«Wir müssen daran glauben, dass es eine andere Zukunft geben kann»
Rabbiner Arik Ascherman, Vorsitzender von «Rabbis for Human Rights», im Gespräch
mit Eik Dödtmann und Moritz Reininghaus

Herr Rabbiner Ascherman, was führt Sie nach Berlin?
Ich werde rund zwei Wochen lang durch ganz Deutschland reisen. Ich mache das für gewöhnlich zweimal im Jahr in Nordamerika und nun das erste Mal auch in Deutschland. Ich halte Vorträge und spreche dabei vor nichtjüdischen und jüdischen Zuhörern. Am Ende meiner Reise werde ich auch mit Vertretern der deutschen Regierung zusammentreffen, um mit ihnen über die Regierungspolitik zu sprechen. Ich versuche aber natürlich auch, Spenden für unsere Organisation zu akquirieren. Ich denke, die Vorstellung, dass Religionen fremdenfeindlich und partikularistisch sind, verbreitet sich zunehmend und daher ist es notwendig, eine breitere religiöse Auffassung darzustellen: Zum Beispiel die, die wir in der israelischen Unabhängigkeitserklärung finden und in der gesagt wird, dass unser Land auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden beruht ­– auf der Vision der Propheten Israels. Das ist eine solche religiöse Vision.

Was waren die Gründe, die Organisation «Rabbis for the Human Rights» ins Leben zu rufen?
Die Organisation wurde 1988 während der Ersten Intifada gegründet. Viele unserer Menschenrechtsorganisationen in Israel stammen aus dieser Zeit. Es herrschte damals viel mehr Sympathie mit den arabischen Israelis als während der Zweiten Intifada. Unser Gründer, Rabbi David Forman, schrieb damals einen Offenen Brief, nachdem er verschiedene einschneidende Erfahrungen gemacht hatte. Eines Tages wurde seine Tochter am zentralen Busbahnhof von Tel Aviv bedrängt, weil sie ein sehr «umstrittenes» T-Shirt trug, auf dem auf Arabisch, Hebräisch und Englisch das Wort «Pressefreiheit» stand. Rabbi Forman fühlte, dass er etwas unternehmen musste und schrieb daher den Offenen Brief an das israelische Oberrabbinat. Darin fragte er: «Warum kümmert sich das religiöse Establishment in diesem Land nur um die Sabbat-Vorschriften und die Kaschrut-Gesetze? So wichtig diese Dinge auch sein mögen: Wo sind die Abraham Joshua Heschels dieses Landes, die die Gesellschaft auf moralische Probleme hinweisen?» Dieser Aufruf verdeutlichte, was viele Rabbiner zu dieser Zeit fühlten: Es bedurfte einer rabbinischen Verantwortung. So fanden wir damals zusammen.

Aus welcher Glaubensrichtung kommen die Mitglieder der «Rabbis for the Human Rights»?
Wir sind die einzige Organisation in Israel, in der orthodoxe, reformerische, konservative Rabbiner zusammenarbeiten. Als wir damals anfingen, war es für Rabbiner vollkommen unüblich, in Bezug auf die Probleme der Palästinenser zusammenzuarbeiten.

Ihr hauptsächliches Betätigungsfeld ist die menschenrechtliche Lage der Palästinenser?
Anfangs ja, heute ist das nicht mehr so, da wir unsere Arbeit in der Zwischenzeit auch auf andere Gebiete ausgedehnt haben. Inzwischen kümmern wir uns auch um die Menschenrechte der jüdischen Israelis. Wenn wir in der Genesis lesen, dass alle menschlichen Wesen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden, dann betrifft das alle menschlichen Wesen. Damit ist die alleinerziehende israelische Mutter, die vor einem leeren Kühlschrank steht, ebenso gemeint wie der arabische Israeli oder der afrikanische Flüchtling.

Wie viele Mitglieder sind in Ihrer Organisation derzeit aktiv? Und wie finden Sie neue?
Wir haben ungefähr 120 Rabbiner als Mitglieder und rund 25 sonstige Mitarbeiter. Die Rekrutierung neuer Mitglieder läuft unterschiedlich ab. Manche kommen aus dem Ausland, hören von uns und sprechen uns dann an. Wir versuchen aber auch an den verschiedenen Ausbildungsstellen für Rabbiner in Israel aktiv zu sein, um Israelis einzubeziehen, wenn sie noch Studenten sind. Auch durch Konferenzen versuchen wir, noch mehr israelische Rabbiner zu erreichen.

