Schma Israel – Fundament des Glaubens
von Daniel Neumann

Denken Sie doch einmal kurz darüber nach, wie wir Menschen in der heutigen, modernen Zeit miteinander kommunizieren. Sie werden feststellen, dass wir uns in einer Phase der Verkürzung und Verdichtung befinden. Das gilt besonders, mit Blick auf Kommunikationsdienste wie etwa Twitter, durch die einer interessierten, aber oft unüberschaubaren Anzahl von Empfängern kurze Textnachrichten übermittelt werden, oder hinsichtlich elektronischer Mitteilungen wie SMS, also solcher Kurznachrichten, die per Handy mit maximal 160 Zeichen Inhalt versendet werden können. Informationen, Neuigkeiten oder Gefühlsbekundungen werden daher auf das Wesentliche komprimiert und in höchstens 160 Zeichen durch das elektronische Universum gejagt. Was man zu sagen und mitzuteilen hat, muss in wenige Sätze und Worte passen.

Da sind wir Juden eigentlich ganz gut dran: Weil nämlich unser wichtigstes Gebet, das Schma Israel, das jüdische Glaubensbekenntnis, ohne weiteres in einer Kurznachricht Platz hat und damit dem 160-Zeichen-Limit genügt.  Denn zumindest in seiner Urform umfasst es im hebräischen Original gerade einmal 6 Worte.
6 Worte oder 25 Zeichen, die die Essenz des jüdischen Glaubens sind, das Extrakt der jüdischen Lehre. SchmA Israel adonai elohejnu adonai echaD. Höre Israel, der Ewige ist unser G“tt, der Ewige ist einzig.

Diese Worte sind es, die seit biblischen Zeiten die verdichtete und konzentrierte Botschaft des Judentums transportieren, das Bekenntnis an den einen und einzigen G“tt, die Grundlage des Monotheismus.  Und so reduziert und knapp die in diesem Satz zum Ausdruck kommende Kernaussage auch zu sein scheint, so vielschichtig und komplex sind doch die Inhalte, die uns dadurch vermittelt werden und die das Fundament des Judentums bilden.

Schauen wir uns das jüdische Glaubensbekenntnis zunächst einmal näher an:
Während das Schma Israel zu biblischen Zeiten noch aus 6 Worten bestand und täglich rezitiert werden sollte, wurde es vor gut 1800 Jahren um drei Absätze aus der Thora erweitert. Es umfasst seither und nach wie vor samt einer kurzen Einleitung 248 Worte. 248. Genau so viele, wie es positive Gebote im Judentum gibt.

Das Schma Israel ist das erste Gebet, das ein jüdisches Kind lernt und es sollen die letzten Worte sein, die ein Jude spricht, bevor er stirbt. Es sind die Worte von denen es nach der Überlieferung heißt, dass der Märtyrer Rabbi Akiba sie während der Folter durch seine Widersacher und des anschließenden Todeskampfes sprach.
Und es ist zentraler Bestandteil des täglichen Morgen- und Abendgebets, in dem es jeweils in höchster Konzentration und mit geschlossenen Augen rezitiert wird.
Dabei ist das Schma Israel genau genommen gar kein Gebet im eigentlichen Sinn.
Denn während das ritualisierte jüdische Gebet aus den Bestandteilen „Lobpreisung, Bitte und Dank“ besteht, handelt es sich hier um ein Bekenntnis, das die Elemente eines Gebetes vermissen lässt. Das macht es als Grundfeste des monotheistischen G“ttesbekenntnisses aber natürlich nicht weniger wertvoll oder gar unvollkommen. Ganz im Gegenteil: Denn das außergewöhnliche an dem zentralen Satz des „Höre Israel“ ist der Umstand, dass ein Jude damit nicht nur Zeugnis über seinen Glauben ablegt, sondern auch, warum er glaubt!

„Höre Israel, der Ewige ist unser G“tt, der Ewige ist einzig“. In diesen wenigen Worten, die ebenso die persönliche Bekundung eigener Glaubensinhalte wie auch die Aufforderung und kollektive Anerkennung dieser Inhalte durch das jüdische Volk beinhalten, finden sich die Kernaussagen der ersten beiden der 10 Gebote wieder, die das Volk Israel am Berg Sinai von G“tt erhielt.
„Ich bin der Ewige, dein G“tt“, also das erste Gebot und „Du sollst keine anderen G“tter neben mir haben“, das 2. Gebot, werden im Schma Israel als Grundlage des jüdischen Glaubens zusammengefasst.
Es sind nach traditioneller Überlieferung eben jene beiden Gebote, die G“tt direkt zum Volk Israel sprach, das sich am Sinai versammelt hatte. Die beiden Gebote, die er unmittelbar befahl.
Ohne Vermittler, ohne Mittelsmann, ohne Propheten.
Die Thora enthält insgesamt 613 Mitzvot, also Ge- und Verbote, doch während Moses 611 Mitzvot bei seinem vierzigtätigen Aufenthalt auf dem Berg Sinai übermittelt wurden und er sie an das Volk weitergab, wurden diese 2 Gebote von dem Ewigen selbst dem gesamten Volk offenbart.
Eine Bestätigung findet sich nicht nur in den Ausführungen der Thora und des Talmud, deren Auslegungskompendium, sondern auch in dem Zahlenwert des Wortes Thora selbst. Da die hebräischen Buchstaben zugleich auch Zahlenwerte besitzen, ergibt sich aus der Addition der Buchstaben des Wortes Thora die Summe 611. 611 nicht 613. Denn es waren nur 611 Gebote, die Moses auf Weisung des Ewigen weitergab, 2 stammen direkt von G“tt.

