„In Verantwortung für den Anderen“:
„die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten konnte“
von Marten Marquardt

Sind wir wirklich schon so weit?

Das ist ja ein sehr anspruchsvolles Motto für die diesjährige Woche der Brüderlichkeit. Denn fast jede und jeder wird dabei assoziieren: Natürlich haben wir – gerade angesichts unserer Vergangenheit – Verantwortung für „den Anderen“ Und jeder deutsche Bundeskanzler, bzw. Bundeskanzlerin, und jeder deutsche Außenminister und jeder Bischof, jede Bischöfin hat es bei jedem Besuch in Israel mit genau diesen Worten artikuliert: „Wir Deutschen haben Verantwortung ...“ , meistens fügen wir dann noch hinzu „eine besondere ... Verantwortung für Israel.“ Und die Presse nimmt das mit wohlwollendem Einverständnis auf. Es scheint eine selbstverständliche Summe unserer „Vergangenheitsbewältigung“ zu sein, dass wir nun zu unserer Verantwortung für die Anderen, in diesem Fall besonders für „die Juden“, bzw. – wie wir aus einer merkwürdigen Mischung aus Befangenheit und einem besonderen Bemühen um vermeintliche politische Korrektheit oft formulieren – für „die jüdischen Menschen“ stehen.

Ich bin kein Festredner. Aus geschwisterlichen Gründen bin ich hier viel eher ein Fragesteller. Und so möchte ich die scheinbare Selbstverständlichkeit dieses Mottos zunächst einmal einfach in Frage stellen. Sind wir wirklich schon so weit, dass wir Verantwortung für Israel übernehmen könnten? Und welches Israel wäre denn da gemeint? – Sind wir wirklich der Meinung, dass wir für „die Juden“ antworten könnten? Und würde unsere Verantwortung für alle Juden gelten oder nur für einige? Ist es nicht – auch nach mehr als 60 Jahren – zumindest viel zu früh, wenn nicht grundsätzlich unmöglich, so das jüdisch-christliche Verhältnis zu artikulieren: Wir Christen haben und übernehmen die Verantwortung für „den Anderen“, die Anderen, für die Juden?

Und auch die umgekehrt denkbare Fragestellung ist erlaubt. Sollten, könnten unsere jüdischen Geschwister wirklich für uns, für diese so chimärenhaft erscheinende christliche Welt, die Verantwortung übernehmen?

Ich bleibe hier bei unserer christlichen Perspektive. Das würde ja in unseren Kirchen und in unserer Gesellschaft nach der langen Vorgeschichte christlicher und bürgerlicher Verantwortungslosigkeit gegenüber „dem Anderen und  den Anderen“ eine Befreiung und eine Umkehr voraussetzen, die so belastbar wäre, dass künftige Generationen von „Anderen“ blindlings über diese Brücke zu uns herüber schreiten könnten und sicher wären, dass sie hier unter uns auch als „Andere“ uneingeschränkt willkommen und integriert leben könnten.
Die Städtenamen Zwickau und Magdeburg, die Personennamen Thilo Sarazin und Richard Williamson, die Praxis der Judenmission, die noch immer nicht in allen unseren Kirchen geächtet ist, und die jüngsten Umfragen zum Thema Antisemitismus beweisen aber, dass das auch in der 60. Woche der Brüderlichkeit so nicht stimmt.

„Gib Antwort, Adam!“

Es ist eine sinnfällige Besonderheit, dass in dem deutschen Wort „Verantwortung“ bereits der kommunikative Begriff des Antwortens enthalten ist: Sich verantworten, heißt „Antwort geben“ im Blick auf eigenes Verhalten. So geht die Menschengeschichte in der Tora los:

Die Schöpfung ist geschafft, der Garten Eden ist bereitet, nun könnte das erste Treffen des Schöpfers mit seinen beiden menschlichen Geschöpfen Adam und Eva „im Abendwind“ ganz entspannt und fröhlich verlaufen. Da heißt es in Gen 3, 8-9:

„Und sie hörten die Schritte des HERRN, Gottes, wie er beim Abendwind im Garten wandelte. Da versteckten sich der Mensch und seine Frau vor dem HERRN, Gott, unter den Bäumen des Gartens. Aber der HERR, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?

