Ein linker Antisemit?
Der Streit um Jakob Augstein
von Klaus-Peter Lehmann

Viele sagen, er sei auf die falsche Liste geraten. Jakob Augstein, Herausgeber der linken Wochenzeitschrift der Freitag, ist vom Simon-Wiesenthal-Zentrum (SWC) auf Platz 9 der Liste der „2012 Top Ten Antisemitic/Anti-Israel-Slurs“, also der weltweit heftigsten Zehn der antisemitischen und antiisraelischen Beschimpfungen gesetzt worden.  (1)  Bei manchen Experten löste diese Auszeichnung Kopfschütteln aus. Andere hatten ihn schon lange in Verdacht und im Visier. So Hendryk Broder. In der Welt vom 6.12.2012 veröffentlichte er einen „Brief an meinen Lieblings-Antisemiten“ und kritisiert Augsteins „Juden-Obsession“. Er sei ein „Überzeugungstäter, eine antisemitische Dreckschleuder“, der seine „Karriere im Reichssicherheitshauptamt“ – wohl durch die Gnade der späten Geburt - verpasst habe. Das klingt, wie oft bei Broder, emotional überzogen und viel zu weit ausgeholt. Zumal es auch abgewogenere Urteile gibt. Micha Brumlik vermutet beim SWC das Motiv, auch linksliberale Kritiker der Politik Israels mit auf der Liste zu präsentieren, um in den Augen der europäischen Politiker ausgewogen zu erscheinen. Eigentlich auch ein schwerer Vorwurf! Brumlik weiter: „Augstein manövriert zwar gelegentlich an der Grenze zum Ressentiment, aber er argumentiert differenziert.“
In der Grauzone zwischen Ressentiment-geladenem Vorurteil und differenziertem Vernunfturteil sieht Brumlik den Beschuldigten operieren. Grauzone heißt: Hier befindet sich die geistige Türschwelle, die vom Haus, in dem sachliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung geübt wird, in das Stammlokal führt, wo pauschalierende „Israelkritik“, die zum Antisemitismus neigt, regiert.
Es bleibt also nur übrig, sich die vom SWC inkriminierten Sätze selber anzuschauen, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Eine Selbstverständlichkeit, die im veröffentlichten Diskurs weithin unterbleibt. Der gibt fast nur den Schlagabtausch der Kontrahenten wieder, statt auch zur Versachlichung beizutragen und immer wieder den primären Sachverhalt auf den Tisch zu legen und zu überprüfen.

Die fünf monierten Aussagen
Das SWC präsentiert fünf Zitate aus Artikeln von Jakob Augstein, um den Vorwurf des Antisemitismus gegen ihn zu belegen.

  • Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.

 

Wird hier nicht ein Bild von einer Weltkriegsgefahr gezeichnet, die allein von Israel ausgeht? Eines Weltkriegs, in den Israel alle anderen Nationen hineinführt? Jüdische Weltherrschaft, die alle in den Untergang stürzt!
Weil die Behauptung von der militärischen Komponente in der deutschen Geschichtsaufarbeitung stimmt, ist für die deutschen Atom-U-Boot-Exporte an Israel allein die Bundesregierung verantwortlich zu machen und ihr Handeln als ebenso weltkriegsfördernd zu kritisieren wie das aller anderen Nationen, die atomare Kriegsmittel ausführen oder besitzen.
Von übermächtigen „jüdischen Lobbygruppen in den USA“ ist immer dann die Rede, wenn es um eine Art angeblicher Weltmachtstellung Israels geht. Ohne eine jüdisch gegängelte Weltmacht USA lässt sich aus der Regionalmacht Israel auch keine Weltmacht projizieren. Die AIPAC,  (2)  um die es bei der gemeinten Lobby wohl geht, ist eine sehr einflussreiche, konservative politische Organisation zur Unterstützung des Staates Israel, der keineswegs nur Juden angehören. Auch wenn deren Politik nicht gefällt, die Rede von einer jüdischen Lobby ist Ideologie.

  • Es ist dieser Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ‚Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden‘. Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen.

