Goethe und die Juden
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Die Frage nach dem Verhältnis von Johann Wolfgang von Goethe (1750-1832) zu den Juden erscheint von besonderer Bedeutung, weil er als sog. Dichterfürst die am meisten anerkannte und bewunderte Person der deutschen Kulturgeschichte ist. Er lebte in einer Zeit mannigfacher Umbrüche und Neuanfänge, die auch das jüdische Leben ergriffen. Der Optimismus der Aufklärung, politische Reformen, feudale Reaktion und erste Auswüchse eines säkularisierten politischen Antisemitismus prägten jene Epoche. Der Wunsch nach Gleichberechtigung und Assimilation, Emanzipationsedikte und ihre teilweise Rücknahme veränderten das jüdische Leben in Mitteleuropa z.T. tiefgreifend.

Mitleidloser Blick in die Frankfurter Judengasse
Wie er als junger Mann die Judengasse in Frankfurt besuchte, beschreibt Goethe viele Jahre später. Sie gehörte zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben bedrängten… Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tor vorbeigehend hineinsah. Goethe notiert die menschliche Zuvorkommenheit der Ghettobewohner, die ihn überall wohl aufgenommen hatten. Seine Beschreibung ist ein Stenogramm seiner Gefühle und Eindrücke. Alles steht ohne abzuwägen nebeneinander. Nur einmal nimmt er Stellung: Das große Spott- und Schandgemälde, welches unter dem Brückenturm zu sehen war, sprach außerordentlich gegen sie. Denn es war nicht durch einen Privatwillen, sondern aus öffentlicher Anstalt verfertigt worden. Verunglimpfung von Juden durch die Obrigkeit ist für Goethe glaubwürdig.
Weiter heißt es: Außerdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen, Deutlich spürte Goethe ein Gefühl der Achtung, aber gegen das allgemeine Vorurteil vom verqueren Eigensinn jüdischer Frömmigkeit kommt es nicht an.
Goethe besuchte eine Beschneidung, eine Hochzeit, ein Laubhüttenfest. Obwohl er vermerkt äußerst neugierig gewesen zu sein, erfährt der Leser nicht mehr. Die Bemerkung, dass er sich ein Bild gemacht habe, versteht sich quasi photographisch. Zu diesem Bild gehören auch die Märchen von der Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die die Phantasie des Jungen bedrängten. Goethes Stellung dazu bleibt in der Schwebe. Mitgefühl kommt nicht auf.
Wenig später berichtet Goethe über seine Betrachtung der verschiedenen Lebensweisen und Tätigkeiten der Menschen. Sie bestärkte in mir das Gefühl der Gleichheit, wo nicht aller Menschen, doch aller menschlichen Zustände, indem mir das nackte Dasein als die Hauptbedingung, das übrige alles aber als gleichgültig und zufällig erschien.  (1)

Ablehnende Haltung zur rechtlichen Emanzipation der Juden
In einem Brief an Bettina von Brentano bespöttelte Goethe die philanthropische Christen- und Judenschaft, wie er die Bemühungen um eine neue Schutzordnung für Juden 1807 in Frankfurt nannte, und kommentierte ironisch: Es ist recht verwunderlich, daß man eben zur Zeit, da so viele Menschen todtgeschlagen werden, die übrigen aufs beste und zierlichste auszuputzen sucht.  (2)  Dabei freute er sich über eine anonyme Replik, die dem braunschweigischen Judenheiland mit seinem Humanitätssalbader… so tüchtig nach Hause geleuchtet hat.  (3) 
Dem für alle Juden enttäuschenden Reformgesetz des Fürstprimas des Rheinbundes von 1808 zollte Goethe seinen Beifall: Daß es dieses Geschlecht behandelt, wie es ist und noch eine Weile bleiben wird, sei angemessen, da Juden wie Frauen keinen point d’honneur, kein Ehrgefühl, besitzen würden. Dementsprechend betrachtete er das Übernachtungsverbot für Juden in Jena als eine löbliche Anordnung.  (4) 
Die Weimarer Judenordnung von 1823, die die Ehe zwischen Juden und Christen erlaubte, war für Goethe ein skandalöses Gesetz. Es untergrabe alle sittlichen Gefühle… Das Ausland müsse durchaus an Bestechung glauben, um die Adoption dieses Gesetzes begreiflich zu finden, wer wisse, ob nicht der allmächtige Rothschild dahinterstecke.  (5)  Das klingt nach dem Vorurteil von der heimlichen Weltherrschaft des Finanzjudentums. Goethe sah die bürgerliche Verfassung bedroht, als man neue Duldsamkeit gegen die Juden… anzuempfehlen bemüht war.  (7)

