„Die Stimme der Bibel mit dem Pinsel gesehen“
Gedanken zu Bildern von Hasida Landau
von Michael Volkmann

„Die Stimme der Bibel mit dem Pinsel gesehen“ – das ist eine in mehrerer Hinsicht bemerkenswerte Formulierung. Wenn eine Malerin sagt, sie sehe mit dem Pinsel, dann kann man das so verstehen, dass sie das, was ihr inneres Auge sieht, mit Pinsel, Leinwand und Farbe für andere sichtbar macht. Das ist eine hohe Kunst, und wenn sie gelingt, erfüllt sie nicht nur die Künstlerin, sondern auch die Betrachter mit Glück.

Die israelische Malerin Hasida Landau sieht und malt „die Stimme der Bibel“. Eine Stimme kann man nicht sehen. Den geschriebenen Text der Bibel kann man sehen und lesen und könnte ihn dann malen, aber das ist hier nicht gemeint. Vielmehr geht es darum, dass dieser Text zuvor wieder zum gesprochenen Wort wird, dass er zu Gehör gebracht wird. Die Malerin hört – und malt dann die Bilder, die die biblische Stimme in ihr zum Leben erweckt.

Die Bibel ist zuallererst Stimme, ist gesprochenes Wort. Das hat in unserer Zeit kein anderer so eindringlich gesagt wie der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber. Zusammen mit Franz Rosenzweig hat er die Bibel zu verdeutschen unternommen, wie er es nannte. Die Buber­Rosenzweigsche Übersetzung ist wie ein Gedicht im Zeilenbruch gedruckt, sie will laut gelesen, zu Gehör gebracht werden, „Stimme der Bibel“ sein.

Wie Buber und Rosenzweig schöpft auch Hasida Landau aus der jüdischen Tradition. In ihr wird die Bibel beständig zu Gehör gebracht. Ihr ältester Teil, die Tora, die fünf Bücher Mose, wird in über fünfzig Wochenabschnitten jedes Jahr vollständig im Synagogengottesdienst vorgetragen. Jeder dieser rund fünfzig Paraschot ist eine Haftara, der zum Wochenabschnitt gehörende Prophetentext, zugeordnet. Über die Hälfte aller Psalmen haben ihren Platz in der jüdischen Gebetsliturgie. Und an den hohen Feiertagen kommen kleinere biblische Bücher zur Verlesung.

Ein Jude und eine Jüdin, die die Verbindung zu ihrer Religion nicht verloren haben, hören also beständig die Stimme der Bibel. An Werktagen treffen sie sich mit Gleichgesinnten im Lehrhaus, um die gehörten Texte zu wiederholen und mit Hilfe von gelehrten Kommentaren aus zwei Jahrtausenden zu studieren.

Hasida Landau ist so eine toratreue Jüdin. Sie wurde 1926 in Polen geboren, kam 1933 mit ihrer Familie nach Palästina, studierte Grafik in Jerusalem und lebt seit 1949 im Kibbuz Schluchot am Fuß der Gilboa­Berge, wo die Jesreel­Ebene ins Jordantal mündet. Mitglieder der religiösen jüdischen Jugendbewegung in Deutschland und Österreich hatten sich schon 1941 zur Gruppe Schluchot zusammengeschlossen, sieben Jahre später bekamen sie Land und gründeten ihr Dorf.

Zusammen mit den ebenfalls religiösen Nachbarkibbuzim Ein Hanatziv, Sde Elijahu und Tirat Zwi bildet Schluchot einen ganzen ländlichen Bezirk, in dem die Gebote der Tora auch in der Landwirtschaft eingehalten werden. Jeden Freitagabend senkt sich für fünfundzwanzig Stunden die Sabbatruhe über die ganze Gegend, in den Bildern symbolisiert durch die brennenden Sabbatkerzen. In diese Stille hinein spricht „die Stimme der Bibel“. Sie spricht davon, dass nicht der Mensch, sondern der Sabbat die Krönung der Schöpfung ist, der von Gott gesegnete und geheiligte Tag. Auch Hasida Landaus Schöpfungszyklen sind mit dem siebten Bild, dem des Sabbats, gekrönt.