 

Welchen Einschnitt bedeutet das Gedicht von Günter Grass Was gesagt werden muss? (3)  Endlich ausgesprochen zu haben, dass Israel die Weltkriegsgefahr Nummer 1 ist, – für uns alle. Er hat es auf sich genommen, dafür in einem Aufschrei bescholten und beschimpft zu werden. Grass hat für uns gelitten. Ohne es zu merken rutscht Augstein in theologische Sprache, und weil es ihm gegen Israel geht, in einen jahrtausendealten christlichen Antijudaismus. Der besteht aus zwei Teilen: dem von den Juden beschimpften (und getöteten) Friedensbringer und der Rachegesinnung der Juden. Wenn auch en miniature, Grass poetischer Auswurf wird von Augstein christologisch stilisiert.
Auch den zweiten Teil des uralten theologischen Vorurteils finden wir bei Augstein. In einem Beitrag vom 19.11. giftet er regelrecht gegen die ultraorthodoxen Juden, die Kinder bespucken würden und folgert: Diese Leute sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre islamistischen Gegner. Sie folgen dem Gesetz der Rache. Ein Gesetz der Rache kennt keine jüdische Frömmigkeitsrichtung. Alle verehren die Thora, also das Gebot der Nächstenliebe. Dass Menschen, welcher Herkunft auch immer, Rachegefühlen nachgeben, steht auf einem anderen Blatt. Mit Judentum hat das nichts zu tun. Auch nicht mit dem Islam.
Das zutiefst Problematische an Grass‘ Gedicht besteht darin: Er betreibt faktisch eine Auserwählung Israels als Welt-Bösewicht, indem er Israels Außenpolitik mit dem Holocaust gleichsetzt. Darin sieht Augstein kein Problem (s.u.).

  • Israel wird von den islamischen Fundamentalisten in seiner Nachbarschaft bedroht. Aber die Juden haben ihre eigenen Fundamentalisten. Sie heißen nur anders: Ultraorthodoxe oder Haredim. Das ist keine kleine, zu vernachlässigende Splittergruppe. Zehn Prozent der sieben Millionen Israelis zählen dazu.

 

Antijüdisches Ressentiment meldet sich auch bei Augsteins Einlassung gegen die jüdische Orthodoxie. Was soll das aufrechnende Gegenüber zu den Muslimbrüdern? Ein suggestiver Blickpunktwechsel, schon sind wir wieder bei den Juden. Natürlich, jeder hat seine Fundamentalisten. Aber das ist banal und führt nicht weiter. Jeder Fundamentalismus muss für sich betrachtet werden. Denn auch hier sind nicht alle Katzen grau.
Die Muslimbrüder und ihre radikaleren Gesinnungsgenossen die Salafisten bringen es auf 60% der Sitze im ägyptischen Parlament. Sie sind ideologische Antisemiten und sehen im Judentum den Grund für den Verfall der Welt, weil sie für den Säkularismus verantwortlich seien. Der Kampf gegen das Weltjudentum ist das Herzstück ihrer Ideologie.  (4) 
Die ultraorthodoxe Minderheit in Israel spielt nur innenpolitisch eine Rolle, einige wollen einen religiösen Staat, andere lehnen den jüdischen Staat generell ab. Außenpolitisch von großem Gewicht ist die Siedlerbewegung. Aber auch sie kann ihre Ziele ohne die säkulare Regierung nicht durchsetzen, wie die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen zeigte.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich das Fatale an Augsteins Gegenüberstellung. Der Blick wendet sich von der zugestandenen Bedrohung für Israel durch die Muslimbrüder ab und einem problematischen, für die arabische Welt aber nicht bedrohlichem jüdischem Phänomen, den Ultraorthodoxen, zu. Zu solchen suggestiven Vergleichen verführt der inhaltslose Begriff des Fundamentalismus. Man sollte ihn aus dem intellektuell redlichen Diskurs streichen, weil er im beschriebenen Sinn verführerisch ist. Als der Begriff aufkam, wollten manche auch die Grünen wegen ihrer grundsätzlichen Ablehnung der wirtschaftlichen Nutzung der Atomenergie zu Fundamentalisten machen. Daran wird ersichtlich, dieser Begriff ist nicht mehr als eine willkürliche Formel.

