Antijudaismus im Titusbrief?
Oder Befreiung der Menschheit von aller Thorawidrigkeit?
von Klaus-Peter Lehmann

Übersetzung Titus 1,10-14
(10) Denn viele sind ungehorsam, Schwätzer und Verführer, besonders welche aus der Beschneidung,
(11) ihnen muss man den Mund stopfen, da sie ganze Häuser verwirren, indem sie lehren, was man nicht soll, um schändlichen Gewinnes willen.
(12) Einer von ihnen, ihr eigener Prophet, hat gesagt: „Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.“
(13) Dieses Zeugnis ist wahr. Aus diesem Grund widerlege sie genau, damit sie gesund werden im Vertrauen,
(14) und sich nicht halten an jüdische Mythen und Gebote von Menschen, die die Wahrheit verdrehen.

Übersetzung Titus 2,13f
(13) Wir erwarten die selige Hoffnung und Erscheinung der Ehre des großen Gottes und unseres Retters Jesus Messias,
(14) der sich für uns hingegeben hat,  damit er uns befreie von aller Thorawidrigkeit und für sich eigenes Volk reinige, einen Eiferer in  gütigen Werken.

1. Zur Auslegungsgeschichte von Titus 1,10-14
Zu den neutestamentlichen Texten, die im Verdacht stehen antijüdisch oder rassistisch zu sein, gehört auch Titus 1,10-14.
Den in V.12 zitierten Hexameter, ein Sprichwort von Epimenides,  (1)  deuten viele Ausleger als ein von Paulus übernommenes Allgemeinurteil über „die Kreter“ oder ausdrücklich als Urteil über ihren Nationalcharakter.  (2)  Hier würden „allen Angehörigen der Ethnie der Kreter negative Eigenschaften unterstellt, die sie moralisch disqualifizieren und letztlich außerhalb der menschlichen Gattung stellen.  (3)  Innerhalb des Evangeliums wäre das starker Tobak.
Aber Antisemitismus bzw. Antijudaismus sollen noch hinzukommen. Denn in V.13, der Weisung an die christliche Gemeinde, „nicht auf jüdische Fabeln zu hören“, klingt deutlich antijüdisch, auch wenn hier keine Äußerung gegen Juden vorliegt, sondern nur ein antijüdisches Vorurteil zur Bekämpfung christlicher Gegner in der Gemeinde benutzt wird. Antisemitismus wäre das dennoch. Und es würde eine ziemliche Distanz und Fremdheit, eine allgemeine negative Einstellung des Paulus zum Judentum dokumentieren. Der eigentliche Gegner der Gemeinde in der Gemeinde wäre dann gut reformatorisch bzw. lutherisch die jüdische Gesetzlichkeit oder Werkgerechtigkeit.  (4)
Natürlich nur, wenn man der Formulierung jüdische Fabeln (griech.: Mythen) eine Allgemeinaussage über den Charakter jüdischer Traditionsbildung unterstellt, nicht aber wenn man von bestimmten „sektiererischen“ jüdischen Auslegern im Umkreis des Titus ausgeht.
Wir wollen untersuchen, ob sich die Lesart einer Einzelstelle im Gesamtrahmen des Titusbriefes, im Blick auf seine Intention und seinen Horizont, bestätigt oder relativiert. In drei Schritten wollen wir die Zentralaussage des Titusbriefes herausarbeiten (2-4), um dann auf die kritischen Anwürfe genauer einzugehen (5-6).