Das erste also, was wir in dieser Hinsicht hören, ist, dass Adam und Eva gefragt sind, dass sie Antwort geben sollen und dass sie sich der Aufforderung zu antworten, von Anfang an zu entziehen versuchen. Aber Adam und Eva, der Mensch, das ist das Wesen, das antworten muss. – Da geht es zuerst einmal nur um Antwort, noch gar nicht um Verantwortung. Da geht es zuerst einmal um Vergangenes, sogar um gerade eben erst Vergehendes, weswegen Adam und Eva zur Rede gestellt werden, worauf sie Antwort geben sollen, noch gar nicht einmal um die Zukunft. Und so, im Blick auf die gerade erst erlebte Vergangenheit, sollen sie sich vor Gott verantworten.

Denn DER ANDERE, das ist hier zu allererst einmal Gott. Adam und Eva haben die Pflicht, sich vor DEM ANDEREN, vor Gott, von Anfang an auch für die allerjüngste Vergangenheit zu verantworten.

Sich verantworten ist immer ein Antwort geben auf voraus liegende Fragen und Ereignisse. Sich verantworten und Antwort geben bezieht sich immer zuerst auf die Vergangenheit.

Adam und Eva, das ist das Wesen, das sich so vor DEM ANDEREN, vor Gott, zu verantworten hat.
Ich sage darum: Basaler als die Verantwortung für irgendwen und irgendetwas ist die Verantwortung vor DEM ANDEREN, die uns zu Menschen macht. Und ehe wir von einer Verantwortung für sprechen können, müssen wir von der Verantwortung vor DEM ANDEREN sprechen. Das ist die Morgengabe der Schöpfung für Adam und Eva, dass sie in jeder Hinsicht Verantwortung vor DEM ANDEREN haben, dass sie DEM ANDEREN antworten müssen, sofern sie nicht Robinsonade auf einer ontologischen Insel spielen wollen.

„... sonst bin ich – sozusagen – nicht Gott“

Aber der Gott Abrahams und Isaaks – in dieser Hinsicht wirklich auch DER GANZ ANDERE – lässt es dabei nicht bewenden. In einer sehr tiefsinnigen jüdischen Auslegung zum ersten Vers des Psalms 123

Ich hebe meine Augen auf zu DIR, der DU im Himmel für mich wohnest“ (Ps 123, 1 hebräischerText)

wird diskutiert, wieso Gott „für mich“ im Himmel wohnt. Und die Antwort lautet: Das „für mich“ bedeutet, dass Gott sich so sehr an Israel bindet, dass ER sozusagen seine ganze Existenz von Israel abhängig macht. Und auf dem Gipfel der Diskussion heißt es dann aus Gottes Mund: „Sofern ihr mich bekennt, bin ich Gott. Wenn ihr mich aber nicht bekennt, dann bin ich – sozusagen – nicht Gott.

Hier wird dem jüdischen Adam nun tatsächlich auch Verantwortung für Gott zugeschrieben: der sich vor Gott zu verantworten hat, muss hier sogar auch für DEN GANZ ANDEREN Verantwortung übernehmen.

Und so lässt das Motto der diesjährigen WdB mit der Formulierung „Verantwortung für“ zunächst einmal daran denken, dass der Gott Israels seine eigene Existenz daran gebunden hat, dass Israel IHN bezeugen und bekennen kann. Und wir Nichtjuden hätten dann zunächst von unserer Verantwortung für DEN GANZ ANDEREN zu sprechen, bevor danach auch von unserer Verantwortung für den Anderen die Rede sein kann. Wir haben IHN aus unserer Welt quasi ausgeschaltet, indem wir Israel vergessen, übergangen und zu zerstören und damit Israels Zeugnis für Gott unmöglich zu machen versucht haben.

