Vom Begehren zur Gier: Der Kernbrennstoff des Bösen
Predigt über das 9. und 10. Gebot
von Martin Stöhr

Liebe Gemeinde! Ja, Gier ist tatsächlich ein Kernbrennstoff des Bösen. Deshalb zählt die alte Christenheit die Gier zu den sieben Todsünden.

  • Wenn ich die Finanzmärke anschaue, einschlägige Artikel und Filme zur Kenntnis nehme,
  • wenn ich Berichte aus dem Süden des Globus lese, wo es Länder gibt, in denen gehungert wird und wo gleichzeitig 10% und mehr des fruchtbaren Landes in Besitz genommen werden von fremden Firmen oder Staaten wie China, arabische Emirate oder deutschen Kaffeefirmen, die nicht für die Hungernden arbeiten, sondern für wohlhabende Länder und Touristen exportieren,
  • wenn ich zugleich ehrlich meine persönliche Anfälligkeit für Schnäppchenpreise prüfe, dann entdecke ich: Gier gibt es vornehm und brutal, privat und global. Sie produziert Gewinner und Verlierer.  
II
Haben die Gebote eine Chance, daran etwas zu ändern? Jesus fasst seine Botschaft in der Bergpredigt zusammen, sie ist eine Neuauslegung der 10 Gebote. Er sagt seinen Botschaftern im Taufbefehl, diese Botschaft allen Völkern weiterzusagen, sie zu „lehren, alles zu halten, was ich, Jesus,  euch geboten habe“.
  • Wir wissen: Der Sinn der Zehn Gebote ist es, den Menschen Freiheit und Schutz zu sichern. Als 1938 der letzte Jude – so erzählte er mir, nach Rückkehr aus Haft und Exil – in Siegen in seinem Schuhladen verhaftet und nach Buchenwald verschleppt wurde, sagte ihm der Polizist: „Wissen sie denn nicht, dass die Zehn Gebote abgeschafft sind?“ Die Zehn Gebote beginnen mit der Erinnerung an die mühsame Befreiung Israels aus der Zwangsarbeit in Ägypten. So macht sich Gott bekannt. Er zeigt in den zehn Geboten seinem Volk begehbare Wege und Wegweiser in die Freiheit. Andere Völker und Gruppen lernen davon.
  • Es geht im ersten Gebot darum, frei zu werden von jeder servilen Rückgratverkrümmung unter selbsternannte Götter, Autoritäten  oder unter versklavende Dinge und Gewohnheiten,
  • es geht darum, Gottes Namen nicht für religiöse, politische und wirtschaftliche Interessen zu missbrauchen,
  • darum, Gott und Mitmensch nicht durch die Brillen meiner selbstfabrizierten Bilder zu sehen,  
  • darum, den siebten Tag als freien Tag für Gott und  Arbeitsruhe zu genießen,
  • um einen humanen Generationenvertrag zwischen Kindern und Eltern,
  • um die Heiligkeit des Lebens,
  • um den Schutz der Ehe,
  • um der Ehre des Mitmenschen,
  • und im letzten der zehn Gebote geht es um den Schutz des Eigentums: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Haus, Acker, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist.  
Gottes Ebenbilder – und das sind alle Menschen -  vergreifen sich nicht an der Partnerin eines anderen, nicht an Angestellten des Mitmenschen. Sie schützen dessen Produktions- und Transportmittel - damals Acker und Vieh. Luther warnt in seinem Katechismus davor, das Eigentum eines anderen mit einem Schein des Rechtes oder mit einer List an sich zu bringen. Das ist schwierig bei Erbauseinandersetzungen, beim Hier-und-da-etwas-Mitgehenlassen, bei Abrechnungen, Investitionsfonds und Derivaten oder im Blick auf unsere europäische Kolonialgeschichte – um ein paar Lieblingsarbeitsplätze der Gier zu nennen.