2. Die gesunde Lehre: der gütige Wandel und das zuverlässige Verheißungswort
Paulus geht es augenscheinlich darum, die gesunde Lehre  (1,9.13; 2,1.7) im Blick auf Worte und Werke in der Gemeinde aufrecht und lebendig zu erhalten. Die Rede eines jeden soll untadelig und gesund sein (2,8) und der im Brief angesprochene Titus – also jeder, der den Brief hört oder liest – ein Vorbild gütiger Werke (1,16; 2,7.14; 3,1.8.14).   (5)
Für ältere Männer und Frauen, die die jungen verständig anleiten  (2,4) sollen, für Sklaven (2,9f) und für Älteste (2,5) wird das gütige Handeln nach der gesunden und unverfälschten Lehre eigens beschrieben. Besonders ausgreifend und umsichtig geschieht das für den Bischof  in 1,7-9. Er soll, festhaltend an dem nach der Lehre zuverlässigen Wort, fähig sein zur aufrichtenden, tröstenden Ermahnung und zur Zurechtweisung. Bei Zurechtweisung handelt es sich um Überführung, die argumentative Widerlegung von lehrmäßig Widersprechenden: antilegontas elegchein. Der lateinische Text gibt das gut wieder: et eos, qui contradicunt, arguere. Die gesunde Lehre erweist sich auch in ihrer Schlüssigkeit, in ihrer argumentativen Kraft. Trost und Ermahnung bleiben brüchig ohne Kohärenz der dahinterstehenden Lehre.
Die Quelle aber für die Kraft der gesunden Lehre zur aufbauenden Ermahnung und zur argumentativen Rechtweisung ist das zuverlässige Wort  (ho pistos logos). Damit ist das Verheißungswort des Alten Testaments gemeint, das Paulus im Präskript dieses Briefes als das vor Weltzeitaltern (epeggeilato… pro chronoon aioonioon) in der prophetischen Geschichte Israels Versprochene des nicht lügenden Gottes vorstellt und als Hoffnung auf Weltzeitleben (elpis zooees aiooniou)  (1,2).
In diesem kommenden Weltzeitalter des dauerhaften Schalom leben Israel und die Weltvölker, vom Geist der Thora angeregt und erneuert, versöhnt zusammen. Anders als vom Geist der Liebe, der aus Thora Israels kommt, angestiftet ist für die Bibel ein wirklicher, ein alle Menschen umgreifender und beständiger Frieden nicht vorstellbar (Jes 2,2-5).

3. Die Befreiung aus der thorawidrigen Selbstbezogenheit zur Güte
Diese Vorstellung steht auch hinter Titus 2,13f, wo Paulus davon spricht, dass unser Retter Jesus Christus sich für uns gegeben hat, damit er uns befreie  von aller Thorawidrigkeit / hina lutrooseetai hemas apo pasees avomias. Eine Welt befreit von aller Thorawidrigkeit! Auf diese Hoffnung hin zu leben, hat Jesus Christus auch den Heiden ermöglicht, indem er ihnen anbietet, aus ihrer Thoraferne herauszugehen, um in eine gereinigte Gemeinschaft einzutreten, ein Eigentumsvolk Jesu, das Eiferer wäre in gütigen Werken (2,14).  (6)
Die Gebote der Thora sind ausgerichtet an der Seele und Bedürftigkeit des Mitmenschen. Sie sind Wegweisungen der Güte. Unzählige Male verweist die Thora auf die prekäre soziale Lage von Witwen, Waisen, Armen, Sklaven und Fremden, die Verantwortung ihnen gegenüber als Nächsten und vor dem Herrn Israels, der die Angesprochenen zu einem Volk gemacht hat, indem er sie aus der Sklaverei in Ägypten herausführte und mit ihnen am Sinai den Bund mit der Thora als Bundesbuch schloss. Die Ethik der Thora ruft in die  Empathie für den Schwächeren, Empathie, die die Freude an seinem Wohlergehen einschließt. Hiob spricht von seinem Wandel in der Furcht des Herrn: Ich errettete den Armen, der um Hilfe schrie, die Waise, die sonst keinen Helfer hatte… das Herz der Witwe machte ich jauchzen (Hi 29,12f). Empathie bedeutet im Blick auf den Mitmenschen Güte und Mitfreude, im Blick auf sich selbst Selbstlosigkeit oder Altruismus.
Für den Wandel eines Bischofs stellt Paulus folgende Verhaltensweisen zusammen (Tit 1,8):
philoxenon = fremdenfreundlich,
philagathon = güteliebend,
soophrona = besonnen,
dikaion = gerecht,
hosion = heilig,
egkratee = selbstbeherrscht.
Dem gegenüber steht eine fast ebenso lange Negativliste (1,7). Der Bischof soll unbescholten sein, was mit fünf ausdrücklichen Abweisungen (5x mee = 5x nicht) erläutert wird:
anekleeton einai hoos theou oikonomon = unbescholten als Haushalter Gottes
mee authadee = nicht hart, (unbarmherzig, eigensinnig, grob, anmaßend),
mee orgilon = nicht jähzornig, (leicht erzürnbar, aufbrausend),
mee paroinon = kein Trinker,
mee pleekteen = kein Raufbold,
mee aischrokerdee = nicht schändlichen Gewinn suchend.
Den Sinn der Aufreihungen lehrt uns ein Blick auf eine andere in 2,12: dass wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden verleugnen und besonnen und gerecht und fromm leben in dieser Weltzeit.
Wenn wir Tit 1,7f mit 2,12 parallel lesen, dann dürfte Folgendes gelten. In den Negativeigenschaften treten uns verschiedene Gestalten der Gottlosigkeit bzw. weltlicher Begierde entgegen. Begierden (epithymia) sind selbstbezogen. Als weltliche (kosmika) werden sie einem Kosmos zugeordnet, dieser Welt im Unterschied zur kommenden. Die bestehende Welt in ihrer Ordnung ist ein geschlossenes System selbstbezogener Begierden oder Paradigmata. Die Thora beinhaltet einen Paradigmenwechsel zur Nächstenliebe, zur Güte und Selbstlosigkeit. Mit den Positiveigenschaften exemplifiziert Paulus den thoragemäßen Weg der Güte. Die Befreiung aus dem thorafeindlichen Kosmos der menschlichen Selbstbezogenheit hat für die Hörer des Briefes das messianische Werk Jesu eingeläutet, seine Lebenshingabe, seine Liebe, die den Tod besiegte. Die Nachfolge Jesu ist der Auszug aus dem Kosmos der Egomanie (amor sui).  (7)  Sie erweist sich in thoragemäßen gütigen Werken, Taten der Nächstenliebe.