Nach jüdischer Überlieferung gab Gott die Tora Mose am Sinai, seither wird sie von Generation zu Generation weitergegeben. Durch die Tora, durch Propheten und andere biblische Stimmen spricht Gott zu seinem Volk. In der „Stimme der Bibel“ redet die göttliche Stimme, die den Menschen anspricht und ihn zur Antwort auffordert: „Adam, wo bist du?“ – „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ – „Abraham, Abraham, lege deine Hand nicht an den Knaben!“ – „Mose, Mose, ... ziehe deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“. Diese und viele andere Stimmen „sieht“ Hasida Landau „mit dem Pinsel“.

In dem Bild vom brennenden Dornbusch taucht sie einen der Menora, dem siebenarmigen Leuchter, gleichenden Busch in eine glühendrote Lohe. Das ist die Szene aus 2. Mose 3, in der Gott Mose dazu beruft, die Hebräer aus ägyptischer Sklaverei in die Freiheit zu führen. Das Bild strahlt Kraft und Lebendigkeit aus, erinnert aber auch an Feuer und Blut, die Gefährdungen der Freiheit und den Gott, der das Volk in der Wüste als nächtliche Feuersäule schützt.

Im Bild „Kain“ lässt sie einen in sich verkrümmten Mann sich vom Tatort davon machen. Die elementaren Farben und Formen – nur hell und dunkel und senkrecht und waagerecht – lassen die Einsamkeit Kains angesichts des vergossenen Blutes seines Bruders umso tragischer erscheinen. Doch die Stimme der Bibel erzählt uns in 1. Mose 4, dass Gott den Mörder nicht fallen, sondern leben lässt.

In dem Bild „Und der Mensch mit seinem Weib verbarg sich ...“ stellt sie die bleichen nackten Leiber der beiden ersten Menschen in die Verlassenheit und Düsternis ihres Verstecks. Schatten fällt auf den Garten Eden, das Paradies wird zum Dschungel. Doch Gott holt Adam und Eva in 1. Mose 3 aus ihrer selbst gestellten Falle heraus und rüstet sie aus für das Leben in der rauen Welt, in die er sie dann entlässt.

In dem Bild „Lege deine Hand nicht an den Knaben“ lässt Hasida Landau die erhobene Hand Abrahams in der Luft erstarren, bevor sie zustechen und Isaak töten kann. Dieses Bild berührt mich am meisten von allen. Denn Abraham, der so unerreichbar in sich verschlossen wirkt, lauscht doch jeden Moment auf die Stimme Gottes und hält tatsächlich im letzten Augenblick inne – 1. Mose 22.

Hasida Landau zeigt den Menschen in seiner Verantwortung vor Gott und seinen Mitmenschen, wie er versagt und wie er standhält. Nie fällt sie ein Urteil. Sie sucht vielmehr nach Rettung aus der Verwicklung, nach dem Widder, den der Himmel schickt, damit es kein Menschenopfer mehr gibt. Diesem Widder, der an Isaaks Stelle geopfert wird, widmet sie ein eigenes Bild.

So stehen ihre Bilder in der Tradition gelehrter jüdischer Bibelauslegung, die den Menschen an seine Verantwortung erinnert, ihm den Weg zur Umkehr weist und ihn dazu erzieht, seiner menschlichen Bestimmung gemäß zu leben, als Gottes Geschöpf und Bruder und Schwester der Mitmenschen. Das ist ihre Antwort, ihre Zwiesprache mit der „Stimme der Bibel“ und ihr Beitrag zur Vermehrung dieser Stimme im Dialog mit anderen Menschen.