Diese Gebote sind der Anlass, weswegen sich das Judentum von anderen Offenbarungsreligionen unterscheidet. Und sie sind der Grund, weswegen das traditionelle Judentum die Thora als g“ttlich, wahr und zeitlos betrachtet.
Denn es gibt zwar auch andere Offenbarungsreligionen, die auf einem hervorgehobenen Erlebnis ihres jeweiligen Religionsgründers fußen. Religionen, deren Gründer eines Tages von einer Begegnung mit G“tt, einem Engel oder einem sonstigen Abgesandten berichteten, die von Erleuchtung oder g“ttlicher Eingebung erzählten und erklärten, nun berufen, inspiriert oder beauftragt zu sein, die jeweilige Religion zu begründen und die empfangene Botschaft in die Welt zu tragen.
Doch in keiner anderen Religion hat eine Form der Offenbarung stattgefunden, die auch nur in Ansätzen mit der Erfahrung des Jüdischen Volkes am Berg Sinai vergleichbar wäre. Sie war direkt, unmittelbar und unvergleichlich. Sie fand nicht gegenüber einer Einzelperson oder gegenüber einer bestimmten, exklusiven Gruppe statt, sondern vor dem ganzen Volk. Vor Männern, Frauen und Kindern. Sie ist in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und wird von Generation zu Generation weitergetragen. Sie ist der Grund, weshalb ein Jude glaubt.

Ein Midrasch, also eine Erzählung, verdeutlicht diesen Gedanken: Einst starb ein mächtiger König. Er hinterließ zwei Söhne, die beide um die Nachfolge als Thronfolger warben, da der König zu Lebzeiten keinen Erben bestimmt und keine Regelung für die Thronfolge vorgesehen hatte. Nachdem schon Wochen vergangen waren und sich auch die Weisen am Königshof nicht einigen konnten, erklärte der ältere der beiden Brüder eines Tages, dass nun fest stehe, dass er König werden müsse. Vergangene Nacht sei ihm sein toter Vater im Traum erschienen und habe ihm offenbart, dass er der rechtmäßige Thronfolger sei. Der Älteste der Weisen antwortete ihm daraufhin: „Hätte dein Vater tatsächlich gewollt, dass Du ihn auf dem Thron beerbst, so hätte er nicht dir im Traum erscheinen müssen, sondern uns anderen!“
 
Das Schma Israel zeugt von dieser Vorstellung. Nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Art und Weise, wie es geschrieben wird. Seit jeher werden der letzte Buchstabe des ersten Wortes und der letzte Buchstabe des letzten Wortes des Bekenntnisses besonders groß geschrieben.
Diese eigentümliche Schreibweise findet sich in jeder Thora-Rolle und wird sich auch in Zukunft in jeder finden. Doch was haben die großen Buchstaben mit der Erfahrung und dem Bekenntnis zu tun?

Darauf gibt es gleich zwei Antworten: Das erste Wort SchmA lautet übersetzt Höre, während der letzte und auffällige Buchstabe, das Ajn auch Auge bedeutet. Hören und Sehen sind die beiden maßgeblichen Sinne, die es uns ermöglichen, unsere Umwelt zu erfahren und Ereignisse zu erfassen.
Diese beiden Sinne waren es, die uns die Offenbarung am Sinai haben erleben lassen.
Verbindet man nun die beiden großen Buchstaben miteinander, also den letzten Buchstaben des ersten und des letzten Wortes des Schma Israel, so ergibt sich ein neues Wort: Aid. Was übersetzt Zeuge bedeutet. Wir waren Zeugen. Zeugen des einmaligen Ereignisses am Berg Sinai. Zeugen von G“ttes Offenbarung. Das Volk Israel verlässt sich nicht auf eine einzelne Person, die von sich sagt, eine g“ttliche Eingebung erhalten zu haben. Die behauptet, allein erleuchtet worden zu sein. Die erklärt, exklusive Empfängerin des g“ttlichen Willens und g“ttlicher Wahrheit zu sein.
Nein.
Wir Juden glauben, weil unsere Vorfahren die Offenbarung des Ewigen mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen haben. Weil sie Zeuge geworden sind. Persönlich und leibhaftig. Individuell und gleichzeitig inmitten einer ganzen Nation. Und diese Erfahrung geben sie weiter. Die Eltern an die Kinder. Von Generation zu Generation.
Das Schma fordert uns auf zu bezeugen und wir folgen diesem Ruf. Wir bezeugen, dass es einen G“tt gibt und dass dieser G“tt der einzige ist. Und dies tun wir in der tiefen Überzeugung, Teil eines Volkes zu sein, das an der einmaligen und einzigartigen Offenbarung vor gut 3300 Jahren hat teilhaben dürfen.
Dort hat das Jüdische Volk Auftrag und Lehre erhalten und bis heute ist es Aufgabe eines jeden Juden sich dessen bewusst zu werden und danach zu leben.
Auf der Basis des Schma Israel. Dem Fundament des jüdischen Glaubens.

Und all dies obwohl dieses Fundament doch so kompakt und auf das Wesentliche konzentriert ist, dass es sogar in eine moderne Kurznachricht passen würde.
Eine g“ttliche Nachricht mit Millionen von Empfängern.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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