Wurde es angesichts der politischen Lage in der jüngeren Vergangenheit schwieriger, Rabbiner und rabbinische Studenten zu anzusprechen?
Vielleicht wurde es ein klein wenig schwieriger, aber nicht allzu sehr. Ich denke, dass hier der Unterschied zwischen Menschenrechtsorganisationen und politischen Organisationen zum Ausdruck kommt. Wir kooperieren zum Beispiel mit keiner politischen Partei, wir glauben, dass die Besetzung beendet werden muss, aber wir haben keinen konkreten Vorschlag, wo die Grenze verlaufen soll oder einen Beschluss für eine Ein- oder Zwei-Staatenlösung. Die Zweite Intifada, die viele Israelis glauben ließ, dass es für sie im Nahen Osten keine Partner für den Frieden gibt, hat Menschenrechtsorganisationen weniger geschadet als politischen Organisationen, da für sie die Frage, ob es einen Partner für den Frieden gibt oder nicht, nicht allzu sehr von Bedeutung ist. Wir arbeiten mit den Mitgliedern aller Parteien zusammen, wenn es möglich ist. Es kommt vor, dass wir mit Politikern zusammenarbeiten, die in der Frage der Palästinenser sehr weit rechts stehen, mit denen wir aber in Fragen von Gastarbeitern oder bei israelischen Arbeitslosen durchaus übereinstimmen. Wenn man sich aber in einer dauerhaften Konfliktsituation befindet, dann stehen die Menschenrechte permanent auf dem Prüfstein. Ich arbeite nun seit 1995 für «Rabbis for Human Rights» und über die Jahre hinweg gibt es einen langsamen, aber stetigen Zuwachs an Mitgliedern.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass «Rabbis for Human Rights» eine sehr nordamerikanisch geprägte Organisation ist.
Es ist richtig, dass viele der Gründer aus der englischsprachigen Welt kommen. Aber heute besteht eine wachsende Zahl unsere Mitglieder zudem aus in Israel geborenen Rabbinern. Wir haben aber auch genauso Rabbiner aus Europa, aus Südamerika und anderen Regionen.

Wer sind die Geldgeber Ihrer Organisation?
Es gibt viele Menschenrechtsorganisationen, die in den besetzten Gebieten arbeiten, von denen die meisten aus Europa kommen, von wo aus sie auch unterstützt werden. Auch wir hatten dort schon immer Unterstützer. Die hauptsächliche Unterstützung erhalten wir aber aus der nordamerikanischen jüdischen Gemeinschaft, aber diese Quelle ist zunehmend erschöpft und heute sieht die Situation doch etwas anders aus. Heute kommt ungefähr ein Drittel der Spenden aus Nordamerika und mehr als 60 Prozent aus Europa und vielleicht zehn Prozent kommen aus Israel selbst. Es handelt sich vor allem um private Spender.

Viele Rabbiner fühlen sich eher dem rechten politischen Spektrum verpflichtet und fallen mitunter durch rassistische Kommentare auf. Gibt es viele Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und jüdischen Organisationen, die dem nationalistischen Lager angehören?
Leider ist das wahr. Ich denke sogar, dass dies immer schlimmer wird. Umfragen zeigen, dass religiöse Juden Menschenrechten eher ablehnend gegenüberstehen und eher negative oder gar rassistische Haltungen gegenüber Nichtjuden gegenüber vertreten. Insbesondere in den letzten Jahren mussten wir furchtbare Kommentare hören, die dazu aufriefen, keine Zimmer an Araber, ausländische Arbeiter oder Flüchtlinge zu vermieten oder Frauen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Daher sage ich, dass unsere erste Aufgabe bei «Rabbis for Human Rights» ist, gegen solche Angriffe auf die Menschenrechte vorzugehen, indem wir die Israelis in das intellektuelle Universum des Judentums einführen. Denn wenn irgendjemand zu Ihnen sagt: «Das Judentum sagt: ...», sollte eine große rote Warnleuchte im Kopf aufleuchten. Unsere Tradition sagt eigentlich fast zu allem irgendetwas, weshalb es oft allzu leicht fällt zu sagen: Wir repräsentieren eine Vision des Judentums, die auf jüdischen Quellen basiert. Viele nichtreligiöse Juden glauben, dass das dann das wahre Gesicht des religiösen Judentums ist, weil es das ist, was sie bei den Leuten sehen, die angeblich im Namen des religiösen Judentums sprechen. Das ist eine Frage der Sozialisation. Wenn man so wie ich in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist, nimmt man grundsätzlich an, dass zum Judentum soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte gehören. Das ist, was ich von meinen Eltern, von meinen Rabbinern, von meinen Lehrern gehört habe. Als ich das erste Mal in Israel war, bekam ich den ersten Schock, als ich bemerkte, dass man keine Bagels bekam und ich fragte: «Was ist das für ein jüdischer Staat, in dem man keine Bagels bekommt?» Aber den viel grundsätzlicheren Schock erlitt ich, als ich bemerkte, dass die grundsätzlichen Werte wie soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte nicht notwendigerweise von allen Israelis geteilt werden, besonders nicht von religiösen Israelis.

