Jesus, der Christus
Ein abständiger Würdentitel
von Klara Butting

Seit dem Erscheinen der Bibel in gerechter Sprache schwelt ein Streit über den Messias. In der Bibel in gerechter Sprache ist von „Jesus, dem Messias“ die Rede. Das griechische Wort christos, das in deutschen Übersetzungen in der Regel unübersetzt bleibt, wird mit dem aus dem Judentum bekannten Wort „Messias“ wiedergegeben und durch den Gebrauch des Artikels („der“ Messias) als ein Titel gekennzeichnet. Diese Übersetzung hat Anstoß erregt, der von Karin Bornkamm beispielhaft formuliert wurde. Sie schreibt, dass Jesus Christus in neutestamentlicher Zeit bald „allgemein als Doppelname gebraucht“ wird, und kritisiert: „Indem die neue Bibel den Christusnamen konsequent mit Messias übersetzt, macht sie die Entwicklung vom historisch abständigen Würdetitel zum vertrauten Namen in gewisser Weise rückgängig. Der Leser wird in eine religiöse Tradition hineingestellt, die nicht die seine ist – das gilt auch für uns als Heidenchristen. Der Text gerät so in eine religionsgeschichtliche Entfernung, die erst eine Erklärung der jüdischen Heilshoffnung verlangt, um verstanden zu werden“ (235). Der Titel „Messias“ wird abgelehnt, weil er für Christinnen und Christen die Zumutung beinhaltet, sich mit jüdischen Heilshoffnungen beschäftigen zu müssen, Die Hoffnungen und Verheißungen der jüdischen Bibel, unseres ersten Testaments, werden als „abständige historische Phänomene“ eingestuft, die für den christlichen Glauben keine Rolle spielen.

In seinem Buch „Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen“ hat Frank Crüsemann dargestellt, wie fundamental diese Abwehr der Hebräischen Bibel christliche Theologie in ihrem Nachdenken über Jesus Christus geprägt hat. Die entscheidenden Aussagen über Jesus Christus werden unabhängig vom Ersten, dem sog. Alten Testament getroffen, als wären sie nicht aus diesen Texten, der Schrift der neutestamentlichen Zeuginnen und Zeugen, gewonnen worden. In christlicher Tradition wurde gelehrt und lernt, dass Jesus die jüdischen Messiaserwartungen zurückgewiesen habe – hat er doch jeglichen militärischen Widerstand gegen das römische Imperium abgelehnt. Dabei wird unterstellt, dass die jüdischen Messiaserwartungen in die Hände von Kriegsparteien führen. So wurde Jesu Messianität vom Messianismus des Ersten Testaments isoliert und unabhängig oder sogar in Abgrenzung davon beschrieben. Doch allein der umgekehrte Weg ist möglich.  Wir wissen nämlich nicht was „Christus“ heißt, wenn wir nicht zuerst lernen, was die jüdische Tradition mit diesem Titel sagen will. Wir haben aus der Hebräischen Bibel zu lernen, „was eigentlich der Inhalt, der Sinn und die Absicht dessen ist, was wir ‚Christus’ nennen. Wer er ist, davon zu wissen, ist der Grund der Kirche. Was er ist, … welcher Weg und welche Zukunft mit der Christophanie verbunden werden dürfen und müssen, darüber müssen wir stets von neuem durch die Thora und die Propheten belehrt werden“ (Miskotte, 166f).

Politik als Gottes Kerngeschäft

Messias bzw. Christus heißt übersetzt „Gesalbter“ und ist ein Königstitels in der Hebräischen Bibel. Im Hintergrund steht ein Salbungsritus, der bei Regierungsantritt eines Königs praktiziert wurde. Dieser Ritus wurde von prophetischen Kreisen aufgenommen und Gegenstand einer prophetischen Zeichenhandlung, die besagt, dass nicht die Ältesten, sondern Gott selbst den König einsetzt und in die Pflicht nimmt. Der König wird dem Gerechtigkeitswillen Gottes unterstellt. Er wird zum „Gesalbten des Ewigen“. In der biblischen Erzähltradition begegnet deshalb der Titel „Gesalbter“ stets in Verbindung mit dem Gottesnamen (der Gesalbte des Ewigen, „mein“ bzw. „sein“ Gesalbter) und transportiert eine theologische Erwartung an das Regierungsamt.

