Rache – der Gott der Rache im Alten und Neuen Testament
von Klaus-Peter Lehmann

Die vorurteilsbeladene Tradition vom alttestamentlichen Gott der Rache

Das Alte Testament sei ein Buch voll von Rache und Gewalt und sein Gott, der Gott Israels, ein rachsüchtiger Despot, der Unterdrückung und Unrecht legitimiere. Diese Meinung durchzieht die Kirchengeschichte.
Marcion (85–160) war der erste christliche Theologe, der einem guten Gott des Neuen Testaments einen bösen Gott des Alten systematisch gegenüberstellte. Auf dem weltanschaulichen Hintergrund der Gnosis sah er in letzterem einen grausamen Demiurgen,  (1)  den Schöpfer einer materiellen und bösen Welt, die Christus, der Vertreter des Liebesgottes, überwunden habe, um die Erlösten in ihre rein geistige Heimat eines spirituellen Lebens zu führen. Demzufolge reduzierte er den biblischen Kanon auf das sog. marcionitische Evangelium (10 Paulusbriefe und ein von jüdischen Hinweisen gereinigtes Lukas-Evangelium). Die Kirche hatte Marcion zwar als Ketzer ausgestoßen, doch haben seine Meinung von der Thora als Gesetz der Strafe und Rache, seine Judenfeindschaft und sein weltanschaulicher Dualismus bis heute weitergewirkt.
Durchwegs herrschte in der Kirche gegenüber dem Alten Testament eine ambivalente Haltung. Einerseits wurde es als eigene Glaubensurkunde hochgeschätzt, andererseits versuchte man das Judentum von ihm zu trennen (>Enterbungslehre). Daneben prägte sich der Wahn aus, die Juden seien mit dem Teufel im Bunde und blind für die Worte der Bibel. Der Antijudaismus wandte sich nicht primär gegen die Bonität des Alten Testaments. Doch konnte es nicht ausbleiben, dass der Hass gegen die Juden auch auf ihre Glaubensurkunde zurückschlug. Abwertungen des Alten gegenüber dem Neuen Testament hat es deshalb immer wieder gegeben.  (2)  Zu einem scharfen Schnitt, zu einer generellen Ablehnung der hebräischen Bibel kam es aber erst im 20. Jh.
Prominent war Adolf von Harnack 1851-1930). Er meinte, Jesu Barmherzigkeit habe die Racheregel >Auge um Auge, Zahn um Zahn ersetzt. Denn im Neuen Testament würde der grausame Judengott, „der kriegerische und unberechenbare Jehova zu einem heiligen Wesen.“  (3)  Er betrachtete es als „Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“, das Alte Testament „als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren.“  (4) 
Vollendet wurde diese Meinung im Nationalsozialismus. Alfred Rosenberg sprach vom „Hass“ des „mordenden Messianismus“, der, entfacht vom Alten Testament, höchstes jüdisches Bestreben sei, im Gegensatz zu den nordischen Idealen Ehre und Freiheit.  (5)  Der Theologe Emanuel Hirsch sekundierte, „das Alte Testament in seiner Ganzheit sei durch den Glauben an Jesus zerbrochen.“ Wie alles Jüdische zeichne es sich durch den Mangel an nationalem Opferwillen aus. (6)  Die Deutschen Christen sprachen davon, dass mit dem Neuen Testament „der tödliche Gegensatz zwischen diesem Jesus und dem Judentum aufgebrochen“ sei.  (7)  Sie erwarteten, dass sich die Kirche „vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral freimacht.“  (8) 
Heute hat die kirchliche Theologie diesen Dualismus grundsätzlich überwunden.
Aber Pazifisten, die von der Heiligkeit des Lebens an sich ausgehen; eine Theologie, die auf die Propheten Kritik an herrschendem Unrecht als Rebellion gegen Gottes Schöpfungsordnung verurteilt; Dualisten, die den Zorn Gottes in Gegensatz zu seiner Liebe stellen; und eine Theologie, die von einer Entwicklung Gottes vom gewalttätigen im Alten zum friedliebenden im Neuen Testament spricht, neigen zu einer Abtrennung des ersteren (mit seinem  jüdischen Kriegsgott) vom letzteren (mit Jesus und seinem Liebesgott).
Diese Form des Antijudaismus überlebt heute in den Stimmen Einzelner und in den Medien. So schrieb Franz Alt, der alttestamentliche Gott sei ein Rachegott, der Gott Jesu ein Liebesgott.  (9)  Aus der deutschen Presse ein Beispiel für viele: >“Auge um Auge, Zahn um Zahn schien bisher eindeutig Israels Politik zu bestimmen.“  (10) 

Die Rache des Gottes Israels heißt Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Eine sorgfältige Schriftauslegung ist die entscheidende Voraussetzung, um dem Vorurteil vom jüdischen Rachegott beizukommen.