Da geschah es im Herbst 2003, in der schlimmsten Zeit der „Al­Aksa­Intifada“, dass Hasida Landaus Kunst eine unvermutete Antwort erfuhr, nämlich in der Einladung zu einer Ausstellung im palästinensischen Beit Jala. Denn dort wurde als ein Hoffnungszeichen angesichts einer deprimierenden, von Gewalt gezeichneten Wirklichkeit die Abrahamsherberge eröffnet, für die der lutherische Pfarrer von Beit Jala, Jadallah Shihadeh, und seine Tübinger Ehefrau Hannelore Jahre lang gearbeitet hatten. Ein Haus der Begegnung und des Gesprächs für Menschen der großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Ein Ort des Friedens inmitten des Streits, so gastfreundlich wie es die Bibel vom Erzvater Abraham erzählt.

Die evangelisch­lutherische Gemeinde von Beit Jala führt sich auf einen schwäbischen Bäcker namens Müller zurück, der ins Heilige Land reiste, sich in dem Dorf nahe Bethlehem niederließ und den jungen griechisch­orthodoxen Männern biblische Geschichten erzählte. Die Abrahamsherberge ist über Müllers Haus errichtet. In seinem Theologiestudium in Deutschland lernte Jadallah Shihadeh die Schriften Martin Bubers kennen und erkannte die Bedeutung von Bubers dialogischer Philosophie für die palästinensischen Christen in ihrer schwierigen Minderheitenposition zwischen Juden und Muslimen. Er kam zu der Erkenntnis, dass das Glück der Juden vom Glück der Palästinenser abhängt und umgekehrt das Glück der Palästinenser vom Glück der Juden. Der Segen des einen Volkes, so sagt Jadallah Shihadeh, hängt ab vom Segen des anderen Volkes.

Die Ausstellung der Bilder Hasida Landaus in der Abrahamsherberge in Beit Jala, die Jahre später zustande kam, ermöglichte einen christlich­jüdischen Dialog von besonderer Art, der zugleich eine Geste israelisch­palästinensischer Annäherung ist. Auf diesem Dialog liegt ein besonderer Segen und in ihm ruht eine besondere Kraft, nämlich die Möglichkeit zu Frieden und Versöhnung. Darum ist es gut und wichtig, dass Beit Jala ein Anfang war für eine Reise dieser Bilder auch durch Deutschland. Denn auch hier sind viele Menschen gespalten in die Fronten des Nahostkonflikts, in Freunde nur der einen oder nur der anderen Seite, und der Riss geht auch mitten durch unsere Kirche.

Diese Bilder und der Ort, von dem diese Ausstellung ihren Ausgang nimmt, legen auch uns den Dialog nahe, das echte Gespräch. „Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens“ lautete Martin Bubers Dankesrede, als er 1953 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Damals sagte er: „Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den andern, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen existenten Andern wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiß nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.“ (Zitiert in: Martin Buber, Nachlese, Heidelberg 1965, S. 229)

Die Fähigkeit zum echten Gespräch und zum friedlichen Zusammenleben über wachsende Gegensätze hinweg wird auch für unsere Gesellschaft immer wichtiger. Wenn die Kirche zu dieser Situation positiv beitragen möchte, so muss sie Menschen für den interreligiösen Dialog schulen und sich weiter auf das Gespräch zwischen den Religionen einlassen.

Ich habe die Zeit nicht mehr erlebt, als in unserem Land das echte Gespräch verlacht und die geballte Faust zum schlagenden Argument erhoben wurde. Ich bin in dem Schweigen aufgewachsen, das jener Zeit nachfolgte. Doch die Stimme, die wir hier um uns herum in Bildern sehen, „die Stimme der Bibel“, habe ich dank naher Verwandter schon früh vernommen, sie hat in mir das Bedürfnis zur Begegnung und zum Gespräch mit Juden geweckt. Im Studium habe ich dann erkannt, dass das nicht nur so etwas wie ein Hobby war, sondern ein Thema, das zum Wesen der Kirche gehört. Wenn das Christentum sich selbst erklären will, muss es immer vom Judentum reden. In der Vergangenheit war diese Rede böse und verächtlich. Zwei Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung haben das geändert: Auschwitz hat die christliche antijüdische Vorstellungswelt erschüttert, und die Staatsgründung Israels hat sie vollends auf den Kopf gestellt.