  • Gaza solle „auf niedrigstem Level funktionieren, der gerade noch eine humanitäre Katastrophe“ ausschließe. Selbst das ist gelogen. Die Katastrophe geschieht. Gaza ist ein Ort der Endzeit des Menschlichen. 1,7 Millionen Menschen hausen da, zusammengepfercht auf 360 Quadratkilometern. Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager. Israel brütet sich dort seine eigenen Gegner aus.

 

Mag der Vergleich mit einem Gefängnis passen, der mit einem KZ ist unverfroren, böswillig, antisemitisch. Gaza ist kein NS-Todeslager. Natürlich weiß Augstein, dass er  nicht KZ schreiben kann. Bedeutet der Zwei-Worte-Satz, dass er es doch gerne möchte?
Was soll der Fokus für die Endzeitkatastrophe auf dem Gazastreifen? Und das angesichts des sogen. Klimawandels, des rasanten Aussterbens der biologischen Lebensvielfalt, der Bedrohung der Lebensbedingungen auf der ganzen Erde, der unabwendbar scheinenden Atomkatastrophe (bei ca. 430 laufenden AKWs kein funktionierendes Endlager in Aussicht), der Kriege, der Kindersoldaten, der Verachtung des weiblichen Geschlechts… Der Ort der menschlichen Endzeit ist globalisiert. Ihn auf Israels unterdrückte Feinde zu fokussieren, ist willkürlich, antisemitisch.

  • Das Feuer brennt in Libyen, im Sudan, im Jemen, in Ländern, die zu den ärmsten der Welt gehören. Aber die Brandstifter sitzen anderswo. Die zornigen jungen Männer, die amerikanische – und neuerdings auch deutsche - Flaggen verbrennen, sind ebenso Opfer wie die Toten von Bengasi und Sanaa. Wem nützt solche Gewalt? Immer nur den Wahnsinnigen und Skrupellosen. Und dieses Mal auch - wie nebenbei – den US-Republikanern und der israelischen Regierung.

 

Könnten die zornigen jungen Männer, die Flaggen anzünden, auch verhetzte und hasserfüllte sein? Müssen wir ihre symbolische Sprache ernst nehmen? Meinen sie, die amerikanische Nation möge verbrennen? Die Friedensbewegung, der Widerstand gegen die amerikanische atomare Kriegspolitik, hatte eine konkrete Symbolsprache. Es ging um die Verhinderung der amerikanischen Raketenstationierungen und nicht gegen ihre Nation allgemein. Da scheint mehr als Zorn auf.
Was soll die Gleichsetzung der Flaggen-Zündler mit den Kriegsopfern? Sicher sind sie als Unterdrückte gemeinsam Opfer. Aber für die Form ihrer Gegenwehr sind jene selber verantwortlich. Alles andere wäre vage Entschuldigung und Fortsetzung ihrer Entmündigung.
Sind mit den fernen Brandstiftern die USA und die israelische Regierung gemeint? Sind sie Schuld am Antisemitismus und Antiamerikanismus von Muslimbrüdern und Salafisten? Der obige Satz von Gaza als dem Lager, wo sich Israel seine Gegner ausbrütet, hat genau diese Denkstruktur. Für den Antisemitismus vieler Araber sei Israel verantwortlich. Dagegen ist der Antisemitismus der ideologische Grundstein der Muslimbruderschaft und stammt aus ihrer Gründungszeit in den 1920er Jahren.  (5)  Da suchten viele Juden eine Zufluchtsstätte vor den Pogromen in Russland und Polen. Auschwitz stand noch bevor.