 Das Verbot der menschlichen Rache
Das Gebot der Nächstenliebe und das Verbot, Rache zu üben, findet sich in der Mitte der Thora: Du sollst dich nicht rächen und den Kindern deines Volkes nichts nachtragen, sondern deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Ich bin der Herr (3Mose 19,18). Rabbiner und Apostel achten diese Weisung als den zentralen Ausdruck des Willens Gottes (Mk 12,28-34; Röm 13,8-10; Bereschit Rabba zu 1Mose 5,1). Die Rabbiner bemühten sich um eine umfassende Auslegung für den Alltag: Was heißt rachsüchtig und was heißt nachtragend? Wenn jemand einen bittet, ihm seine Sichel zu borgen, und dieser es ablehnt, worauf dieser am folgenden Tag jenen bittet, ihm seine Axt zu borgen, und jener erwidert: ich borge dir nicht, wie auch du mir nicht geborgt hast. Dies heißt ‚rachsüchtig‘. Was heißt ‚nachtragend‘? Wenn jemand einen bittet, ihm seine Axt zu borgen, und dieser es ablehnt, worauf dieser am folgenden Tage jenen bittet, ihm sein Gewand zu borgen, und jener erwidert: da hast du; ich bin nicht wie du, der du mir nicht geborgt hast. Dies heißt ’nachtragend‘ (Joma 23a).

Menschliche und göttliche Rache
Der Prophet Jeremia klagt unter der Bürde seiner Berufung (20,8). Der Ruf nach Gerechtigkeit stürzt ihn in gemeine und bedrohliche Anfeindungen (V.1). Seine Feinde wollen sich seiner bemächtigen, sich an ihm rächen (V.10). Obwohl zum Gespött vieler geworden (V.7), hofft er zuversichtlich, der Gott Israels, der das Leben des Armen aus der Hände der Übeltäter errettet (V.13), werde sich an ihm erweisen. Dann käme die ewige Schmach derer zutage, die Böses sinnen. Das ist deine Rache an ihnen, die der Prophet zu sehen hofft (V.12).

Gottes Rache ist Herstellung von Gerechtigkeit
Der Beter von Psalm 94 bittet den Gott Israels, den Gott der Rache, dass er erscheine (V.1). Er schildert das Wüten der Übeltäter (V.3ff). Sie zertreten das Gottesvolk Israel (V.5), gebärden sich unmenschlich, morden Witwe, Fremdling und Waise (V.6). Der Beter hofft, Gott wird aufstehen gegen die Boshaften (V.16). Er wird seinem Volk treu bleiben (V.14), er wird es wiederaufrichten in Thoratreue (V.12), er wird die Bosheit zurückdrängen und dafür sorgen, dass sich vollkommene Gerechtigkeit im Land durchsetzt: Ja, zur Gerechtigkeit hin wird der Richtspruch sich kehren (V.15). Das ist Gottes Rache: die Herstellung von Gerechtigkeit. Dagegen werden die Böswilligen nicht bestehen. Sie werden im Kampf Gottes um Gerechtigkeit untergehen (V.22).

Gerechtigkeit und Gewalt
Weil die Böswilligen ohne Einsicht sind, ihre Gewaltherrschaft nicht aufgeben, ist das Kommen von Gerechtigkeit nur als Kampf vorstellbar, als Kampf von umstürzlerischer Gewalt (1Sam 2,1-10; Lk 1,46-55). Der Herr hilft den Gebeugten auf, die Gottlosen erniedrigt er in den Staub (Ps 147,6).
Verletzt diese Gewalt die Heiligkeit des Lebens? Im biblischen Zeugnis bekennt Israel JHWH, den Gerechtigkeit Gebietenden, als Herrn über Leben und Tod und erkennt seine gerechten Weisungen als den Weg in das geheiligte Leben (3Mose 19,1-3; 5Mose 4,8; 16,20). Nicht das Leben an sich ist heilig. „Falsch ist der Satz, dass Dasein höher als gerechtes Dasein stehe.“  (11) 
Die Bibel verbietet die menschliche Rachsucht und hofft auf den Tag der Rache Gottes, der Gerechtigkeit und Trost bringt (Jes 61,2). Sie stellt ihren Leser vor das Problem der rächenden Gewalt in der Heraufführung gesellschaftlicher Gerechtigkeit, indem sie den gerechten Zorn Gottes über den ungerechten Menschen zu Wort kommen lässt und das ungerechte Leben der Völkerwelt mit der moralisch gerechtfertigten Möglichkeit seiner gewaltsamen Beseitigung konfrontiert (prophetische Gerichtsansagen). Der Tag der Rache Gottes bringt die endgültige Gerechtigkeit, das Reich Gottes, erdbebenartig, unter Krieg und menschlichen Verwerfungen (2Chr 15,6f; Mi 7,6; Lk 21,9f).
Das Alte Testament stellt vor das Problem der Gewalt in der angekündigten Revolutionierung des Menschen und seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch den Gott Israels. Auch der Apostel Paulus stellt sich diesem Problem.