Der reiche Mann wird von Jesus nicht wegen seines Reichtums kritisiert, sondern weil er in seiner Gier den armen Lazarus buchstäblich auf den Hund kommen lässt und weil er seinen elenden Mitmenschen einfach übersieht. Das  Wegschauen und den Lazarus gibt es heute millionenfach. Goldene Kälber stehen überall, auch als Haustiere – es tanzt sich hübsch um sie. Sie lieben es, wenn wir unser Gewissen abschalten, das Selbst und das Selbstgemachte anbeten und den lebendigen Gott vergessen.       III
Aber, passen wir auf, dass wir nicht auf eine falsche Spur geraten. Nicht jedes Begehren ist Gier. Nein, die menschlichen Fähigkeiten wie Begehren wie Sehnsucht, wie Wünschen und Verlangen zielen positiv auf Glück oder Zufriedenheit, auf Lust, auf Freude. Deswegen beginnt die Bergpredigt mit den Seligpreisungen: Glückselig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden, Glückselig sind die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden satt werde. Glückselig sind die Frieden stiften, denn sie werden Söhne und Töchter Gottes heißen – um nur drei sehr menschliche Fähigkeiten und Ziele des Begehrens zu erwähnen. 
Die aus Europa verjagten Glaubens- und politischen Flüchtlinge schrieben 1776 als ersten Satz in die Gründungsverfassung der USA das urbiblische Konzept: „Alle Menschen sind gleich geschaffen. Sie sind vom Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt, also mit Leben, Freiheit und dem Streben (Begehren, Verlangen) nach Glück (pursuit of happiness)!“
Oder: Wer die Taufe begehrt, begehrt für den Täufling ein Leben im Schutz Gottes und seiner Mitmenschen, behütet nach den biblischen Regeln von Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit.
Wir wissen: Der Mensch wird zum Menschen und Mitmenschen durch das Gegenteil der Gier, durch ein positives  Begehren. Alle Gebote der Bibel werden bekanntlich im Doppelgebot der Liebe gebündelt, Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. „Der Mensch wird am Du zum Ich“- am Du Gottes und am Du des Mitmenschen, sagt Martin Buber. Nicht zuletzt gehört dazu auch die Liebe zweier Menschen. Hören Sie mal in die Bibel rein. Dort singt ein wunderbares Liebeslied vom lustvollen Begehren – gegen und ohne jede Kommerzialisierung der Liebe. Das Lied ist dem liebesstarken und gerechten König Salomon als sein „schönstes“ – nun ja - mehr gewidmet als von ihm verfasst. Das erotische Begehren  klingt in unzähligen Versen beispielsweise so:  
„O, dass er mich tränkte mit den Küssen seines Mundes“ – sagt sie. Er sagt: „Führe mich in deine Gemächer…Wir wollen uns freuen, an deiner Liebe uns berauschen.“ Man singt sich gegenseitig an: „Wie schön bist du, meine Freundin, wie schön!“ und sie: „Wie schön bist du, mein Geliebter!“
Es gibt noch andere positive Begierden in der Bibel: Der Beter eines Psalms (38), geplagt von Schuld, deprimiert von Krankheit, einsam und verlassen, schüttet sein Begehren Gott vor die Füße. Er bestürmt Gott: „Herr, vor dir ist alle meine Begierde…Du wirst mich erhören…Sei mir nicht ferne. Eile mir zu helfen, o Gott, mein Heil!“ Viele biblische Texte - wie zB die Psalmen und das Vaterunser - begehren leidenschaftlich eine Befreiung von dem Bösen in seinen vielen, oft allzu menschlichen Gestalten, von Schuld und Verschuldung, vom Hunger – nicht nur für sich, auch für andere Menschen und Völker. Nachrichten informieren uns täglich, wie ein soziales Aufbegehren entsteht, wenn das   menschliche Begehren nach Brot, Freiheit oder Arbeit unterdrückt wird.
Im 1. Petrusbrief (2,2) erinnert der Apostel seine Gemeinden, sie hätten jetzt „Arglist, Heuchelei, Missgunst und alle üble Nachrede“ hinter sich gelassen. Er fordert sie auf, sich nicht als endgültig „fertige“ Christen zu fühlen und schreibt: „Seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch“. Der Vergleich mit dem Grundnahrungsmittel Milch spricht bildlich vom Verlangen nach einem vertieften und klärenden Gottvertrauen sowie nach einer eindeutigeren Christus – Nachfolge. Der Glauben will nicht sitzen bleiben, er will und kann wachsen. Nie ist er ausgewachsen. Der Apostel besteht darauf, dass er vernünftig und gegenüber  Verfälschungen wach ist. Es geht – so der Apostel – um „ein Heranwachsen zum Heil“. Und das Heil besteht in der Orientierung an der „Güte des Herren“ gegenüber allem persönlichen oder sozialen Unheil und gegen jede Heillosigkeit.