Der Titel Messias / Christus / Gesalbter taucht im sog,  Alten Testament im Kontext einer Umsturzvision auf. Im Lied der Hanna ist der Messias Zeichen und Garant der von Gott initiierten Befreiung verelendeter Menschen (1. Samuel 2,10). Die Umsturzhoffnung verbindet sich mit einem „König Messias“, obwohl Könige und das Königtum an sich keine Hoffnungsträger sind, sondern Ausdruck einer von Gott entfremdeten Welt. Die Samuelbücher erzählen, dass die Einführung des Königtums eine fundamentale Krise zwischen dem Volk Israel und seinem Gott herbeiführte. Denn das Königtum vertritt mit seiner Ausbeutungsstruktur eine Gesellschaftsordnung, die den Rechtsordnungen des Gottes Israels diametral entgegensteht. Der Wunsch nach einem König, wie ihn die anderen Völker haben, und der Weg mit der Gottheit, die befreit, bilden einen Widerspruch. In dieser Situation, in der die Geschichte des Ewigen mit seinem Volk auf Messers Schneide steht, wird Saul von Gott zum König erwählt und gesalbt. Damit betritt der „Gesalbte Gottes“, der König und Hoffnungsfigur in einem ist, die Bühne der Erzählung. Der Gesalbte Gottes ist das Versprechen, dass Gott die Welt nicht verfehlter Politik und ihren Gesetzen überlässt. Israels Gott akzeptiert kein „Reich des Bösen“, sondern bedrängt das Terrain der Politik mit Anspruch und Gebot.

Der Messiastitel begegnet neben den Samuelbüchern vor allem im Psalter, der sich bereits in der Ouvertüre (Psalm 1 und 2) als ein Buch über den Messias zu erkennen gibt. Auch hier ist der Messias eine Symbolfigur für Gottes Beanspruchung der Welt. In einer Situation der Ohnmacht, in der den Menschen, die sich an den Lebensweisungen Gottes orientieren wollen, nur der Boykott eines herrschenden Lebensstils bleibt (Psalm 1), hält die messianische Hoffnung am Zur-Welt-Kommen Gottes fest (Psalm 2). Gott stellt der entfesselten Gewalt globaler Eliten seinen König auf dem Zion entgegen. Die ewige Gottheit beansprucht – wie schon mit der Erwählung Sauls – die Machtstrukturen, die ihr widerstreiten. Auch Psalm 2 sieht in den „Königen der Welt“ (Psalm 2,2) die Protagonisten von Elitebildung und Entsolidarisierung. Das Königtum an sich repräsentiert eine Welt, die sich der Lebensregeln Gottes zu entledigen sucht. In dieser gottvergessenen Welt beansprucht Gott das Zentrum politischer Macht als sein Gebiet. Die Messiasfigur steht für diesen Anspruch. Sie steht dafür ein, dass Gott diese Erde und ihre Menschen nicht aufgibt, sondern sein Recht in den Lebenszusammenhängen dieser Welt durchsetzen will und wird. Das Nachdenken über diese Figur ist deshalb von der Ambivalenz traditioneller Bilder und Titel und der Vision einer ganz anderen Welt geprägt. So berichtet die messianische Figur in Psalm 2 von ihrer Vollmacht in den gewalttätigen Bildern der traditionellen altorientalischen Königsideologie (2,7-9), spricht dann aber die Völker an und wird ihr Lehrer in Sachen Tora (2,10-12).

Die Messaisfigur wird im Psalter mit dem Namen Davids verbunden (z.B. Psalm 18; 89). Denn um Davids Namen ranken sich in der Bibel Erzählungen von Israels Existenz als sozialer und nationaler Einheit im eigenen Land. Sein Name steht für die Hoffnung, dass Gottes Verheißung von Leben und Überleben in Selbstbestimmung kein Hirngespinst ist, sondern in der Welt Gestalt gewinnen kann und soll. Deshalb äußert sich die messianische Hoffnung in vielen prophetischen Visionen als Hoffnung auf einen neuen David (z.B. Jeremia 33,14-18; Ezechiel 34,23-24). Dieser neue David ersteht in der Gemeinde, die sich mit den Psalmen auf den Weg macht. Die Einzelnen und die Gemeinde, die die David zugeschriebenen Psalmen beten, geben David einen neuen Körper. Der neue David ist also nicht ausschließlich als eine individuelle Gestalt zu verstehen. Interessanterweise werden besonders die Klagepsalmen mit David in Verbindung gebracht. Die messianische Hoffnung hat nichts Triumphales. Sie gewinnt Gestalt, wo Gewalt und Fremdbestimmung ihre Macht verlieren, wo Menschen sich in Not und Gottverlassenheit zu Gott in Beziehung setzen und Gottes Vision vom Leben einklagen. So ist auch im Psalter der Messias keine Figur der Endzeit, die die Geschichte abbricht, sondern Berufung – nicht nur der Regierenden, sondern – aller, die die Psalmen beten. Sie werden zu messianischen Figuren, in deren Leben sich die Geschichte Davids und Israels auf Zukunft hin öffnet.