Wo sehen Sie hier die Möglichkeit, Ihren Beitrag zu leisten, damit sich das ändert?
Wir sind ein sehr demokratisches Land, das jedoch angesichts der wichtigsten Fragen in der Mitte zerrissen ist. Viele Menschen unterstützen ja auch, woran wir glauben. Deshalb haben wir mit einem Talmudkommentar begonnen, den wir benutzen, wenn wir in unseren Bildungsprogrammen oder bei der Armee mit jungen Menschen arbeiten. Wie ich bereits gesagt habe: Unsere eigene Unabhängigkeitserklärung gibt uns eine Vision für unser Land: Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Das ist eine religiöse Vision! Eine andere Frage ist: Was haben uns die Propheten über Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit zu sagen? Wir haben einmal zwei Israelis dabei er wischt, wie sie Oliven von den Bäumen von palästinensischen Bauern gestohlen haben. Obwohl die Diebe versuchten zu entkommen, bevor die Polizei eintraf, entwickelte sich mitten in dem Olivenhain dann eine theologische Debatte darüber, was die jüdische Religion über die Eigentumsrechte von Nichtjuden im Heiligen Land Israel zu sagen hat. Es war leider keine sehr ergiebige Diskussion, keiner hörte auf den anderen und einer sagte dann zu mir: «Du liest offenbar eine andere Tora als wir!» Und ich musste sagen: «Ja, Du hast wahrscheinlich recht, ich habe wohl eine andere Torarolle gelesen als Du. In Deiner müssen bestimmte Stellen fehlen, wie zum Beispiel: „Du sollst nicht stehlen“; „Du sollst nicht einbrechen“.» In Israel stimmen wir noch nicht einmal darin überein, was unsere jüdische Tradition denn überhaupt sagt. Alle Debatten, die wir heute in der jüdischen Welt haben, finden zwischen denen statt, die sagen: «Die zwischenmenschlichen jüdischen Gebote gelten nur für diejenigen, die wir als Juden betrachten, ja vielleicht noch nicht einmal für alle Juden, sondern nur für die in unseren engeren Gemeinschaft» und denjenigen, die sagen, dass wir angesichts der ersten Verse der Genesis davon ausgehen, dass alle menschliche Wesen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden und die sagen: Das gilt nicht nur für Juden und nicht nur für die Reichen und natürlich gilt es auch für Frauen.

Eine der Hauptaktivitäten von «Rabbis for Human Rights» ist, dass man menschliche Schilde gegen das Abholzen von Olivenhainen bildet oder sich gegen die Zerstörung von Häusern als Mittel der Bestrafung von Palästinensern wendet. Sie selbst wurden für solche Aktionen bereits verurteilt. Wurden Sie auch schon mit Einreiseverbot belegt, wie andere Aktivisten?
Als israelischer Staatsbürger kann man mir die Einreise nicht verweigern. In einer Demokratie – und Israel ist im Innern eine sehr starke Demokratie, leider nicht in den besetzten Gebieten – sollte ziviler Ungehorsam ein letztes Mittel sein. Denn wir haben Mittel der Demokratie, die es an vielen Orten dieser Welt nicht gibt: Die Gerichte oder die Presse, mit denen wir der Politik, die wir nicht unterstützen können, entgegentreten können. Aber wie Rabbi Abraham Joshua Heschel so oft zu sagen pflegte: «In einer Demokratie sind manche schuldig, aber viele sind verantwortlich. » Wenn man die israelischen Bulldozer sieht, wie sie ein Haus zerstören, das nie die Chance hatte, eine Genehmigung zu bekommen, wenn man sieht, wie der Familienvater daneben steht und einen Herzinfarkt erleidet und in diesem Moment die Kinder aus der Schule nach Hause kommen, dann ist das eine Situation, die man seinen schlimmsten Feinden nicht wünscht.

