Die neuen Rabbiner
von Daniel Neumann

Als Harry Kemelman in den sechziger und siebziger Jahren seine Krimis schrieb, deren Held der liberale amerikanische Rabbi Small war, da musste sich für die Mehrheit seiner nichtjüdischen Leser fast so etwas wie ein Paradigmenwechsel vollzogen haben. Das war ein Rabbiner? So sah ein Rabbiner aus? Jeans statt schwarzem Anzug, ein Mini-Käppchen statt eines großen schwarzen Huts, glattrasiert statt mit langem Rauschebart? So sieht doch kein Rabbiner aus!

Das Erstaunen von damals wirkt nach. Bis in unsere heutige Zeit. Und nicht nur das Erstaunen, sondern auch die freudige Bereitschaft, einen solchen liberalen Rabbiner allemal eher zu goutieren, als dessen strenge Kollegen, die entschlossen an den Traditionen festhalten, also von der nichtjüdischen Welt schon von vornherein als unbeweglich und anachronistisch wahrgenommen werden.

Wie sehr Äußerlichkeiten ein Gesamtbild beeinflussen können, und dabei vor oberflächlicher Wertung nicht zurückschrecken, hat kürzlich ein Beitrag in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ bewiesen, die immerhin als intellektuelles Flaggschiff unter den deutschen Printmedien gilt. Dort nämlich wurden die Absolventen des liberalen Rabbiner-Seminars in Potsdam denen des orthodoxen Berliner Rabbinerseminars gegenüber gestellt. Mit klarer Sympathie-Aufteilung: Hier junge, coole und freundliche Rabbiner, dort Rauschebärte mit finsterem Blick, hier Lebensfreude pur, dort Strenge ohne Lachen.

Oh, heilige Einfalt. Wenn doch die Welt so einfach wäre. Aber offenbar ist sie es für jene, die mit ihrem Tunnelblick auf die Juden und deren religiöses Leben schauen. So also sieht die Aufteilung der jüdischen Welt für nichtjüdische Beobachter aus: Hier weiß, dort schwarz. Hier liberal, dort orthodox. Hier Rabbiner ohne rabbinische Tradition, dort Träger eines in Jahrzenten angehäuften Wissens. Hier coole, schöne, kluge und freundliche Rabbiner und Rabbinerinnen, dort bärtige, g“ttgehorsame Männer mit düsterem Blick.

Ist an diesem Bild wirklich etwas dran? Wie viel Wahrheit steckt in dieser Beschreibung und wo war das eigene Vorurteil oder der Wunsch Vater des niedergeschriebenen Gedankens? Und schließlich: Was ist überhaupt ein Rabbiner und was ist ein guter Rabbiner?
Ein Rabbiner ist vor allem eines: Lehrer und Richter. Daher auch der aus dem hebräischen stammende Name Rabbi, was übersetzt soviel bedeutet wie: mein Lehrer. Er ist das religiöse Oberhaupt der Gemeinde und bietet ihr religiöse Führung und Leitung.
Bis hierher sind sich orthodoxes und liberales Judentum noch weitgehend einig. Doch nun beginnen die Unterschiede:

Ein orthodoxer Rabbiner wandelt auf den Spuren unserer Weisen. In dem Bewusstsein, dass dem Jüdischen Volk am Berg Sinai neben der schriftlichen Torah und den 613 Mitzvot auch die mündliche Lehre, also die Gebrauchsanweisung für die Umsetzung der Gebote von G“tt offenbart wurde, verpflichtet er sich der tiefgehenden Beschäftigung mit unseren Schriften und Lehren. Dem Lernen der Torah und des Talmud, der im 2. Jahrhundert von Jehuda dem Prinzen schriftlich zusammengefassten mündlichen Lehre samt ihrer Auslegung und Kommentierung und den Entscheidungen der großen Rabbiner von damals bis heute. All das dient ihm als religiöse Leitlinie für sein eigenes Leben und als Basis für die Leitung seiner Gemeinde, der er als Vorbild dienen soll. Als Vorbild im Glauben, aber noch viel wichtiger: Als Vorbild im Handeln und in der Mitmenschlichkeit.