Viele Menschen begehren einen Mitmenschen, wünschen sich Freundschaft oder Zuwendung, verlangen Aufmerksamkeit. Fast alle sehnen sich nach Schönheit in der Natur, nach einem Arbeitsplatz, nach dem Gelingen der Arbeit, nach anständiger Bezahlung, nach einer Auszeit, nach Gesundheit - kurz nach Freiheit und Gerechtigkeit in der alltäglichen Verteilung der Lebenschancen.  
Die Ausstellung im Hintergrund der Kirche erinnert an jene Menschen in der Mitte unserer Volkes und unserer Kirchengemeinden, die genau diese Lebenschancen  suchten und sie so selten fanden. Stattdessen wurden sie isoliert, ausgeplündert, deportiert oder ermordet. IV
Im Gegensatz zu Tieren folgt menschliches Leben und menschliches Zusammenleben nicht nur den Gesetzen der Natur, sondern sucht Gebote aus einer anderen Quelle. Die Rede ist von Gottes Weisungen. Dagegen gab und gibt es drei Versuche, sie nicht ernst zu nehmen.(a) Einst wurde uns eingeredet: Naturgesetze sagten angeblich, es gäbe minderwertige und höherwertige Rassen und Kulturen. Unmengen von Schulen und Hochschulen, Predigern und Journalisten, Medien und Mitläufern haben es Millionen Männern und Frauen eingetrichtert. Millionen übernahmen es begierig, weil es das süße Gift mittransportierte: Du / ich / wir gehören zu den Herrenmenschen und zu den zivilisierten Völkern. Verachtenswert und Untermenschen sind die anderen.
(b) Ein anderer blutiger Versuch am lebenden Körper der Menschheit und Menschlichkeit meinte, die „ehernen Gesetze der Geschichte“ als Naturgesetze für immer durchschaut zu haben. Das „Reich der Freiheit“ im Kommunismus verlange eine harte Diktatur des Proletariats. Eine Minderheit wisse, was gut für die Menschen sei. Dementsprechend wurden jene, die zweifelten oder nicht mitmachten mit allen Mitteln nach unten getreten.
(c) Es gibt Leute, die halten heute eine deregulierte und globalisierte Wirtschaftsordnung für ein alternativloses Naturgesetz, dem man sich beugen müsse. Das sei nun mal so. Stetiges Wachstum und ein den Menschen „angeborenes“ Begehren nach „Mehr“ seien Triebkräfte des Fortschritts. Danach werden die Reichen nicht nur immer reicher, nein, sie müssten auch immer reicher werden, weil nur so mehr für die Armen abfalle. Die Universität Bielefeld erforscht regelmäßig die Einstellungen von uns Deutschen. Da lese ich im letzten Bericht („Deutsche Zustände“), dass fast ein Drittel der Deutschen dem Satz zustimmt: „Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich eine Gesellschaft nicht leisten.“ Und weiter stimmen Zweidrittel der Bevölkerung der Aussage zu: „In Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.“ Hinter allen drei Modellen steckt eine Art Sozialdarwinismus. Das Wort missbraucht den Entdecker wichtiger Naturgesetze Charles Darwin, als sage seine Evolutionstheorie: Der  Stärkste gehört oben hin und deswegen hat er Recht. Darwin  hat aber nie Naturgesetze zu Gesetzen gemacht, wie das menschliche Leben menschlich zu regeln sei. 
Ich setze keineswegs alle drei Versuche gleich, von Menschen gemachte Gesetze uns als Naturgesetzte verkaufen wollen. Gemeinsam ist dem Massenmord am europäischen Judentum, dem stalinistischen Kommunismus und der Gleichgültigkeit den Schwachen oder Minderheiten gegenüber folgendes. Alle „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ beginnt lange vor dem Töten mit einer Definition von Menschen. Man arbeitet wie eine Ratingagentur. Man stuft eine Gruppe herab,
  • die nicht zu uns,
  • die nicht zur „normalen Mehrheit“
  • und die nicht „hierher“ gehört,
  • die als überflüssig angesehen wird,
  • die weder eine Lobby noch Fürsprecher für ihr Begehren auf Menschenwürde und -rechte findet.