4. Utilitarismus ist unvereinbar mit dem Lehr- und Hirtenamt des Bischofs
Eine Negativeigenschaft erscheint hervorgehoben oder betont, das griechische aischrokerdees = auf schändlichen Gewinn aus. Sowohl als letztes Beispiel in der Reihe der bischöflichen Untugenden (1,7) als im direkt folgenden Abschnitt (1,11) wird die schändliche Gewinnsucht als Laster der gesunden Lehre gegenübergestellt. Diese Hervorhebung ist der Sache nach gerechtfertigt, weil das griechische gewinnsüchtig in besonderer Weise das Wesen der weltlichen Begierden als Gegensatz zur Gesinnung der Güte charakterisiert. Das Wort enthält in der moralischen Verurteilung, die es durch die Verschmelzung zweier Worte (aischros = schändlich mit kerdos = unrechtmäßiger Gewinn ausdrückt, die Kritik einer Gesinnung, nämlich des Utilitarismus. Der Bedeutungshorizont des griechischen Wortes kerdos impliziert diese Sicht. Denn kerdos meint nicht nur den handfesten Gewinn, sondern auch das Allgemeinere, den Vorteil bzw. Nutzen, und die Haltung, die zu ihm führt, Klugheit, List. Der Rahmen utilitaristischen Denkens, des Nützlichkeitsdenkens, ist damit ziemlich präzise abgesteckt. Der Selbstbezogene und der Gewinnsuchende lassen sich leiten vom eigenen Nutzen und Vorteil. Weil Menschen in einem sozialen Gefüge handeln, ist der Vorteil des einen, der Nachteil eines anderen. Utilitarismus bedeutet Übervorteilung, Schädigung eines anderen. Ein solches Verhalten ist, ist wegen fehlender Moral schändlich. So vermag das griechische aischrokerdees besonders die Thorawidrigkeit menschlicher Selbstbezogenheit und weltlicher Begierden zu verdeutlichen.
Im Alten Testament taucht das Synonym zu aischrokerdees (bätza) an einer zentralen Stelle auf (Ex 18,21), als Jithro seinem Schwiegersohn Mose rät, die Rechtsprechung in Israel auf viele Richter zu verteilen und dafür Gottesfürchtige, Männer der Wahrheit, Gewinn hassende auszuwählen. Auch der Prophet Jeremia stellt das Gewinnstreben der Erkenntnis Gottes gegenüber (Jer 22,16f). Ebenso Ps 119,36: Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen, nimmer zum Gewinn. Wie der Apostel Petrus sieht der Prophet Jesaja die Gewinnstrebenden als die falschen Hirten an, die sich nicht mit Wissen und Einsicht um ihre Herde kümmern (Jes 56,11).
Nicht nur Paulus konnte im Utilitarismus den Fokus der Gesinnungen dieser Welt sehen, auch Petrus stellte die schändliche Gewinnsucht einer Haltung gegenüber, die einen Menschen zum Zeugen der Leiden Christi und zum Genossen der Herrlichkeit, die offenbart werden soll macht: Hingebung. Weidet die Herde Gottes bei euch nicht aus Zwang, sondern freiwillig, Gott gemäß, nicht für einen schändlichen Nutzen, sondern in Hingebung (mee de aischhrokerdoos alla prothymoos, 1Petrus 5,1f). 
Der Kreis schließt sich zum Gegenüber von Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit. Denn die griechische Hingebung = prothymia (Mut, Bereitwilligkeit für jemanden da zu sein, ihm beizustehen) steht als passende Kennzeichnung der von der Thora gebotenen Güte der Begierde = epithymia (sinnliches Verlangen, Lust) als Gegensatz gegenüber. Auch wenn das Wort agapee hier nicht auftaucht, so scheint sie doch der heimliche Mittelpunkt des Titusbriefes zu sein.