Psalm 2
2 1 Wozu sind die Völker in Aufruhr,
murmeln Nationen Leeres!
2 Könige der Erde marschieren auf,
Erlauchte halten Kriegsrat
gegen den Ewigen, und gegen seinen Gesalbten,
3 (indem sie sagen): »Zerreißen wir ihre Fesseln,
werfen wir ihre Stricke von uns!«
4 Der im Himmel thront lacht,
mein Herr spottet ihrer.
5 Dann redet in seinem Zorn er zu ihnen,
verstört sie in seiner Wut:
6 »Ich selbst habe meinen König eingesetzt
auf Zion, meinem Heiligtumsberg.«
7 Berichten will ich, was der Ewige festgesetzt hat,
er sprach zu mir: »Mein Sohn bist du,
selber habe ich dich heute geboren.
8 Verlange von mir
und ich gebe die Völker als Eigentum dir,
als Besitz dir die Ränder der Erde.
9 Du kannst sie mit eisernem Stab zerschmettern,
wie Tonkrüge zertrümmern.«
10 Und nun, Könige, zeigt Einsicht!
Lasst euch warnen, die ihr die Erde richtet!
11 Dient dem Ewigen mit Respekt,
jubelt und bebt!
12 Küsst den Sohn! Sonst zürnt er,
und ihr verliert den Weg,
wenn im Nu sein Zorn entbrennt.
Glücklich sind alle, die sich an ihm bergen!

Ein Weg in der Niederlage

Der 2. Psalm hat Pate gestanden, als die Leute Jesu von Jesu Leben zu erzählen versuchten. Der Zuspruch „Mein Sohn bist Du“, den die messianische Figur im 2. Psalm als ihren Auftrag erzählt (2,7),  bringt in der Taufe Jesu Berufung zum Ausdruck: „Du bist mein Sohn, der Geliebte. An dir habe ich Gefallen“ (Markus 1,11). Mit dieser Berufung interveniert Gott gegen die entfesselte Gewalt des römischen Imperiums und verspricht, die Welt nicht diesem Machtkoloss zu überlassen. Die Evangelien erzählen diesen Auftrag, indem sie Jesu Leben mit den Konflikten zwischen Judenheit und römischem Imperium im 1. Jahrhundert ins Gespräch bringen. Besonders der großflächige jüdische Ausstand gegen Rom, der das ganze Land in den Jahren 66-70 n. Chr. erfasste, steht im Hintergrund der Erzählungen. Obwohl er erst nach Jesu Tod stattgefunden hat, ist dieser Aufstand wesentlich für das Verständnis des Lebensweges Jesu, wie die Evangelien ihn darstellen. Die Evangelien Markus, Matthäus und Lukas zeichnen Jesu Weg in die Geographie und Chronologie des jüdisch-römischen Krieges ein. (1) Jesus Wirksamkeit beginnt in Galiläa, unter den Armen, wo die jüdischen Befreiungsbewegungen ihren Ursprung hatten. Nach einer gewissen Zeit kommt es zu dem Bekenntnis des Petrus: Du bist der Messias, der Christus! Danach (2) zieht Jesus nach Jerusalem – wie es die verschiedenen Führer des jüdischen Befreiungskampfes getan haben. Am Ende dieses Zuges steht der feierliche Einzug in Jerusalem, den Jesus als Einzug eines Königs inszeniert. In der Darstellung des Jüdischen Krieges von Flavius Josephus ist von solchen feierlichen Einzügen in Jerusalem im Verlauf des Aufstandes zu lesen. Dann folgen (3) Auseinandersetzungen mit der politischen Elite in Jerusalem und eine zentrale Rolle spielt der Verrat durch die eigenen Leute. Diese dritte Phase spiegelt die schreckliche Erfahrung, dass der jüdisch/römische Krieg zugleich ein Bürgerkrieg war. Belagert von den römischen Truppen haben sich die unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen in Jerusalem gegenseitig massakriert.