Fazit

M. E. überschreitet Jakob Augstein mit seiner Kritik an der Regierungspolitik Israels die Grenzen zum Antisemitismus. Aber gehört er wirklich auf Platz 9 der Weltrangliste und damit in so enge Nachbarschaft zu den brutalen Judenhetzern der rechten Lager aller Länder?
Vielleicht sollte deutlicher unterschieden werden zwischen explizitem und implizitem Antisemitismus, zwischen üblen Hetzern und mit Ressentiment behafteten intellektuellen Irrläufern. Der gedankliche Weg, der immerhin nötig ist, um den Antisemitismus der Letzteren aufzuzeigen, spräche dafür. Der Vizepräsident des Zentralrates der Juden, Salomon Korn, sagte im Deutschlandradio Kultur: „Ich hatte nie den Eindruck, dass das, was er geschrieben hat, antisemitisch ist.“ Man könnte zwischen Person und Zitaten trennen. So tut es das SWC in einer nachträglichen Stellungnahme zu seinem Vorwurf gegen Augstein: „Sprechen wir von antisemitischen Äußerungen, bei denen sich die Person vielleicht gar nicht bewusst war, eine Grenze zu überschreiten?“ Doch objektiv handelt es um einen camouflierten Antisemitismus, der sich der sogen. Israelkritik bedient. Wobei bemerkenswert ist, dass dieses Wort einzigartig ist. Niemand spricht von Türkei-Kritik, China-Kritik oder Deutschland-Kritik. Israelkritik ist fast ein stehender Begriff, ein Terminus technicus. Eigenartige Sonderbehandlung. Augstein sieht sich als missverstandenen Kritiker Israels.
Unter dem Titel „Überall Antisemiten“ schrieb er kürzlich: „Früher war es eine Schande, für einen Antisemiten gehalten zu werden. Inzwischen muss man einen solchen Vorwurf nicht mehr ernst nehmen. Im Meer der hirn- und folgenlosen Injurien des Internets geht auch diese Beschimpfung einfach unter.“ Klingt das hochmütig?
Inzwischen hat sich H. Broder für seine ausfälligen NS-Vergleiche entschuldigt. Der Zentralrat hat von ihm Abstand genommen und dem SWC mangelnde Recherche vorgeworfen. Unterstützung äußerte die CDU-Bundesvize Juli Klöckner, aus Regierungskritik Antisemitismus abzuleiten sei gewagt. Viele fordern ein Streitgespräch mit Rabbiner A. Cooper vom SWC. Inwieweit all diesen Äußerungen eine Auseinandersetzung mit den 5 Zitaten zugrunde liegt, erscheint fraglich. Das aber wäre für den weiteren Diskurs das Entscheidende.

    • Auf der Liste befinden sich die ägyptische Muslimbruderschaft, die iranische Regierung, der Antisemitismus europäischer Fußballfans, Rechtradikale Parteien der Ukraine, Griechenlands und Ungarns.

    • Das American Israel Public Affairs Committee hat ca. 100.000 Mitglieder, unter ihnen viele ehemalige und jetzige amerikanische und israelische Regierungsmitglieder.

    • Der ganze Text des Gedichtes, das Grass anlässlich der bekannt gewordenen Lieferung von Atom-U-Booten nach Israel im April 2012 veröffentlichte, findet sich unter: „Was gesagt werden muss“ - das Gedicht im Wortlaut / tagesschau.de

    • Sayyid Qutb (1906-1966), der einflussreichste Ideologe der Muslimbruderschaft, schrieb in seinem millionenfach verbreiteten Essay Unser Kampf mit den Juden (1967!!), die Juden seien für den weltweiten Verfall moralischer und sexueller Sitten verantwortlich., den Säkularismus. Die Vernichtung Israels sei deshalb religiöse Pflicht. Mit dem Hinweis auf die Protokolle der Weisen von Zion propagierte Sayyid Qutb den Krieg gegen das Weltjudentum.

    • Hasan al-Banna (1906-1949) gründete unter Nazi-Einfluss die Muslimbruderschaft, organisierte sie nach dem Führerprinzip und propagierte unter der Parole „Juden raus aus Ägypten“ (1938) den Kampf gegen das jüdische Zinskapital und die westliche Kultur.

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