V
Die Ausstellung „Getauft, Verstoßen, Vergessen“ in unserer Kirche zeigt ausschnittweise den singulären Versuch, im Namen völkischer und ideologischer Reinheit eine Minderheit auszurotten. Es war  keineswegs naturgesetzlich zu begründen, sondern ein gewollter oder geduldeter Verrat an den Menschen jüdischer Herkunft. Er gelang millionenfach. Dabei verriet die Kirche die ihr anvertraute  Botschaft der Bibel und ihr Tauf- Sakrament. Ich kann das heute leichter sagen als die Eltern- und Großelterngeneration. Aber mir stellt sich unabweisbar die Frage, wo widerstehe ich heute den Versuchungen, mitzulaufen, unzuständig zu sein, alles zu schnappen, was an Ausreden oder Dingen billig zu haben ist?
Die Gebote machen mich zum Anwalt, zur Anwältin meines Nächsten. Seine Freiheit und sein Schutz werden bedroht, wenn seine Ehre, sein Eigentum, sein Leben mitten unter uns missachtet wird.
Die zum Glück immer wieder gezeigte Ausstellung „Legalisierter Raub“ des Fritz-Bauer-Institutes (früher im Hessischen Rundfunk, zZt in Butzbach zu sehen) schildert eine politisch erlaubte Gier. Privat oder herdenmäßig stürzten sich Finanzämter und Nachbarn – beide oft ein Inbegriff redlicher Zuverlässigkeit – auf Möbel und Kleider, Lebensmittel und Kunstgegenstände jüdischer Familien. Zum Schnäppchenpreis oder kostenlos schleppte man ins eigene Haus, in die eigene Behörde oder ins Museum, was einem nicht gehörte.  VI
Manchmal frage ich mich. Welche Folgen hatte die Praxis der Katholischen Kirche, der Luther an diesem Punkt treu blieb, wenn sie in ihren Katechismen – anders als die Reformierten – das 2. Gebot einfach wegließen und dann das letzte Gebot in das 9. und 10. Gebot teilen mussten? Das 2. Gebot heißt: „Du sollst dir kein Bildnis  machen, weder von Gott noch von dem was auf der Erde ist“. Es geht darum, dass Geschöpfe / Geschaffenes nicht an Stelle des Schöpfers angebetet werden. Hat das Verdrängen  des Bilderverbots geholfen, sich doch leichter Bilder von Gott und den Mitmenschen zu machen? Den einen mit Heilrufen gehorsam zu vergötzen, die anderen durch Vorurteile und Feindbilder auszugrenzen?
Hat das Christentum aller Konfessionen und Frömmigkeitsstile nicht Jahrhunderte lang sich selbst ins rechte Licht gesetzt, indem sie in dunkeln Farben Bilder vom Alten Testament, von den Pharisäern, von Judas, von den Juden als den Mördern Jesu Christi malte? Mit der Aufgabe, die Beziehungen zwischen Juden und Christen völlig neu zu gestalten, sind wir noch am Anfang, aber es gibt einen Anfang.
Der Heidelberger Katechismus nennt als Ziel des letzten Gebotes, es solle „Lust zu aller Gerechtigkeit machen.“ Auch wenn wir es nicht „vollkommen“ befolgen könnten – „nicht einmal die Heiligen schafften das“ – anfangen aber können wir. Dante Alighieri sagt (in der Göttlichen Komödie): „Die Welt ist am besten geordnet, wenn in ihr Gerechtigkeit am meisten Macht besitzt,“ Gier zerstöre die Gerechtigkeit. Die „richtige Begierde“ aber „sucht Gott und den Menschen“, sucht also einfach mit und nach  Gottes Willen das Gute für die Menschen. Amen.

Predigt in der St. Katharinenkirche Frankfurt / M. am Sonntag, den 13. Mai 2012 aus Anlass der Ausstellung „Getauft, ausgestoßen und vergessen? Evangelische jüdischer Herkunft in Frankfurt am Main 1933 - 1945“ (Lesungen: 2. Mose 32,7-14;Mt 28, 18-20)

 

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