Und die zunehmende theologische Sprachlosigkeit – die religiöse Fundamentalisten auf allen Seiten ja nur mit Sprachprotzigkeit zu übertönen versuchen – scheint mir auch ein Reflex dessen zu sein, dass wir unsere Verantwortung vor und für Gott nicht genügend wahrgenommen haben. Indem wir Israel in unserer Geschichte den Grund für jedes Gotteslob und -bekenntnis zu entziehen versucht haben, indem wir vielmehr dazu beigetragen haben, dass Israel Gott anklagen, ja an Gott zweifeln und verzweifeln konnte, haben wir Gottes Existenz in Frage gestellt. Das sollten wir auch im Blick haben, wenn wir in diesem Jahr von Verantwortung für den Anderen sprechen.

„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (Gen 4, 9) :
„Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10, 29)

Gefragt sein, Antwort geben müssen und damit auch für Gottes Existenz sozusagen Verantwortung tragen zu müssen, das hängt nun in der biblischen Urerzählung unmittelbar zusammen mit der Pflicht, Antwort zu geben und Verantwortung zu übernehmen für den Bruder, die Schwester. Verantwortung für DEN ANDEREN und Verantwortung für den Anderen sind biblisch unmittelbar verbunden und auf einander bezogen. Unmittelbar auf das Kapitel mit der Urfrage nach des Menschen Nähe zu Gott, „Adam wo bist du?“, folgt das Kapitel mit der Urfrage nach des Menschen Nähe zum eigenen Bruder: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ Und Kains Antwort ist die Leugnung jeglicher Verantwortung für den Mitmenschen: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (Gen 4, 9). Das ist gleich am Anfang die freche Leugnung meiner Verantwortung für den Anderen.

Die Gegenfrage des Schriftgelehrten auf Jesu Gebot der Nächstenliebe hin lautet: „Wer ist denn mein Nächster? Diese Gegenfrage ist genauso frech wie die Kainfrage. Auch sie leugnet praktisch jede Verantwortung für den Anderen, indem sie die Beziehung zu dem Anderen zum Anlass für eine theoretische Erörterung nimmt. Jesus antwortet dagegen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter höchst praktisch und sagt: Schau doch hin, da liegt er dir vor den Füßen, der dich als seinen Nächsten braucht. Du bist der Nächste. Du bist der Andere. – Mit der Kehrtwendung hin zur Praxis des Fragestellers selbst ist nun jede weitere theoretische Befassung ausgeschlossen. Wenn ich auch „der Andere“ bin, dann kann ich mich der Verantwortung nicht mehr entziehen.

Aber nun sind ja Kain und Abel noch vorabrahamische Menschen. So wie die ganze biblische Urgeschichte so handelt auch die Kain-und-Abel-Geschichte von einem alle Religionen und Kulturen übergreifenden Thema. Und auch Jesus hat ja mit dem Samariter bewusst über den Bereich jüdischer Rechtgläubigkeit hinausgegriffen und aus der Frage der Verantwortung für den Anderen ein gesamtmenschliches Thema gemacht.

Und es scheint ein gesamtmenschliches Thema zu sein, dass wir doch wohl alle dazu tendieren, die Verantwortung für den Anderen nach Möglichkeit weit von uns zu weisen, bzw. sie nach Möglichkeit ganz zu leugnen. Schreckensnamen aus den Nachrichten der jüngsten Zeit, wie z. B. „Abu Graib“ oder „Guantanamo“ oder „Anders Behring Breivik“ und die norwegische Insel „Utoya“ sprechen da eine eindringliche eigene Sprache. – Damit sprengt die Formulierung „Verantwortung für den Anderen“ den bisher exklusiven Rahmen der jüdisch-christlichen Beziehung. Diese Ausweitung ins allgemein Menschliche birgt
zugleich Chancen und Gefahren.