5. Antijudaismus?
Denn viele sind nicht unterstellt (scil. der Thora) eitle Redner und Seelenbetrüger, besonders welche aus der Beschneidung (Tit 1,10). Liegt hier Antijudaismus vor? Oder können wir hier das Gegenüber von Thora-Güte und weltlicher Selbstbezogenheit wiedererkennen? Alles Reden und Handeln, das nicht von der Güte der Thora, die den Hörern durch den Messias Jesus eröffnet worden ist, getragen wird, läuft auf Nichtigkeit, leere Hoffnungen und also Seelenbetrug hinaus. Das ist sicher die Meinung des Apostels. Dass viele der Seelenbetrüger jüdisch sind, spielt keine grundsätzliche Rolle, es könnte eine Erfahrung ausdrücken. Hat es mit dem von Paulus in Röm 2,17ff angesprochenen Stolz, Licht der Völker zu sein, zu tun?  
Weiter führt ein Blick auf das baldige: damit sie gesund werden im Vertrauen und sich nicht halten an jüdische Mythen und Gebote von Menschen (1,13f). Wenn wir davon ausgehen, dass es Mythen im Umkreis der Thora nicht gibt, die biblische Weltsicht eine ganz und gar  nichtmythische ist, jüdische Mythen also eine contradictio in adjecto, ein Selbstwiderspruch sind, dann kann es sich hier nur um nicht thoragemäße Auslegungen von jüdischer Seite handeln, z.B. um ins Mythische übergreifende Midraschim.
Bei den Geboten von Menschen wird es sich um heidnische Gesetze oder Moralsysteme handeln. Denn die jüdischen Gebote der Thora sind für die Bibel immer von Gott.  
So gesehen hätte das Ganze mit Antijudaismus nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine präzise und umfassende Formulierung für das, wovor sich die Thoratreue auf ihrem Weg (Halacha) der Nächstenliebe oder Güte hüten muss, vor einer Abirrung der jüdischen Erzähltradition (Midrasch) ins Mythische und vor einer Assimilation an heidnische Gesetze.

6. Rassismus?
Sicher kommt auch das Epimenides-Zitat über die Kreter unter die den Titusbrief thematisch strukturierenden Gegensatzreihen zu stehen. Der Charakter der Kreter kontrastiert mit der gesunden Lehre und wird mit Utilitarismus, Gewinnsucht und anderen selbstbezogenen Eigenschaften in einer Reihe gesehen.
Die Kreter sind allezeit Lügner, böse Tiere, faule Bäuche. Zweifellos muss man das als Charakterbeschreibung eines Volkes oder einer Kultur bezeichnen. Wobei man sich vielleicht von der im völkischen Denken verwurzelten Vorstellung frei machen sollte, als ziele das auf den seelischen Charakter jedes einzelnen Individuums. Eine absolut umgreifende Totalität in der Bestimmung der Gruppe der Kreter muss dieser Satz nicht meinen. Es könnte sich um dominante Züge, vorherrschende oder besonders häufig vorkommende Verhaltensweisen handeln. Bei der Rede von patriarchalisch geprägten Kulturen z.B. wird davon ausgegangen. Und gleichzeitig davon, dass es unter dem Zwang weithin gleichförmiger Erziehung für ein Individuum  möglich, aber sehr schwer ist, sich so einer kulturellen Prägung zu entziehen. Aus der Perspektive eines Opfers oder desjenigen, der sich gegen umfassende Widerstände und unter Leiden befreien konnte, wird die Verallgemeinerung wahr, natürlich nicht im naturwissenschaftlichen Sinne, aber als wahre Erfahrung mit einer Kultur.  (8) 
So unterstelle ich, dass Paulus davon ausgeht, dass die Menschen außerhalb einer vom Gebot der Nächstenliebe geprägten Kultur utilitaristisch denken. Das könnte auch den dominanten Zustand der heutigen Welt treffend beschreiben. Die verschiedenen heidnischen oder nationalen Kulturen wären nur unterschiedliche Ausformungen der den Kosmos, diese Welt, ihre Kulturen und Gesellschaften beherrschenden menschlichen Selbstbezogenheit.   
So könnte das Kreter-Zitat eine besondere Form der global  herrschenden Selbstbezogenheit und des Nützlichkeitsdenkens meinen. Vielleicht meint es eine Art von barbarischem Egoismus, der unter keiner zivilisatorischen Decke versteckt  ist, wie etwa teilweise bei der römischen und griechischen Kultur. So ließe sich das Zitat von Epimenides auch deuten.
Ist es letztlich so entscheidend, wie Paulus das Zitat im Einzelnen verstanden hat? Welche Rolle spielt das für die Auslegung des Briefes? Dem Apostel geht es doch um Auferstehung aller Menschen zu einem  neuen Adam, einer neuen Menschheit, um die Befreiung von allem thorawidrigem Wesen durch den Gott Israels und durch seinen Sohn, den Messias Jesus. Das heißt, er sieht von vornherein eine Einbruchsmöglichkeit in die kulturellen Systeme der Selbstbezogenheit. Paulus geht davon aus, dass alle Menschen vom Gott Israels, seinem Messias und der Botschaft seiner Gerechtigkeit aus ihren Versklavungen, aus ihrer allgemeinen Geprägtheit, von woher sie auch immer kommen mag, erlöst werden können. Aus Gewinngierigen können Fremdenfreundliche werden, aus Utilitaristen solche, die die Güte lieben, aus bösen Tieren welche, die den Nächsten lieben.