Goethe als „Erlöser“ jüdischer Frauen
Goethe pflegte viele Kontakte mit kulturell emanzipierten Juden wie Felix Mendelssohn-Bartholdy, dem Maler Daniel Oppenheim, Henriette Herz oder Rahel Varnhagen. Von letzterer ging der Goethe-Kult aus, der in eine von jüdischen Philologen getragene Goethe-Wissenschaft mündete. Goethe wirkte anziehend auf jüdische Frauen, die sich aus ihrer beengend empfundenen Tradition befreien wollten. Sara Grotthuss schildert das in einem Brief an den abgöttisch verehrten Goethe.  (7)  Ihr Vater hatte ein Schreiben an ihren Geliebten abgefangen.  Dem hatte sie ein Exemplar des Werther mit tausend unterstrichenen Stellen und einem sehr glühenden Billet beigelegt. Der  Vater bestrafte die 13jährige mit Stubenarrest und überschüttete sie mit Vorwürfen, wie sie Gott und die jüdische Religion vergessen könne. Sie selber sprach von Goethe als „Erlöser“, weil er für die freie Entscheidung aus Liebe stand. S. Grotthuss wurde mit 15 Jahren an einen ungeliebten Mann verheiratet.
Goethe verkehrte gern in den Salons der intellektuellen jüdischen Kreise. Seine Haltung gegenüber „den Juden“ oder dem jüdischen Emanzipationsbegehren haben diese Begegnungen aber nicht verändert. Sie mehrten seinen Ruhm, aber ihre gesellschaftlichen Nöte bewegten ihn nicht. Gleichberechtigung gab es für ihn nur auf der Ebene des Kulturadels. Hier vermied er Herablassungen. Seine Welt aber blieb aristokratisch und feudal.

Die Juden in Goethes Schriften
Wie selbstverständlich bezeichnet Goethe Juden als Wucherer, Händler, Wechsler und Betrüger. Er nennt sie in einem Atemzug mit Huren, Pfaffen oder anderen Bösewichtern. Im 1. Akt des Faust lesen wir: Nun soll ich zahlen, alle lohnen. Der Jude wird mich nicht verschonen. An Christiane schreibt Goethe von einem Juden, der ihn betrügen wollte und meint, dieser habe als ein wahrer Jude gehandelt.  (8)
Im Jahre 1806 besprach Goethe die Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ mit dem Gedicht „Die Juden von Passau“. Dieses erzählt, die Juden hätten Hostien geschändet (>Hostienfrevel), sie seien festgenommen, verurteilt und schließlich geköpft, verbrennet und auch mit heißen Zangen gestraft worden.  (9)  Goethe kommentiert ohne auf den Inhalt einzugehen nur den ästhetischen Aspekt: bänkelsängerisch, aber lobenswert.  (10)  Im Strom der allgemeinen Vorurteile mitschwimmend, waren solche grausamen Exekutionen für Goethe kein Problem. Hin und wieder rechtfertigte er die Ausgrenzung der Juden. In diesem Sinne dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollen wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet.  (11) 