„Wisst ihr denn überhaupt, was das ist: ein Mensch?“

Die Gefahren einer Generalisierung ins Allgemeinmenschliche hat uns die Aufklärung vor Augen geführt . Voltaire, einer der ganz Großen in der europäischen Aufklärung, war trotz – oder gerade wegen? – aller aufgeklärter Humanität nicht vor einem erschreckenden Antisemitismus gefeit . Und der aufklärerische Slogan „Den Juden als Menschen alles; den Juden als Juden nichts!“ verrät das Problem. Gerade in der Aufklärung wurde alles universal Menschliche dem partikular Spezifischen übergeordnet. Und darum hat z. B. der Holocaustforscher Irving Greenberg formuliert: Die Aufklärung muss sich gemeinsam mit dem Christentum der Verantwortung für den Holocaust stellen.

Wenn wir also auch einerseits die Gefahr der Ausweitung des „Anderen“ in das Allgemeinmenschliche vor Augen haben, so müssen wir doch, ohne diese Gefahr zu leugnen, andererseits auch von der Notwendigkeit sprechen, mit dem Anderen alle Menschen, Juden und Heiden in den Blick zu nehmen. Dann heißt „In Verantwortung für den Anderen“ nicht mehr nur für „die Juden“, „für Israel“, sondern auch für ganz andere Kulturen und Religionen im Verhältnis zu Israel. Denn nach biblischem Menschenbild gibt es neben Israel und den „Heiden aus der Völkerwelt“ kein Drittes. Und darum müssen wir Christen, d. h. heute die überwiegende Mehrheit der Christinnen und Christen, uns selbst einordnen in die heidnische Völkerwelt. In unserem Verhältnis zu Israel müssen wir – in Abwandlung der letzten Worte Martin Luthers –  sagen: „ Wir sind Heiden, das ist wahr “. Wir können mit Israel nicht kommunizieren, ohne die anderen Heiden, die „Völkerwelt“ mit zu denken; wir können uns Israel gegenüber nicht verantworten, ohne die anderen Religionen der Welt mit zu denken und sie einzubeziehen in unseren Verantwortungsbereich.

Das heißt: Die Woche der Brüderlichkeit muss über den jüdisch-christlichen Bereich hinausgehen, muss „den Anderen“ aus ganz anderen religiösen und kulturellen Welten mit hinein nehmen, wenn sie nicht steril werden will. Der Fundamentalismus amerikanischer Philosemiten und der Fundamentalismus iranischer Muslime gehören dann ebenso in den Horizont dieser Anderen, für die wir mit Verantwortung tragen, wie unsere eigene christlich oder aufklärerisch geprägte europäische Kultur.

Allerdings schließt sich hier sofort eine weitere hochbrisante und sehr kritische Frage an diese Überlegungen an.

 

Ist denn dann das jüdisch-christliche Gespräch überholt?

Wir beobachten ja allenthalben, wie bisher im jüdisch-christlichen Gespräch Engagierte sich nun vermeintlich aktuelleren Themen zuwenden. Sogar meine EKD hat schon im Jahr 2000 bereits im Vorwort zu ihrer dritten offiziellen Studie „Christen und Juden III“ formuliert: Mit dieser Studie „wird die Reihe der Studien fortgesetzt und abgeschlossen (Hervorhebung: mm). – Und an vielen Orten höre ich auch sonst, dass es heute doch wichtigere und aktuellere Themen gäbe. Es sei darum doch wohl an der Zeit, vom ehemals so wichtigen Gespräch zwischen Christen und Juden nun endlich überzugehen zum christlich-islamischen oder besser doch gleich zum ganz umfassenden interreligiösen und interkulturellen Gespräch.