Messianische Märtyrerethik im Neuen Testament
Paulus schreibt seinen Brief an die Römer unter dem Horizont der angebrochenen messianischen Zeit, angebrochen durch den, der eingesetzt ist zum Sohne Gottes voll Macht nach dem Geist der Heiligkeit kraft der Auferstehung der Toten, Jesus Christus (=Messias), unser Herr (Röm 1,4). Unser Herr, d.h. nach der Thora-Auslegung Jesu soll die Gemeinde, der Leib Christi (Röm 12,4f), leben, die Nächstenliebe in den Herzen.  Das ist, wie Paulus Röm 12,17-21 zeigt, alttestamentliche Weisung.
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem (V.17) legt Spr 24,29 aus. In: Rächet euch nicht selbst (V.19a) hören wir 3Mose 19,18 und Spr 20,22. Mein ist die Rache, ich werde vergelten (V.19b) betont wie Mose die Hoffnung auf den Tag der Rache Gottes (Ps 90,1; 94,1ff). Dementsprechend eindringlich die Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe als Gebot der unbedingten Feindesliebe aus Spr 25,21f: Wenn dein Feind hungert, so speise ihn, wenn er dürstet, so tränke ihn; denn wenn du dies tust, so wirst du feurige Kohlen auf deinem Haupt sammeln. Der Hoffnung auf den Tag der Rache Gottes entspricht die Ethik der Feindesliebe. Eine Ethik des Verzichts auf vergeltende, böse Gewalt: lieber leiden als rachsüchtig oder nachtragend sein.
Apostolische Ethik ist Weisung in die Antizipation des Reiches Gottes, die vorgezogene Praxis des für die Endzeit Erhofften: Völkerversöhnung durch Erfüllung der Thora (Mt 5,16f). Da die Apostel um die Leiden unter den kommenden Kriegen und Gewaltherrschern wissen (Lk 21,9-12) und an der gebotenen Nächstenliebe unter allen Umständen festhalten, handelt es sich um Weisungen für Verfolgte, für mögliche Märtyrer, die den Kampf gegen die übermächtige Bosheit mit der Liebe, die den Tod schon überwunden hat, zu bestehen hoffen Joh 17,15.26). Wer nicht sein Kreuz trägt und mit mir geht, kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,27).
Das Neue Testament erwartet Kriege und Gewalt in den messianischen Wehen und plädiert für ein bestimmtes Verhalten: für die allen Bedingungen trotzende, standhafte (Lk 21,19) Antizipation der verheißenen Menschheitsgesellschaft in Liebe bzw. Gerechtigkeit (Kol 3,10), damit diese als Gottes Ziel aller geschichtlichen Kämpfe und Leiden den Menschen und Völkern, sie hinweisend auf den Tag der Rache Gottes, vor Augen bleibe.

    1. Dualistische Geheimlehren des 1.-3. Jh n. C. Ein eigenmächtiger Gott hat die materielle Welt erschaffen. Ein Funke jedoch verbindet den Menschen mit der spirituellen Ewigkeit, sodass in der christlichen Variante Jesus die Menschen aus der Schöpfung des alttestamentlichen Demiurgen (= Baumeister des materiellen Kosmos) erlöst.
    2. Die alttestamentlichen Schriften haben nicht „die Eingebung der neutestamentlichen.“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 132)
    3. Adolf v. Harnack, Das Wesen des Christentums, München 1964, S. 55
    4. Ders., Das Evangelium vom fremden Gott, 1924, S. 217; s.a.a.O., Kap. 3, S. 31: das schreckliche Antlitz vom grausamen Judengott und Weltenschöpfer.
    5. A. Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts
    6. W. Schottroff, Theologie und Politik bei E. Hirsch, Kirche und Israel 1.87, S. 33.38
    7. V. Herntrich, Völkische Religiosität und Altes Testament, 1933, S. 26
    8. Entschließung der Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen 13.11.1933. Lohnmoral und Rachemoral unterscheiden sich hier nicht, denn Lohn gilt als Vergeltung im positiven, Rache im negativen Sinn.
    9. Fr. Alt, Frieden ist möglich, !983, S. 26
    10. Aus einem Kommentar der FR zum Golfkrieg 1990, in: Tafeltexte: Schawuot-Talmud-Rache, Ev. AK Kirche und Israel in Hessen-Nassau
    11. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, GS II/1, S. 201

    zur Titelseite

    zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email