Die Beschneidung
Ein Zwischenruf
von Martin Stöhr

Eine Strafkammer des Kölner Landgerichts sieht (7. 5. 12) in der Beschneidung minderjähriger Jungen eine verbotene Straftat, denn sie verletze das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Da sie irreversibel sei, verletze sie außerdem die Entscheidungsfreiheit für eine spätere - religiöse oder nichtreligiöse - Orientierung des Erwachsenen. Der angeklagte muslimische Arzt, bleibt straffrei. Er habe „verbotsirrtümlich“ gehandelt. Noch ist das Urteil in letzter Instanz nicht rechtskräftig, verunsichert jetzt schon jüdische und muslimische Gemeinden. Sie fürchten als Minderheiten um ihre Zukunft in Deutschland. Für Micha Brumlik sagt das Urteil auch: „Judentum und Islam sind hier nicht erwünscht!“ Die Konferenz europäischer Rabbiner spricht vom schwersten  Angriff auf das Judentum nach dem Holocaust. 

Drei Grundrechte konkurrieren: Das elterliche Recht der Erziehung, das am Kindeswohl orientiert ist (GG Art. 6), das Recht der Religionsfreiheit (GG Art. 4) sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit (GG Art. 2). Das letzte Recht dominiert das Urteil. Es huldigt dem Aberglauben, bis zum Erwachsenwerden sei das Kind gewissermaßen eine tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt. Erst der Erwachsene fülle es eigenständig mit seinen Werten und zeige diese durch frei gewählte Mitgliedschaften und Symbole an.

Was aber folgert aus Artikel 6,2 GG, wenn er sagt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht“? Können sie in dieser Pflicht zur „Pflege und Erziehung“ ihrer Kinder die Werte aussparen, die ihnen wichtig und der Weitergabe wert sind? Die zur Identität ihres Glaubens oder Nichtglaubens gehören? Kann der Staat bestimmen, was zur Identität einer Religion gehört und was nicht? Gab es hierzulande nicht eine xenophobe Tradition, die zu wissen und durchzusetzen meinte, was sie weltanschaulich oder pseudo-religiös für wesentlich hielt?

Zur Identität des jüdischen wie des muslimischen Glaubens gehören Gerechtigkeit und Liebe, Wahrhaftigkeit und Freiheit – Werte, über deren Gewicht, Sinnhaftigkeit und Aneignung ein Baby oder Kleinkind nicht entscheiden kann. Deshalb gibt es ein Sorgerecht der Eltern. Sie lehren und üben ein, wozu später ein Erwachsener sich bekennen kann. Ein leibliches Zeichen erinnert an die Geschichte dieses Wertekanons und an seine Ganzheitlichkeit. 

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt das Urteil „rechtsstaatlich unumgänglich“; der „Rechtsstaat muss auch Kinder vor ihren Eltern und deren Überzeugungen in Schutz nehmen“. Eine Zwischenfrage: Wie sieht das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus, wenn es um Piercing, Tattoos oder Impfungen bei Kleinkindern geht? Von der Armut ganz zu schweigen, die Millionen von Kindern körperlich „versehrt“?

Glaubende wie Nichtglaubende bestimmen, was zu ihrem Glauben bzw Unglauben gehört. Das ist gegen den Staat und alle Fundamentalisten, auch die unter Abrahams Erben, zu verteidigen. Gern treten selbsternannte Oberregulatoren oder „Hauptverwaltungen ewiger Wahrheiten“ (R. Havemann) auf.  Verteidiger des Kölner Urteils sprechen von einer notwendigen Entscheidung für eine zivilisatorische Moderne gegen archaische Traditionen. Angeblich überwinde endlich die Aufklärung religiöse Rückständigkeit. Nein, das Urteil und seine kurzschlüssigen Verteidiger verstärken hierzulande eine Einstellung, die dem wahren Erbe der Aufklärung von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn und ihrer noch viel zu wenig gelebten Praxis strikt entgegenarbeitet. Navid Kermani warnt zu Recht vor dem „Fundamentalismus einer aufs Diesseits fixierten Weltsicht, die nichts gelten lässt, was außerhalb ihres eigenen beschränkten Blickfelds liegt“.

Vernunft wie Religion haben beide der Humanität zu dienen, auch wenn  beide Beispiele ihrer eigenen Missbrauchsgeschichte kennen. Minderheiten testen gerade mit ihren Besonderheiten im Rahmen der allgemeinen Menschenrechte die Toleranz einer Mehrheitsgesellschaft und erst recht die des Staates. Karl Marx war auf einem assimilatorischen Irrweg, als er 1843 forderte „Die Judenemanzipation ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum“. (Heute ergänzen viele, dass die Emanzipation der Muslime ihre Emanzipation  vom Islam verlange).

Gen 17 erzählt von Abrahams Beschneidung seiner zwei Söhne Ismael und Isaak, auf die Israel und der Islam sich beziehen. Sie ist ein untrügliches Zeichen der Zugehörigkeit zu einem jeweils unterschiedlich verpflichtenden Bund Gottes. Nicht nur in Zeiten der Verfolgung wird leiblich-symbolisch bezeugt, in welche Traditionskette sich jemand stellt oder gestellt wird, wenn Erwachsene dem Kind vermitteln, was ihnen selbst aus ihren kulturellen und ethischen Überlieferungen wichtig ist.

Eine Vergewaltigung von Unmündigen, gegen die der Staat das Kind auch gegen die Eltern schützen müsste, findet nicht statt. Eine Traumatisierung durch frühe Schmerzerfahrung ist wissenschaftlich nicht belegt. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine Beschneidung von Jungen als hygienische Prävention, was zB in den USA an der Mehrzahl aller kleinen Jungen auch geschieht.   

Jedes Urteil ergeht im Namen des Volkes. Es stammt weder aus einem luftleeren Raum noch bleibt es im öffentlichen Raum wirkungslos, wo menschenfeindliche Einstellungen wabern. Kommentare und Leserbriefe zeigen mehrheitlich erschreckende Stimmen. Sie rufen  antisemitische und antiislamische Vorurteile auf, indem man zB die weibliche Beschneidung gleichsetzt mit der von Jungen. Oder man erinnert an das Schächten, das ebenfalls die Überholtheit grausamer Religionen belege. ChristInnen sollten nicht vergessen, dass Jesus wie die biblischen Autoren beschnitten waren. Paulus darf deswegen nicht für ein Beschneidungsverbot in Anspruch genommen werden, weil er mit dem Konzil der Apostel und im Streit mit Petrus die Beschneidung jener Menschen ablehnt, die aus den Heidenvölkern zur christlichen Gemeinde kommen. Für ihn sind Beschneidung und Kaschrut besondere Zeichen Israels, zu Gottes ungekündigtem Bund zu gehören. Das Kölner Urteil ruft nach einer öffentlich aufklärenden Debatte und nach einer Gesetzgebung, die das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht auf Kosten der Religionsfreiheit sowie der elterlichen Verantwortung auslegt.   

Erschienen in JUNGE KIRCHE August 2012

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email