Ich halte diese Tendenz zum Themenwechsel für eine Folge unserer christlichen Engführung, mit der wir bisher nicht haben sehen wollen, dass wir nur ein ­– wenn auch ein besonderer ­– Fall in der Völkerwelt sind, die Israel gegenüber steht. Alles, was wir Christen im Verhältnis zu Israel lernen, das lernen wir stellvertretend für die Völkerwelt. Und was wir im Verhältnis zu den Juden nicht klären können, das werden wir im Verhältnis zu allen anderen Menschen erst recht nicht zu klären vermögen.

Die christlich-jüdischen Beziehungen sind und bleiben das Paradigma und das Fundament, auf dem unsere Beziehungen zu allen anderen Menschen der Erde aufbauen. Wenn dieses Fundament bröckelt, dann gibt es Risse im gesamten Menschenhaus. Was wir in der Woche der Geschwisterlichkeit zwischen Juden und Christen stärken und entwickeln können, das stärkt und entwickelt die kommunikativen Strukturen weltweit.
Das jüdisch-christliche Gespräch ist demnach kein Selbstzweck, sondern es dient dem gesamten Dialoggebäude, in dem sich schließlich einmal alle Religionen mit Israel gemeinsam verständigen können. Und das wäre nach Hans Küngs einleuchtender Formel die entscheidende Voraussetzung für den Weltfrieden.

Ohne diese Ausrichtung auf die anderen Anderen, auf die anderen Religionen jenseits von Judentum und Christentum, wäre das jüdisch-christliche Gespräch am Ende vielleicht doch ein religiöses Glasperlenspiel. In dieser Ausrichtung auf einander und auf die anderen Religionen ist das Gespräch zwischen Juden und Christen aber die unverzichtbare Grundlage für unsere Orientierung in der Welt der Religionen heute und deshalb prinzipiell nicht überholbar. – Allerdings ohne diese Perspektive auf alle Völker und Religionen handelten wir verantwortungslos gegenüber DEM ANDEREN und den Anderen.

„Durch meine Beziehung zu anderen stehe ich im Verhältnis zu Gott“
DdEeRr AaNnDdEeRrEe 

Der  AaNnDdEeRrEe ist ein Begriff, der in unserem europäischen Diskurs der Gegenwart durch den jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas eine besondere Bedeutung bekommen hat. Sie lässt sich vielleicht durch die scheinbar verwirrende Ineins-Schreibung des Wortes andeuten, indem jeder Buchstabe doppelt geschrieben wird, sodass DER ANDERE im Anderen verschwimmt und doch aufscheint. Im Antlitz des anderen Menschen könnte sich so ein ganz ANDERES, ein ganz ANDERER in Erinnerung rufen. Levinas:

„ ... durch meine Beziehung zu anderen stehe ich im Verhältnis zu Gott. ... Das Antlitz meines Nächsten hat eine Andersheit, die nicht allergisch ist, sie öffnet das Jenseits.“

Die ineinander greifende Schreibweise in Groß- und Kleinbuchstaben ist ein stilistisches Memento, eine Abbreviatur der biblischen Kernbotschaft: „Die Bibel, das ist die Priorität des Anderen im Verhältnis zu mir . Der Andere soll um seiner menschlichen und mühsamen Konkretion willen immer in Kleinbuchstaben geschrieben und zugleich in Großbuchstaben gedacht werden et vice versa.

Und damit schlage ich den Bogen zurück zum Anfang. Verantwortung für den Anderen ist immer zugleich Verantwortung vor DEM ANDEREN und für DEN ANDEREN. Und unser Verhältnis zu Gott konkretisiert sich im Verhältnis zu dem anderen Menschen. Und das jüdisch-christlich Verhältnis ist der exemplarische Fall für unsere Dialog- und Friedensfähigkeit mit allen anderen Menschen überhaupt.

Sachor! – Gedenke!

Das stärkste Band, das Juden und Christen an einander bindet, ist das uns beiden aufgetragene Gebot der Erinnerung, des kritischen Gedenkens, das keine Verklärung der Vergangenheit und erst recht keine Glorifizierung der Zukunft zulässt. Uns beiden, Juden und Christen, ist nämlich von Tora und Evangelium als zentrales Gebot aufgegeben: die Erinnerung.

