jedoch freiwillig an solche ungeschriebenen Vorschriften halten dürften. In orthodoxen Stadtteilen sind selbst bekleidete Frauen von Werbepostern verschwunden, aus Angst vor Vandalismus übereifriger Haredim. Andernorts mahnen Schilder Frauen, sich «nicht vor Synagogen aufzuhalten» und getrennte Bürgersteige zu benutzen. Oppositionsführerin Liwni deutet die Frauenfeindlichkeit nur als Facette zunehmender Radikalisierung. So wurden in vergangenen Wochen mehrere Moscheen Ziel fremdenfeindlicher Übergriffe, Friedensaktivisten berichten von Drangsalierung durch militante Siedler.

Nach der Fernsehreportage kochte der Volkszorn über. Selbst manche haredische Zeitungen bezeichneten die Extremisten als «Feinde der Religion». Staatspräsident Schimon Peres rief die Bürger dazu auf, in Beit Schemesch an einer Protestkundgebung teilzunehmen: «Die gesamte Nation muss die Mehrheit vor dieser kleinen, militanten Minderheit retten», sagte Peres. Mehr als 4.000 Menschen folgten am Dienstag seinem Aufruf. Auch in anderen Städten demonstrierten gemäßigte Religiöse gemeinsam mit säkularen Israelis gegen Fanatismus: «Israel ist nicht Teheran!», stand auf manchen Postern. Der Kampf um Emanzipation diente vielen Demonstranten nur als Stellvertreterkrieg. Sie äußerten die Angst, dass ihr demokratischer, liberaler Staat von Fanatikern gekidnappt werde.

Experten wähnen zwei widersprüchliche Ursachen hinter diesem Trend. Der Rabbiner Uri Ayalon, der gegen die Radikalisierung von innen ankämpft, sieht «die Ultra-Orthodoxie in einer Identitätskrise. Internet, der Arbeitsmarkt und Medien setzen die Jugend fremden Einflüssen aus, vor denen die Eltern sie abschirmen wollen. Ihre Schwäche macht sie militanter», so Ayalon. Der Soziologe Kremnitzer hingegen erkennt einen Machtzuwachs der Orthodoxen. Sie haben im Durchschnitt dreimal mehr Kinder als andere Paare. Somit stellen sie nur 10 Prozent der Bevölkerung, aber rund ein Viertel der Erstklässler. Dank ihrer Demographie hätten sie «in der Koalition von Premier Benjamin Netanjahu so viel Einfluss wie noch nie», sagt Kremnitzer.

Netanjahu versprach jetzt Abhilfe: In einer westlichen Demokratie wie Israel müsse «der öffentliche Raum für alle offen und sicher sein», sagte er. Man werde nicht dulden, dass Frauen oder Araber angepöbelt werden, so der Premier, der die Polizei anwies, mit voller Härte vorzugehen. In der Knesset wird schon bald über gleich mehrere Gesetzesvorschläge abgestimmt, die die Bestrafung für Diskriminierung von Frauen verschärfen soll. Politiker kündigten an, mit persönlichem Beispiel voranzugehen und in getrennten Buslinien demonstrativ in der anderen Abteilung mitzufahren. Doch der Polizeichef mahnte, Justiz und Strafvollzug allein könnten der Frauenfeinde nicht Herr werden. Zwar seien inzwischen Sondereinsatzgruppen gebildet worden, um gegen das Phänomen anzugehen. Letztlich müssten sich jedoch die Rabbiner geschlossen gegen die Radikalisierung ihrer Anhänger aussprechen. Davon sei aber noch nichts zu sehen.

«Jüdische Zeitung», Januar 2012

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