Ein liberaler Rabbiner hingegen ist das Ergebnis einer gut 200 Jahre jungen Entwicklung. Beginnend mit der Französischen Revolution wurden auch erste Versuche der gesellschaftlichen Gleichstellung von Juden unternommen, die im Gleichschritt mit starker Säkularisierung und Modernisierung auch eine neue Form des Judentums entstehen ließen, eben liberales Judentum. Dieses versuchte, die Idee der g“ttlichen Lehren und Gebote zu überwinden und die jahrtausendealte Tradition hinter sich zu lassen. Es verwarf die Vorstellung der g“ttlichen Offenbarung am Berg Sinai und erlaubte die Veränderung und Abschaffung der Gesetze wegen des gesellschaftlichen Wandels. Davon ausgenommen waren die moralisch-ethischen Vorschriften des Judentums.
Ein liberaler Rabbiner ist daher den jüdischen Traditionen und dem Gesetz weit weniger verpflichtet und ist deshalb in der Lage, flexibler auf Veränderungen, Entwicklungen und gesellschaftliche Stimmungen zu reagieren.
Er soll quasi ein modernes Judentum repräsentieren. Zeitgemäß, flexibel, und mit starker ethisch-moralischer Ausprägung.

Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn weder bedeutet jüdische Liberalität einen gänzlich verantwortungslosen Umgang mit Torah und Tradition, noch meint Orthodoxie das blinde, hartherzige Festhalten an vermeintlich überkommenen Gesetzen und Lehren.
Denn auch das orthodoxe Judentum, das diese Bezeichnung übrigens erst seit gut 200 Jahren trägt, da es bis dahin das einzige, das praktizierende, das gesetzestreue, eben das Judentum war, verharrt nicht in einer religiösen Mumifizierung. Es ist bis heute dauernd und intensiv damit befasst, das Gesetz vor übereilten und leichtfertigen wesensverändernden Eingriffen zu bewahren und gleichzeitig eine moderate Anpassung an die fortschreitende technische und gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne zu erreichen. Dies jedoch stets in tiefem Respekt vor unseren Weisen und in enger Anlehnung an deren immensen Wissensschatz und deren Entscheidungen. Gelehrte wie Samson Raphael Hirsch, der im 19. Jahrhundert in Frankfurt geborene Rabbiner, haben außerdem bewiesen, dass eine Verbindung von weltlichen Wissenschaften und religiösem Wissen, von Moderne und Tradition durchaus möglich sind. Und zwar auch ohne Gefahr zu laufen, ein irgendwann von seinen Grundfesten gänzlich entfremdetes Judentum zu produzieren.

Die Krux mit der Liberalität ist nämlich folgende: Wo fängt man an und wo hört man auf? Welche Gebote werden beibehalten und welche als überkommen oder unpraktikabel verworfen? Und welche Bedeutung haben die zu vermittelnden Lehren und Grundsätze, wenn der Bezug zu G“tt als unmittelbarer Quelle der jüdischen Gesetzgebung fehlt? Wie glaubwürdig ist dann die vermittelte Botschaft und wie ernsthaft ihre Vermittler?

Diese Probleme haben orthodoxe Rabbiner nicht. Stattdessen schaffen sie es, ihre Gemeinden und deren Vorstände mit ihrer gelegentlichen Sturheit an den Rand der Verzweiflung zu bringen.
Wen wundert es da, dass viele Gemeinden ihrem Rabbiner mit gemischten Gefühlen gegenüber stehen, einer Mixtur aus Zuneigung und Distanz, aus Bewunderung und Verärgerung, aus Sympathie und Kopfschütteln.