Das jüdische Jahr beginnt mit dem großen Jom-ha-Sikaron, dem Neujahrstag, dem Tag der Erinnerung; und jedes jüdische Fest in der Bibel ist ein Tag des Erinnerns. Und jede Abendmahlsfeier der Christen, jede Eucharistie beginnt mit dem Gebot der Erinnerung „Tut dies zu meinem Gedächtnis .

Und aus dieser Erinnerungsorientierung folgt nach W. Benjamin eine Entzauberung der Zukunft, der sonst alle Wahrsager und alle falschen Propheten verfallen sind. Den Juden war es darum „untersagt, der Zukunft nachzuforschen“. Und Juden und Christen ist es darum nicht erlaubt – nach dem Muster mancher Ideologien – die Vergangenheit und die Gegenwart von Menschen auf dem Altar der Zukunft zu opfern. – Aber darum wurde ihnen dennoch die Zukunft nicht zur leeren Zeit. „Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten konnte.“

Die Zukunft ist bei Juden und Christen nur messianisch, d.h. keinerlei historischen oder natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgend und deshalb prinzipiell unberechenbar, zu denken. Und damit bekommt das Motto der diesjährigen WdB einen messianischen Klang. Verantwortung für den Anderen, das ist eine messianische Perspektive, der wir natürlich verpflichtet sind, die aber bisher immer noch mehr eine Sache der Hoffnung als der Selbstverständlichkeit ist.

Die gleiche Bindung an das unverfälschte Gedächtnis wird uns Christen durch Paulus eingeprägt. Auch Paulus verbindet in seinem Brief an die Römer die Aufforderung zum Gedenken mit einem kurzen scharfen Blick auf die kleine Pforte für den Messias, wenn er an die Mahnung zur Erinnerung sofort diese Worte anschließt: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis dass er kommt.“

Chaim von Woloszyn vor den offenen Toren des Himmels

Das ist nun mein Bild der Verantwortung für den Anderen: Unkorrumpierbar und zur Not unter dem Risiko, sich selbst den eigenen Zugang „zum Himmel“ zu versperren, dennoch darauf beharren, dass gerade die Anderen berücksichtigt werden. Paulus hat es uns vorgemacht, indem er lieber selber verflucht sein will, als Israels Verheißungen in Frage stellen zu lassen. – So ist es unsere Aufgabe in der globalisierten Welt, bei säkularen wie bei religiösen Zeitgenossen aller Welt unsere eigene Verantwortung für die Anderen wahrzunehmen. Und dafür sind wir dem GANZ ANDEREN gegenüber Rechenschaft schuldig.

Von Chaim von Woloszyn wird erzählt, dass er so viele gute Taten in seinem Leben verrichtet hatte, dass die Engel ihn an seinem Sterbetag abholen wollten, um ihn direkt in den Garten Eden, ins Paradies zu geleiten.

Chaim von Woloszyn weigerte sich, mitzugehen. Gefragt „Warum?“ antwortete er: „Wenn meine Schüler in der Jeschiwe, nicht dieselbe Behandlung bekommen wie ich, dann will ich nicht mitgehen.“  –  Man lässt ihn warten. Schließlich kommt die Antwort: „Es ist gut, deine Schüler werden ebenso behandelt wie du!“

Da weigert sich Chaim von Woloszyn aber zum zweiten Mal. „Was nun?“ fragt man ihn.  – „Es geht ja nicht um die Schüler allein, es geht ja auch um die Eltern der Kinder. Die Eltern haben sie zu mir geschickt! Wie hätte ich denn ohne die Eltern Tora unterrichten können?!“ – Wieder muss er warten.

