Getauft, ausgestoßen – vergessen?

Eine Ausstellung

Die Vergangenheit ist nur ein Tastendruck entfernt. Martin Vorländer, Pfarrer der Dreikönigsgemeinde, drückt einen der schwarzen Köpfe über dem Bildschirm, der seit gestern in seiner Kirche aufgestellt ist. Eine alte Frau erscheint. Das silberweiße Haar trägt sie kinnlang, ihre blauen Augen blicken aufmerksam.

Marlies Flesch-Thebesius ist 91 Jahre alt. Sie hat die Zeit miterlebt, als Christen jüdischer Herkunft – nicht nur in Frankfurt – von den Nazis verfolgt und von ihren Kirchengemeinden ausgegrenzt wurden. An diese Gruppe erinnert die Ausstellung „Getauft. Ausgestoßen. Vergessen?“, mit dem die Evangelische Kirchen in Hessen und Nassau sowie von Kurhessen-Waldeck für Erinnerung plädieren. Ein Jahr zieht sie durch zwölf evangelische Gemeinden der Stadt. Auf jeder Station fügen die Mitglieder eine Tafel über die Rolle ihrer Gemeinde im Umgang mit Christen jüdischer Herkunft hinzu. Die Dreikönigsgemeinde machte gestern den Anfang.

„Ich bin 1935 hier konfirmiert wurden, konnte also einiges zur Ausstellung beitragen“, berichtet Marlies Flesch-Thebesius. Ihre Stimme klingt fest, aber ein wenig heiser; soeben hat sie im Eröffnungsgottesdienst die Fürbitte gehalten. „Mein Großvater war getaufter Jude, mein Vater nach der Definition der Nazis Halbjude. Er hatte es schwer, Fuß zu fassen.“ Dennoch fühlte sie sich in der Dreikönigsgemeinde geborgen. „Der damalige Pfarrer Martin Schmidt stand dort oben“, sie deutet mit ihrer schmalen Hand auf die Empore, „und verkündete, dass sie sich nicht von den Nazis vereinnahmen lassen.“

Diesen Teil der Geschichte hat eine Forschungsgruppe der Dreikönigsgemeinde unter Leitung von Pfarrer Vorländer und Gemeindepädagogin Natascha Schröder-Cortes für die Ausstellung erarbeitet. „Die Dreikönigsgemeinde zählte sich ab November 1934 zur Bekennenden Kirche, die sich an die Liebe Christi hielt“, berichtet Vorländer. „Viele Christen jüdischer Herkunft fanden hier Trost und Unterschlupf. Dennoch wurden 22 Gemeindemitglieder von den Nazis ermordet.“

Hartmut Schmidt wollte diesen Zahlen ein Gesicht geben. Er hat den Anstoß für die Forschungsarbeiten zu dem Thema gegeben. Mehrere Geschichtsinteressierte schlossen sich ihm an, auch Hermann Düringer von der evangelischen Akademie Arnoldshain.

Als die Evangelischen Kirchen in Hessen, Nassau und Kurhessen-Waldeck offiziell ihren Forschungsauftrag aussprachen, begann Schmidt mit der Recherche in Hunderten von Chroniken. „Als ich die endlosen Namensreihen durchging und auf den Vermerk ,israelisch‘ stieß, war das immer ein kleines Glücksgefühl“, sagt er. „Sobald ich mich aber mit den Biografien beschäftigte, die Statistiken zu Menschen und Schicksalen wurden, stockte mir der Atem.“

Schmidt weist auf einen der Aufsteller: 250 Namen von getauften Juden aus ganz Hessen sind dort verewigt, die wegen ihrer Abstammung von den Nationalsozialisten ermordet wurden oder sich aus Verzweiflung selbst töteten.

Im Januar 2013 endet die Ausstellung mit einer Finisage im Karmeliterkloster. Dann wird sie im Institut für Stadtgeschichte gezeigt, bevor sie durch ganz Hessen zieht. „Ich hoffe“, sagt Schmidt, „dass auf diese Weise viele Gemeinden einen Weg finden, sich mit den Schicksalen dieser Menschen auseinanderzusetzen.“ jro

Frankfurter Neue Presse, 30.1.2012

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