Mehr denn je gilt deshalb eine Einsicht des litauischen Rabbiners Israel Salanter Lipkin aus dem 19. Jahrhundert: „Ein Rabbi, den man nicht aus der Stadt vertreiben will, ist kein Rabbi. Und ein Rabbi, der sich tatsächlich vertreiben lässt, ist kein Mann.“
 
So oder so, entscheidend ist etwas ganz anderes: Welche Form des Judentums vermitteln die heutigen Rabbiner und wie vermitteln sie es?
Ist dieses Judentum authentisch oder ist es ein Judentum aus der Retorte? Ein Judentum, das mit viel Witz und möglicherweise eben auch Wissen vermittelt wird, von coolen Rabbinern ohne Bart. Kann das denn etwas Schlechtes sein?
Jedenfalls ist es eine Form des Judentums, das von der nichtjüdischen Welt lieber gesehen wird.
Seien es eben solche Rabbiner, die modern und weltoffen daher kommen oder eben Rabbinerinnen, die das gesellschaftliche Emanzipationsbedürfnis einer Alice Schwarzer bedienen. Solche Juden imponieren der nichtjüdischen Gesellschaft und versetzen offensichtlich auch „Zeit“-Redakteurinnen in Verzückung.

Doch das Judentum und seine Lehrmeister sind nicht dazu da, ein gesellschaftliches Bedürfnis zu erfüllen. Das Judentum ist eine Religion die den Stürmen der Zeit getrotzt hat und das seit tausenden von Jahren. Und zwar nicht, weil deren Vertreter, die Rabbiner, Stars und Sternchen gewesen wären, die sich bedingungslos dem Zeitgeist angepasst hätten, sondern weil sie Vorbilder und Führer waren, die dafür gesorgt haben, dass die Juden trotz aller Widrigkeiten an ihrem Lebensquell festhielten. Dem Gesetz vom Sinai. Der Torah.

Unser Stammvater Abraham wird von uns nicht deswegen so hoch geschätzt, weil er sich dem Zeitgeist angepasst hätte und ein bequemer oder cooler Zeitgenosse gewesen wäre – obwohl ich keine Sekunde daran zweifle, dass er wirklich einer der coolsten überhaupt war – sondern weil er genau das Gegenteil tat. Er widersetzte sich dem common sense. Er widerstand dem zu seiner Zeit vorherrschenden Paganismus, der Vielgötterei und dem Götzendienst und verwarf alle bisherigen religiösen und weltbestimmenden Vorstellungen. Er befand sich im Auge des Sturms und stand doch felsenfest für seine Überzeugung. Er ließ alles hinter sich, Besitz, Familie und Freunde, um seine Botschaft in die Welt zu tragen. Eine Wahrheit, die außer ihm keiner zu erkennen vermochte. Die Idee des einen und einzigen G“ttes. Dies war damals eine Revolution, wie wir sie uns heute nur schwer vorstellen können. Und doch ist die darin zu Tage tretende Botschaft eindeutig.

Unsere Rabbiner, gleich welcher Richtung, sollten diese Botschaft beherzigen und sich von den jüdischen Traditionen, der jüdischen Lehre, ihrem Herz und ihrem Verstand leiten lassen.
Dass dies gelegentlich dazu führen wird, dass sie die Massen nicht im Sturm erobern, müssen sie verschmerzen. Und die nichtjüdische wie die jüdische Gesellschaft wird mit der Erkenntnis leben müssen, dass wir uns unsere Rabbiner nicht backen können.
Führungspersonen und Vorbilder sind manchmal eben auch unbequem. Und das ist auch gut so. Denn letztlich gilt der auch in der Physik bekannte Grundsatz, wonach man sich nur auf etwas stützen kann, das Widerstand leistet.

Ach übrigens: Es gibt in Deutschland tatsächlich bärtige Rabbiner. Und zwar sowohl liberale wie orthodoxe. Und ebenso gibt es glattrasierte Liberale und glattrasierte Orthodoxe. Und es gibt freundliche Liberale und freundliche Orthodoxe. Und das umgekehrte Phänomen gibt es auch.
Im übrigen habe ich in einem Zeitungsartikel einmal gelesen, dass Bartträger klüger und sympathischer wirken, als andere. Aber ob das auch für Rabbiner gilt?

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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