 

Ihre Aktionen sind oft riskant. Wurden schon Mitglieder ihrer Organisation verletzt?
Von unseren Mitgliedern direkt wurde noch keiner ernsthaft verletzt, aber von unseren Freiweilligen schon. Ich selbst wurde von israelischen Sicherheitskräften geschlagen und von radikalen Siedlern attackiert. Und mein Auto wurde von Palästinensern gestohlen. Unsere Arbeit ist kein Spaß. Für mich als Israeli, Rabbiner, Jude und Zionist ist es kein Vergnügen, mich Tag für Tag in den dunkelsten Ecken der israelischen Gesellschaft aufzuhalten, die ich doch eigentlich liebe. Ganz gleich, ob es sich um die Menschenrechte der Palästinenser oder um Fragen der sozialen Gerechtigkeit für Israelis, wie den sozialen Wohnungsbau, handelt. Und oft wird es auch physisch gefährlich. Aber ich sage Ihnen, warum ich damit weitermache: Wenn wir einen Auftrag haben, dann ist es der, dem Rückzug der Menschenrechte entgegenzutreten. Ein zweiter Auftrag ist, den intellektuellen Paradigmenwechsel in der jüdischen Welt zu unterstützen. Unser dritter Auftrag ist es, Vorurteile abzubauen. Und es gibt keine besseren Voraussetzungen, um Vorurteile abzubauen, als gemeinsam verprügelt zu werden. Nur ich als Israeli, besonders als religiöser Israeli, kann auf diesem Weg die Stereotype niederreißen, die so viele Palästinenser über Israelis haben. Das stärkste Vorurteil gegenüber religiösen Israelis ist ja, dass wir alle gewalttätige und fanatische Siedler sind. Nur ich kann palästinensischen Friedensaktivisten die Kraft geben, damit sie von ihren eigenen Leuten gehört werden und nur Palästinenser können mir ermöglichen, dass ich von meinen eigenen Leuten gehört werde. Eine Umfrage zeigt, dass eine stabile Mehrheit unter Israelis und Palästinensern sagt: «Wir wollen Frieden, aber die andere Seite nicht.» Bei allen Ungleichheiten die ökonomischen und militärischen Kräfte betreffend gleichen wir uns in zwei Punkten doch vollkommen: Zu allererst sind wir so felsenfest davon überzeugt, dass wir die Opfer sind, dass wir nicht glauben können, dass wir auch Täter sein könnten. Aber der Unterschied zwischen Opfer und Täter kann manchmal nur eine Haaresbreite sein. Der zweite Punkt ist, dass beide Seiten stets sagen: «Wir wollen Frieden – die anderen nicht». Was wir da zu tun haben, ist eine gerechte, richtige und jüdische Sache: Wir müssen daran glauben, dass es eine andere Zukunft geben kann. Wenn wir nicht glauben, dass es möglich ist, sagen wir oft, dass wir es nicht möchten. Deshalb kümmern wir uns nicht um den genauen Grenzverlauf und solche Sachen. Was wir machen, ist, dass wir den Leuten sagen: Es kann passieren – es ist möglich.

Zur Person
Rabbiner Arik Ascherman wurde 1959 im US-Bundesstaat Pennsylvania geboren und studierte an der Harvard Universität. Nach einem längeren Aufenthalt in Israel, bei dem er sich bereits für die Verständigung mit den Palästinensern einsetzte, kehrte er in die USA zurück und besuchte dort ein Rabbinerseminar. 1994 wanderte er endgültig nach Israel aus, heute lebt er in Jerusalem. Seit 1995 gehört er der 1988 von Rabbiner David Forman gegründeten Organisation «Rabbis for Human Rights» an, an deren Gründung Ascherman bereits beteiligt gewesen war. Zu den Mitgliedern von «Rabbis for Human Rights» zählen über 100 Rabbiner, darunter Reformjuden, orthodoxe Juden, konservative Juden sowie Studenten. Im Dezember 2004 wurde Arik Ascherman, der heutige Vorsitzende der Organisation, vom israelischen Staat angeklagt, weil er zusammen mit drei anderen Aktivisten passiven Widerstand gegen Häuserzerstörungen von Palästinensern geleistet hatte.

Jüdische Zeitung, Juli 2012

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