Karl Marx
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Der Philosoph und Politiker Karl Marx (1818-1883) kam aus einem berühmten Rabbinergeschlecht. Seine historische Leistung ist die Zusammenführung von Hegelscher Philosophie, Nationalökonomie und industriellem Proletariat zu einer umfassenden wissenschaftlichen Geschichtstheorie, in der letzteres die politische Macht erkämpft, die kapitalistische Gesellschaftsordnung stürzt und selber nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.  (1)  Diese messianisch anmutende Theoriehat die Frage aufgeworfen, inwieweit Marx‘ Leben und Gesamtwerk von seiner jüdischen Abstammung beeinflusst worden sind, obwohl er selber völlig säkularisiert war. Weil negative und abfällige Statements über die Juden die schriftliche Hinterlassenschaft von K. Marx durchziehen, stellt sich auch die Frage, ob er antisemitisch war.

Die Herkunft
Heinrich Marx, der Vater von K. Marx, war dritter Sohn des Rabbiners von Trier, Meir Halevi Marx. Unter dessen Vorfahren finden sich mehrere Rabbiner. Auch die Familie der Großmutter weist eine Reihe bedeutender Gelehrter auf. Der Ururgroßvater Josua Heschel Lwow war ein großer Rabbiner, von dem gesagt wurde, keine Entscheidung in der jüdischen Welt würde getroffen, ohne sein Gutachten einzuholen. Die Reihe lässt sich bis ins 15.Jh. zurückverfolgen. Auch mütterlicherseits hatte K. Marx rabbinische Vorfahren.
Heinrich Marx war ein vom aufgeklärten Humanismus gebildeter, vom Synagogenglauben gelöster, deistischen Anschauungen anhängender, erfolgreicher und angesehener Rechtsanwalt in Trier. Der Ausschluss der Juden von allen öffentlichen Ämtern (4.5.1816) zwang ihn zur Taufe und zum Bruch mit seiner Familie. Als Vater kümmerte er sich auffallend intensiv und einfühlsam um seinen Sohn.
Im Blick auf sein scharfes Denken, sein lebenslanges unablässiges Studium und sein Ringen um die Wahrheit könnte man sagen, dass in K. Marx eine jahrhundertealte jüdische Gelehrentradition Höhepunkt und Ende in säkularer Gestalt fand.

Säkularer Prophet?
Viele stellen K. Marx in eine Reihe mit den biblischen Propheten. Die revolutionäre Heraufkunft einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft sei verbunden mit der messianischen Rolle des Proletariats. Zweifellos handelt es sich um eine säkulare Gestalt biblischer Prophetie, auch wenn die Differenzen grundsätzlicher Natur sind. Das Kommen der gerechten, klassenlosen Gesellschaft hatte für Marx die Gewissheit einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Die für die marxistische Weltanschauung grundlegende Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft  (2)  beschreibt diese Auffassung. Die im jüdischen Denken immer lebendige Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft als metaphysisch-moralische Notwendigkeit wird hier transformiert in eine Seins- oder Naturnotwendigkeit. Auch wenn Marx und Engels der moralische Impetus nicht abgesprochen werden kann,  (3)  bedeutet diese Verwandlung einer metaphysischen Idee, eines ungegenständlichen Wissens  in einen Gegenstand des Wissens eine grundsätzliche Abkehr vom jüdischen Denken, dem Apriori der Ethik.  (4)

 

Jüdischer Antisemitismus?
Marx‘ Schrift Zur Judenfrage (1843) hat zurecht die Frage nach dem Antisemitismus des Autors aufgeworfen. Setzt er doch mit unfassbarer Unbedenklichkeit den Geist des Judentums mit dem Wucher, dem Schacher, dem unmoralischen Handel gleich. Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf… Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewusstsein keinen Gegenstand mehr hat… Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum. Auffallend ist die chirurgische Kälte, mit der Marx ohne jede Kenntnis der Sozial- und Geistesgeschichte der Juden seine dialektische Methode an diesem Objekt rein logisch und absolut abstrakt handhabt. Marx unterschied im Widerspruch zu seiner Theorie vom Klassenkampf nie zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten Juden, alle waren für ihn Parasiten. Zusammen mit Marx‘ geschmacklosen und abfälligen Äußerungen über Juden, von denen die Korrespondenz mit Engels u.a. nur so wimmelt, wäre dieser Komplex als jüdischer Selbsthass verständlich.  (5)
Marx‘ Antisemitismus äußert sich in der seit der Aufklärung verbreiteten Auffassung, die Emanzipation der Juden bestehe in ihrer Selbstaufgabe, und der abstoßenden Hartnäckigkeit seiner judenfeindlichen Ausfälle.  (6)

Wahrheitsfanatismus?
K. Marx war von Jugend an von der Frage nach der Wahrheit und des Engagements für die Menschheit bewegt.  (7)  Anfang der 40er Jahre hatte er sich für den Kommunismus entschieden. In politischen Auseinandersetzungen kam es immer wieder dazu, dass er Mitkämpfer, wie z.B. W. Weitling, sachlich und mitmenschlich erledigte. Er selbst bekannte sich zur hohen Tugend, dem Kommunistenstolz der Unfehlbarkeit.  (8)  Zeitgenossen und Biographen kritisierten die unbegreifliche Besessenheit  (8)  und das Selbstgefühl, dieses unbestreitbar genialsten Mannes unserer Partei,…das eine persönliche Unterwerfung zu fordern schien.  (9)
Die Transformierung der Wahrheitsfrage, der Wirklichkeit der sittlichen Idee, in eine Naturnotwendigkeit, in die Marx selber mit dem von ihm entwickelten Materialismus vorrangige Einsicht zu besitzen vermeinte, ließ Kritik an seiner Theorie als unmoralischen Standpunkt erscheinen. Diese unheilige Allianz von Wissen, Besessenheit, Stolz und moralischer Überheblichkeit machte Marx in den Augen vieler zu einem Vertreter maßlos eifernder Gläubigkeit, die ihr Vorbild bei den Propheten Judas (10) habe. So schürte der sich selbst verneinende Jude Marx den Antisemitismus.

(1) Brief an Weydemeyer v. 5.3.1852, s. W. Blumenberg, Karl Marx, S. 75
(2) Friedrich Engels, 1882
(3) Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Von der scheußlichen Unsittlichkeit dieses Systems spricht F. Engels in: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844).
(4) E. Levinas hat den grundsätzlichen Vorrang des Wissens vor der Ethik des Gebotes im abendländischen Denken als tendenziell unmenschlich kritisiert und in seinen talmudischen Vorlesungen nachgewiesen, dass dieser Vorrang im jüdischen Denken gewahrt bleibt.
(5) W. Blumenberg, S. 58.
(6) Geradezu widerwärtig sind seine Ausfälle gegen Lassalle, den er als jüdischen Nigger bezeichnete (E. Silberner, Kommunisten zur Judenfrage, S.28).
(7) Der 17jährige Marx schreibt in einem Aufsatz Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl seines Berufes, er solle den Stand wählen, von deren Wahrheit wir überzeugt sind, um für die Menschheit zu wirken (Blumenberg, S. 18).
(8) 25.8.1851 an F. Engels, s. Blumenberg, S. 73.78
(9) Moses Heß, Blumenberg, S. 73
(10) G. Mayer, Der Jude in Karl Marx, 1918, s. Blumenberg, S. 78

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