Vor über dreißig Jahren haben meine Amtsvorgänger damit begonnen, das Gespräch zwischen Christen und Juden in unserer Landeskirche aufzubauen. Sie luden dazu toratreue Juden aus Israel nach Deutschland ein, unter ihnen auch Menschen aus Tirat Zwi und Ein Hanatziv, den Nachbarorten von Schluchot. Praktisch alle von ihnen hatten Angehörige verloren in dem großen Morden der Nazis und ihrer Helfer. Doch sie ließen sich für diese Arbeit gewinnen, und sie wurde ihnen zum Herzensanliegen. In drei wichtigen Erklärungen hat seitdem unsere Landeskirche ihr Verhältnis zum Judentum auf eine neue Grundlage gestellt. Das war eine Umkehr von einer Radikalität, wie sie die Kirche selten vollzieht. An vielen Orten wirken kleine oder größere Gruppen daran mit, dass das neue Verhältnis zum Judentum in immer mehr Gemeinden von immer mehr Christen wahrgenommen, bejaht und bestätigt wird. Wir stehen immer noch am Anfang. Aber was erreicht wurde, ist schon jetzt so beeindruckend, dass der christlich­jüdische Dialog zum Vorbild für andere Bewegungen wurde, die Einstellungen von Menschen verändern möchten, z. B. für den Arbeitskreis Sinti und Roma in unserer Kirche oder für das Gespräch zwischen Christen und Muslimen.

Es gab in Deutschland schon einmal eine kurze Zeit, in der vergleichbare Aufbrüche geschahen. Das war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, bevor die Nazis an die Macht kamen. Auch da hatte es schon Ansätze zu einem Dialog gegeben, ausgehend von den Jüdischen Lehrhäusern in Frankfurt und Stuttgart. Das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main wurde 1920 von Franz Rosenzweig gegründet. Es war eine Bildungseinrichtung, die modernen Juden die Rückkehr zur jüdischen Religion ermöglichte. Im Jüdischen Lehrhaus Stuttgart, das von 1926 bis 1938 bestand, führte Martin Buber mehrere Religionsgespräche mit christlichen Gesprächspartnern, damals etwas ganz Ungewöhnliches.

Seit Februar dieses Jahres gibt es in Stuttgart wieder ein Lehrhaus. Es ist keine spezifisch jüdische Einrichtung, sondern es nennt sich „Stuttgarter Lehrhaus. Stiftung für interreligiösen Dialog“. Zwei Christen, Karl­Hermann und Lisbeth Blickle, und ein Jude, Meinhard Tenné, sind die Stifter. Christen, Juden und Muslime tragen zum Programm bei und nutzen die Möglichkeit zu Begegnung und Gespräch. Wir möchten mit dem Lehrhaus zum Frieden zwischen den Religionen und den Menschen in Stuttgart und dem ganzen Land beitragen.

Wer den Frieden zwischen Menschen fördern möchte, hat keine Alternative zu Begegnung und Dialog. „Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den andern, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen existenten Andern wahrnimmt, bejaht und bestätigt“, sagt Martin Buber, der die „Stimme der Bibel“ so meisterlich verdeutscht hat. Christen bejahen und bestätigen Juden, Israelis bejahen und bestätigen Palästinenser und umgekehrt – wo dies geschieht, kann Frieden wachsen. Die Bilder von Hasida Landau, die über Beit Jala bis zu uns gekommen sind, leiten uns an, auf die Stimme der Bibel zu achten, die uns an unsere menschliche Bestimmung weist.

Vortrag zur Ausstellungs-Eröffnung im September 2010 in Metzingen, Martinskirche im Oktober 2010 in Hechingen, Alte Synagoge

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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