Darauf die zweite Antwort: „Dein Wunsch wird erfüllt, auch die Eltern der Kinder bekommen dieselbe Behandlung. Und nun komm!!“

Aber zum dritten Mal weigert sich Chaim von Woloszyn, das Paradies so direkt zu betreten. Die fragen ihn: „Was ist denn jetzt noch?“ Da sagt er: „Aber was ist mit dem Gojim, in deren Mitte wir wohnen, die uns die Möglichkeit geben, eine Jeschiwah einzurichten, Kinder zu lehren und mit ihnen zusammen zu leben? Auch die Gojim müssen doch dieselbe Behandlung bekommen!!!“

Da bekam er diese Antwort: „Dein Wunsch wird nicht erfüllt, denn die Zeit des Messias ist noch nicht angebrochen!“

Die Überlieferung berichtet, dass seit diesem Tag die Seele des Chaim von Woloszyn vor den offenen Toren des Himmels steht, in Gebet und in Erwartung  der endgültigen Erlösung.

Wenn wir in unseren Tagen zunehmend beobachten, wie gerade sozial engagierte, politisch informierte und religiös motivierte Menschen meinen, sich um der eigenen moralischen Glaubwürdigkeit willen von Israel generell distanzieren und ihre eigene im Grundsätzlichen begründete Differenz zu israelischen oder gar jüdischen Denk- und Verhaltensweisen betonen zu müssen, und wenn die Nachricht aus Jerusalem stimmt, dass nämlich unser kommender Bundespräsident Joachim Gauck, die Schoah derart relativiert, dass er die s. E. unvergleichlich viel größeren Gräuel des Kommunismus dagegen ins Feld führt , dann sehen wir, dass eine umfassend begründete Verantwortung für den Anderen noch nicht wahrgenommen wird. Chaim von Woloszyn muss wohl noch warten.

Mit diesen Überlegungen zu dem „für mich“ ist zu vergleichen die jüdischen  Diskussion zum Toraabschnitt „Schelach lecha“ (Sende „für dich“) in Nu 13,1ff.

Midrasch zu Psalm 123, 1, hier zit. nach: Emil Fackenheim, To Mend the World, Indiana University Press, 1994, p 331: „You are My witnesses, says the Lord“ – that is, if you are My witnesses, I am God, and if you are not My witnesses, I am, as it were, not God.

Lk 10, 29

B. Brecht, Die Dreigroschenoper, GW 2, Ffm 1967, S. 412

Leon Poliakow, Die Aufklärung und ihre judenfeindlichen Tendenzen, Bd. V der Geschichte des Antisemitismus von L. Poliakow, Worms, 1983

aaO, S. 100-112

I. Greenberg, Theological Reflections on the Holocaust, in: E. Fleischner, ed., Auschwitz: Beginning of a New Era?, New York, 1974, p. 17

Christen und Juden III, Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland 2000, S. 7

Hans Küng: „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“, vgl. H.K., Projekt Weltethos, München 19913, S. 139

Emmanuel Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Ffm 19962, S. 29

aaO, 29 f

E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, 1985, S. 114-116, hier zit. nach J. Wohlmuth, Emanuel Levinas als Philosoph der Anderheit und Gastlichkeit, in: In Verantwortung für den Anderen. 60 Jahre Woche der Brüderlichkeit. Themenheft 2012, hg. v. d. Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, DKR, S. 29

A. Friedlander, Zachor – Gedenke!, EvTh 5/88, 379

1. Kor 11, 25

Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen VIII B, in: W.B., Illuminationen, Ffm, 1961, 279

1. Kor 11, 26

Röm 9, 1-5: „Ja, ich wünschte, selber verflucht und von Christus getrennt zu sein, anstelle meiner Brüder, die zum gleichen Volk gehören.“ (aaO, Vers 3)

M. Krupp, am 8. 3. 2012 aus Jerusalem. Vgl. Hannes Stein, Wer kennt einen solchen Genozid?, Die Welt, 6. 3. 2012, http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13905483/Wer-kennt-einen-solchen-Genozid.html

 

 

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