Goethe und das Alte Testament
Goethes Urteil über das jüdische Volk ist ambivalent. Einerseits hat das israelitische Volk niemals viel getaugt, andererseits ist es das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehovah durch die Zeiten zu verherrlichen.  (12)  Goethe unterscheidet zwischen natürlicher und offenbarter Religion. Erstere leite die Annahme einer allgemeinen Vorsehung, die den Kosmos durchwalte, letztere die einer besonderen Vorsehung, die gewisse Menschen, Stämme oder Völker begünstige. Goethes Hochschätzung des Alten Testamentes bezieht sich auf die menschliche, schöne und heitere Religion der Erzväter. Ihre unendlichen Prüfungen haben ihre Glaubensfähigkeit ins Licht gesetzt. Seine Unerschütterlichkeit mache Jakob zu einem würdigen Stammvater. Ein pädagogischer Sinn, ein Beitrag zu menschlicher Erbauung und Charakterbildung interessiert Goethe an den Erzvätererzählungen.
Für Goethe besteht der Erwählungsglaube in dem unerschütterlichen Charakter seiner Protagonisten. Von den Geboten ist bei ihm keine Rede, auch nicht von einer göttlichen Beauftragung  Israels. Die theologisch klingende Rede vom beharrlichen Volk, das ewig sein werde, löst sich in Psychologie auf. Denn für Goethe gilt: Wie der Mann, so sein Gott.  (13)

Goethes Pantheismus
Für Goethe ist der Gott Israels identisch mit Pan: Die Natur ist immer Jehovah / Was sie ist, was sie war, und was sie seyn wird.  (14)  Er verwischt Gottes Namen in der Unpersönlichkeit der Naturwelt. Die Personalität des Menschen, seine ethische Gottesbeziehung  und der geschichtliche Horizont seines Lebens gehen unter in der Ewigkeit der Natur.
Heinrich Heine nannte Goethe den Spinoza der Poesie und den Pantheismus die verborgene Religion Deutschlands. Pantheisten sagen: Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volkes, sondern für die Gottesrechte des Menschen… wir stiften eine Demokratie gleichberechtigter Götter.  (15)  Ein pantheistischer Menschheitsglaube, der sich aus allen Religionen speist, war Goethe das Höchste. Für die Reformationsfeier 1817 schlug er vor, sie auf den 18. Oktober, den Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht, zu legen und interreligiös zu gestalten. Denn alle erheben den Geist, an jenem Tag gedenkend, der seine Glorie nicht etwa nur Christen, sondern auch Juden, Mohammedanern und Heiden zu danken hat.
In Goethes pantheistischer Vereinheitlichung gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Religionen. Denn alle haben dasselbe Ziel: Daß der Mensch ins Unvermeidliche sich füge, darauf dringen alle Religionen, jede sucht auf ihre Weise mit dieser Aufgabe fertig zu werden.  (16)  Für die Besonderheit des biblisch-jüdischen Glaubens ist in Goethes Denken kein Platz.

 

(1) J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 149ff
(2) Brief an B. v. Brentano, 3.4.1808
(3) Es handelt sich um den Braunschweiger Finanzrat Israel Jacobsohn, der sich für die Emanzipation der Juden einsetzte.
(4) Brief an Sulpiz Boisseree, 24.6.1816
(5) Brief an Kanzler von Müller, 23.9.1823
(6) Dichtung und Wahrheit, 13. Buch
(7) Brief vom März 1797; für die Zitate aus Briefen s. U. Homann, Goethe und das Judentum, Materialdienst Ev. AK Kirche und Israel Hessen-Nassau, 2/01, S. 2-17
(8) Brief vom 3.1.1797
(9) A. v. Arnim, C. v. Brentano, Des Knaben Wunderhorn, Reclamausgabe, 1987, S. 88
(10) Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Januar, 1806
(11) J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Hamburger Ausgabe, Bd. 8, S. 405
(12) a.a.O; Hrg. H. J. Simm, Goethe und die Religion, S. 267
(13) West-östlicher Diwan; a.a.O., S. 264
(14) Aus dem Nachlass; a.a.O., S. 268
(15) H. Heine, Religion und Philosophie in Deutschland, Hanser-Werkausgabe, Bd. 5, S. 618, 570
(16) Wilhelm Meisters Wanderjahre, Hamburger Ausgabe, S. 404

 

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