Zur Bedeutung der Beschneidung im Judentum
von Klaus-Peter Lehmann

Das Urteil
Das Kölner Landgericht hat in einem aufsehenerregenden Urteil die Beschneidung an Jungen für strafbar erklärt. Sie sei ein irreparabler Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Das Recht auf sie stehe über dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Recht auf Religionsfreiheit. Die Mehrheit der aufgewühlten öffentlichen Meinung pflichtet dem Kölner Urteil bei. Auffällig ist, dass die konkrete Beschneidungspraxis bei Juden und Muslimen meist ausgeblendet bleibt. Wie viele Juden haben in den Jahrtausenden seit Abraham unter den Folgen der Beschneidung gelitten oder sich über diesen Eingriff beschwert? Obwohl die Frage nach unversehrtem Leib und Leben oberste Wichtigkeit hat, hat diese Diskussion auch etwas Absurdes. Sie ist abstrakt. Man urteilt ohne große Kenntnis über Praxis und Sinn religiöser Zeremonien. Ein Preis unserer säkularen Gesellschaft. Der Zentralrat der Juden hat zurückhaltend reagiert und lediglich festgestellt, dass das Kölner Urteil einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften darstellt. Der Deutsche Ethikrat sprach sich für eine Zulassung der religiös motivierten Beschneidung unter medizinischen Auflagen aus.

Widerspruch
Deutlicher als der Zentralrat äußern sich manche Rabbiner: Wir werden Widerstand leisten, schreiben die Engländer A. Cooper und I. Adlerstein. Der Seleukidenkönig Antiochus wollte Israel hellenisieren und verbot die Beschneidung (165 a.C.; 1Makk 1,51). Der römische Kaiser Hadrian (132 p.C.) versuchte dasselbe und scheiterte ebenfalls am massiven Widerstand der Juden. Warum?
Das Wesen der Beschneidung besteht darin, dem Kind, noch bevor es darüber nachdenkt, zu verdeutlichen, dass der Mensch eine heilige gottgegebene Aufgabe  im Leben hat: die Welt zu verbessern, sie zu einem besseren Ort zu machen als den, in den das Kind hineingeboren wurde. (Die Zeit, 16.8.12).

Der Bund der Beschneidung mit Abraham
Den biblischen Bezug finden wir in 1Mose 17,1-14. Dort ist die Rede von gottesfürchtigem, gerechtem Lebenswandel, von der Volkwerdung Israels, von Abrahams Vaterschaft für die Völkerwelt und von der Landgabe. Für diese Verheißungen stiftet Gott einen ewigen Bund mit Abraham, dass ich dein und deiner Nachkommen Gott sei… Das aber ist der Bund zwischen mir und euch und deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles was männlich unter euch, das soll beschnitten werden. Das ist ein Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Im Alter von acht Tagen soll alles, was männlich ist unter euch, beschnitten werden, Geschlecht für Geschlecht… Das soll mein Bund an eurem Leibe sein, ein ewiger Bund.
Die Aufrichtung des Bundes mit Abraham begründet Israels weltgeschichtliche Aufgabe, Gottes Priester- und Friedemsvolk unter den Völkern zu sein. Die Beschneidung ist das verpflichtende Zeichen für jeden Juden, mit Leib, Seele und Geist Gottes Friedensbote unter den Menschen zu sein. Beschneidung ist Erwählung. Herzensbeschneidung, die Entfernung der Vorhaut des Herzens (5Mose 30,6; Jer 4,4), ist ihr Ziel, wie man mit dem Sch’ma Jisrael / Höre Israel betet: Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir ins Herz geschrieben sein (5Mose 6,4-9). Christen sind nach Paulus durch die Annahme des Wortes Christi durch ihn am Herzen beschnitten worden in ihrem unbeschnittenen Fleisch und insofern in den ethischen Horizont der jüdischen Fleischesbeschneidung ganz hineingenommen.

Heiligung der Triebe
Nach 2Mose 12,44.48 feiert ein bundestreuer Fremdstämmiger das Passahmahl wie alle Juden. Für ihn gilt auch das Beschneidungsgebot. D.h. Erwählung, Bund, Beschneidung und Thora sind keine religiösen Eliteveranstaltungen. Ihr zutiefst menschlicher Inhalt ist bedeutsam für alle. Die biblischen Gebote beschneiden die menschlichen Triebe, die Speisegebote den Ernährungstrieb, die Paarungsverbote den Sexualtrieb, das Beschneidungsgebot den Machttrieb. Nicht menschliche Zeugungspotenz sollen das Leben gestalten, nicht der Erstgeborene als stärkster Erbe sein und die Zukunft bestimmen, sondern der Erwählte. Und wer das ist, steht nicht gleich fest. Es könnte auch der Schwächere sein. Beschnitten werden die Triebe und wie an einem Weinberg gepflegt, also vermenschlicht und geheiligt, auf höhere Ziele gelenkt. Freud würde das Sublimierung für kulturelle Leistungen nennen. In der Bibel geht es um Heiligung. Bei den Paarungsverboten um Partnerschaft statt um sexuellen Besitz, bei den Speisegeboten um Verantwortung für die Lebenswelt statt um ihren Missbrauch als Speisekarte und bei der Beschneidung um den gottgegebenen Sinn des Lebens statt um Macht und Größe.

Vor dem Erwachen des spontanen Trieblebens, vor allem Nachdenken-Können über den Sinn des Lebens passiert die Beschneidung. Als ein meiner Sinnen- und Gedankenwelt vorgängiges leibliches Zeichen, erinnert sie mich daran, zur Heiligung des Lebens berufen zu sein. Das ist eine herrliche Sache. Die Beschneidung wälzt die Sklavenschmach Ägyptens von Israel ab (Jos 5,9). Sie meint: Aufbruch zur Befreiung von aller Sklaverei. Die Beschneidung erinnert an Israels ewiggültige Urerfahrung und Urhoffnung. Ihr metaphysischer Sinn macht die Beschneidung für das Judentum unverbietbar.
Israel hat wohl alle Gebote übertreten. Die Propheten werfen dem Volk aber nie vor, den Bund der Beschneidung zu verleugnen, Kinder nicht beschnitten zu haben. D.h. Israel war stets bundeswillig… Es darf wahrheitsgemäß behauptet werden, dass das jüdische Volk es nie gewagt hat. Diesem Zeichen des Bundes untreu zu werden (S. Ph. De Vries).

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