7. Die Gemeinde Jesu – lebendige Hoffnung auf ein neues Leben nach der Thora
Weil es an uns Ereignis geworden  ist, weil Jesus aus reiner Barmherzigkeit Heiden aus dem Kosmos selbstbezogener Begierden gerettet hat, damit sie unter dem Hoffnungshorizont des Reiches Gottes, den Verheißungen und Geboten der Thora, leben, kann das auch mit jedem anderen Menschen, also der Menschheit geschehen:
(3,3) Denn auch wir waren ehemals unverständig, ungehorsam, gingen irre, dienten mancherlei Begierden und Lüsten, lebten in Bosheit und Neid dahin, verhasst, einander hassend.
(4) Als aber die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschienen war,
(5) hat er uns nicht aufgrund von Werken in Gerechtigkeit, die wir getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit, gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung kraft des heiligen Geistes,
(6) den er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Messias, unseren Retter,
(7) damit wir, durch seine Gnade gerecht gesprochen, gemäß der Hoffnung Erben des Weltzeitlebens würden.
Die Gnade Jesu Christi versetzt durch seinen Rechtsspruch in den Stand eines nach der Thora gerechten Menschen und so in die Erbengemeinschaft der mit Israel auf weltweiten Schalom Hoffenden.  (9)

(1) Epimenides aus seiner Schrift Theogonia. Er lebte im 6. Jh. a.C. Es wird auch die Meinung vertreten, der Ausspruch sei erst später von Clemens von Alexandrien dem Epimenides zugesprochen worden.
(2) J.A. Bengel, Gnomon; D. Bonhoeffer, DBW 15, S. 327; J. Jeremias, NTD 9, S. 62f
(3) W. Stegemann, Antisemitische und rassistische Vorurteile in Titus 1,10-16, Kirche und Israel 1.96, S. 59
(4) DBW, a.a.O.
(5) Gütig für das griechische kalos trifft den zwischenmenschlichen Sinn der Gebote der Thora deutlicher als gut.
(6) Zweifellos erinnert das griechische Wort für Eiferer = zeelootees an die für die Freiheit Israels eifernden Zeloten und an den für die Reinheit seines Volkes eifernden Gott.
(7) Incurvatus in se ipsum bzw. amor sui  war für die reformatorischen Theologen die allgemeinste Beschreibung für Sünde. Melanchthon spricht von der humani cordis pravitatem = Verkrümmtheit des menschlichen Herzens, die er an selbiger Stelle als sese ardentissime amet = sich selbst aufs glühendste liebt erläutert(Loci communes, 2,8).
(8) Aus der Sicht eines Verfolgten, der keinen Beistand findet, ist der erschrockene Satz Eitel Trug sind die Menschen alle (Ps 116,11) wahr. Dasselbe gilt für in NS-Deutschland verfolgte Juden, für die alle Deutschen Nazis waren.
(9) Ich gehe davon aus, dass die Botschaft des NT von der universal befreienden Liebe des Messias Jesus eine exegetische Anwendung, eine Aktualisierung des universalen Horizontes der Thora und ihrer Verheißungen ist und auch der pharisäischen Auslegung, die in der Liebe den universal ausstrahlenden Mittelpunkt der Thora erblickte.

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