Historisch ist der Weg Jesu mit Sicherheit nicht durch diese einmalige Reise nach Jerusalem geprägt. Historisch ist es viel eher so gewesen, wie es im Johannesevangelium erzählt wird, dass Jesus wie es üblich war jedes Jahr zu den großen Pilgerfesten, zum Pessach- und Laubhüttenfest, nach Jerusalem hinaufgezogen ist – wie es auch Jesu Familie nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums getan hat (Lukas 2,41). Die einmalige, langsame Bewegung von Galiläa nach Jerusalem mit dem feierlichen Einzug in Jerusalem ist eine bewusste Auseinandersetzung mit der Geographie des jüdischen Krieges.

Einen Höhepunkt erreicht diese Verknüpfung der Geschichte Jesu mit den verschiedenen Exzessen des jüdisch-römischen Konfliktes in der Kreuzigungsszene. Die Frauen und Männer, die das Markusevangelium überliefern, „zitieren“ in dem Augenblick, in dem Jesus stirbt, aus dem Kriegsgeschehen, dass der Vorhang zerreißt, der im Jerusalemer Tempel den Gottesdienstbereich vom Allerheiligsten trennte. Sie erinnern daran, dass Titus, der Oberbefehlshaber der römischen Armen und spätere Kaiser in Rom, kurz bevor der Tempel in Flammen aufgeht, den Vorhang im Tempel beseitigt hat und in das Allerheiligste eingedrungen ist. Sie erzählen, dass es bei Jesu Kreuzigung mehr zu sehen gibt, als den einen, der stirbt und bezeugen, dass das römische Reich mit seinen Kreuzigungen seine Überlegenheit über die unterworfenen Völker inszenierte. Bei Jesu Hinrichtung geht es auch um den Sieg Roms über das jüdische Volk. Jesu Leben wird in die schreckliche Niederlage seines Volkes eingezeichnet und seine Messianität als Gottes Anspruch auf die Welt auch an diesem Endpunkt von Politik und Hoffnung erzählt.

Jesus Messias

In der Gerichtverhandlung vor dem Hohen Rat wendet sich der Hohepriester an Jesus mit der Frage „Bist du der Messias, der Sohn des Gepriesenen?“. Er fragt in der Absicht, Jesus zu Tode zu bringen, obwohl nach jüdischem Recht die Behauptung, Messias zu sein, vielleicht eine Schwärmerei, aber kein todeswürdiges Verbrechen war. Doch die römische Besatzungsmacht hatte immer wieder alle Königsverdächtigen als Unruhestifter hinrichten lassen. Der Hohepriester fragt und urteilt nach römischem Recht und verkörpert den Sieg Roms über Herzen und Köpfe. „Ich bin es“ antwortet Jesus auf die Frage des Hohenpriesters (Markus 14,61). Dann legt er dieses Messiasbekenntnis mit den Worten aus: „Ihr werdet das Menschenkind (den Sohn des Menschen) sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels“ (14,62). Aus Psalm 110, auf den die Jesusleute immer wieder zurückgegriffen haben, um Jesu Bedeutung zu buchstabieren, ersteht das Bild des messianischen Königs auf dem Ehrenplatz „zur Rechten Gottes“. Die Ewige gibt ihrem messianischen König teil an ihrem Weltregiment und ihrem Streit gegen lebensbedrohliche Mächte. Das Bild aus Psalm 110 fließt mit einer Vision aus dem Danielbuch zusammen. Daniel sah in einer Situation bestialischer Tyrannei einen Menschlichen aus dem Himmel kommen: „Mit den Wolken des Himmels kam einer wie das Menschenkind … und ihm wurde die Regierung, Ehre und das Königtum übergeben“ (Daniel 7,13). Mitten in den bestialischen Verhältnissen steht der Himmel für Humanität ein. Durch die Kombination des messianischen Königsliedes aus dem Psalter mit Daniels Vision von Humanität wird die Messiasvorstellung des Psalters in der Passionsgeschichte visualisiert. Die messianische Figur, die an Gottes Weltregiment  teilhat, ist ein Menschenkind, das diesem Namen Ehre macht. Mitten in dem politischen Prozess sieht Jesus es vor sich, dass verletzliche Menschen mit ihrer unzerstörbaren Würde und ihrer Liebe zueinander, den Streit um diese Erde gewinnen werden. Die Herrschenden werden entmachtet. Unrecht wird zur Rechenschaft gezogen. Menschlichkeit wird regieren. „Ihr werdet das Menschenkind sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels“.

Jesus selbst ist gefangen und dem Tod geweiht. Keine gesellschaftliche Kraft ist in Sicht, die die römische Besatzungsmacht entmachten könnte. Und die religiöse Elite hat sich zum Ziel gesetzt, das Netzwerk zu zerstören, das Jesus aufgebaut hat. Wie soll diese Vision von Menschlichkeit Wirklichkeit werden? „Ich bin es“ – sagt Jesus! Jesus selbst wird zur Antwort. Er bestreitet die Weltherrschaft Roms und dessen Sieg über Herzen und Köpfe, indem er seinem Volk die Treue hält. Er wird selbst zu der Grenze, die Gott Gewalt und Terror entgegensetzt. Die Vision vom Menschenkind, das zu Macht kommt, wird menschliche Praxis. „Von jetzt an“ fügen die Frauen und Männer, die das Matthäusevangelium überliefern, deshalb in die Markusvorlage ein. „Von jetzt an werdet ihr das Menschenkind sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels“ (26,64). Brutalität und Korruption stoßen in Jesus auf eine Grenze, die sie entmachtet. Jesus Messias verkörpert die Gegengeschichte der Humanität, die unzerstörbar ist und stärker ist als alle Gewalt. 

Die Vision von Humanität

Die Frauen und Männer, die in den Evangelien von Jesu Leben und seiner Bedeutung berichten, haben im Psalter vom Messias sprechen gelernt. Jesu Leben wird als jene messianische Existenz erzählt, die der Psalter einübt. Das Bekenntnis „Jesus Messias“ durchkreuzt damit die Exklusivität traditioneller Christologie. Jesu Leute erzählen Jesu Messianität mit Worten, die sie selbst beten, von denen sie selbst zu einer messianischen Existenz gerufen werden. Jesus gibt ihrer und aller Menschen Berufung Weg und Gestalt. Er verkörpert die zerbrechliche Vision von der Macht der Humanität, die mit jedem Menschen neu geboren wird. Für mich gehört zu dieser Vision eine Geschichte, die Abel Herzberg 1944 im Konzentrationslager Bergen Belsen in sein Tagebuch geschrieben hat. Er berichtet von einem Rabbiner S., der seinen Bart nicht abschneidet und zur Strafe in ein schweres Arbeitskommando abkommandiert wird. Eines Abends, als er wegen eines weiteren Vergehens stundenlang am Tor stehen musste, bricht er zusammen. Nun rät ihm ein jeder: Schneide deinen Bart ab. „Der Ältestenrat bietet ihm schon seit langem eine leichte Arbeit an, doch fordert: Schere deinen Bart ab. (...) R.S schweigt. Und rasiert sich nicht. Der Ältestenrat versteht nicht, dass er einen Angriff auf eine ganze Welt unternimmt. Fällt der Bart von R.S. dann fällt ein Stück dieser Welt, eine Bastion.

Und die Bastion fällt nicht.

Deutschland fällt, das Dritte Reich fällt (Abel Herzberg schreibt 1944!), der Bart von R.S. fällt nicht. Und sage noch einer, dass die Juden nicht organisieren können. So, meine Herren des Mythos, ja so macht ein Volk Geschichte. (...) Niemand weiß, ob er vielleicht ein Gelübde abgelegt, Gott zu dienen auf seine Weise. Er rasiert sich nicht. Rabbiner S. ist mit einem Bart in den Krieg gezogen und er wird den Krieg gewinnen“ (119f).

Literatur:
Karin Bornkamm, Mangelnde Urteilskraft. Die „Bibel in gerechter Sprache“, in: Elisabeth Gössmann / Elisabeth Moltmann-Wendel / Helen Schüngel-Straumann (Hg.), Der Teufel blieb männlich. Kritische Diskussion zur „Bibel in gerechter Sprache“. Feministische, historische und systematische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2007, 225-239.
Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011.
Abel. J.Herzberg, Zweistromland. Tagebuch aus Bergen-Belsen, Wittingen 1997.
K. H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, aus d. Niederl. übers. v. H. Stoevesandt, München 1966.

Klara Butting leitet das Zentrum für biblische Spiritualität und gesellschaftliche Verantwortung an der Woltersburger Mühle, Uelzen. Sie ist eine der Herausgeber/innen der Jungen Kirche.

Der Aufsatz erschien gekürzt in der Zeitschrift JUNGE.KIRCHE 2/2012
www.jungekirche.de


Tora ist in jüdischer Tradition der Name der 5. Bücher Mose, später der gesamten biblischen Überlieferung. Tora bedeutet Weisung.

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