Muslimbruderschaft
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Die Muslimbrüder sind die einflussreichste politische Kraft in den Veränderungen der Machtstrukturen Ägyptens nach dem Sturz von Hosni Mubarak. Ihre Ideologie ist wirtschaftsliberal, autoritär-konservativ und antisemitisch. Sie sind sunnitisch und gelten als fundamentalistisch. Ihre Gedanken sind seit ihrer Gründung 1928 vom Hass gegen die einwandernden Juden und später gegen den Staat Israel geprägt. Für die Begründer der Muslimbrüder waren die Juden das Grundübel der Welt. Ihre Imame reden von der Vernichtung des Staates Israel als religiöser Pflicht. Die Hamas ist aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen.

Die Begründer
Hasan al-Banna (1906-1949) gründete die Muslimbruderschaft in Ägypten mit dem Ziel der Abschaffung westlicher Kultur und Politik (Parlamentarismus) zugunsten eines auf der Scharia basierenden Kalifats. Unter dem Einfluss des deutschen Nationalsozialismus traten die männerbündisch und nach dem Führerprinzip organisierten Muslimbrüder für eine Gemeinschaft von Kapital und Arbeit ein und für die Abschaffung des „jüdischen“ Zinskapitals“, der angeblichen Wurzel allen Übels. Hasan al-Banna propagierte die Liebe zum Tod, die Selbstaufopferung im Kampf gegen die Feinde des Islam. Gegen die als korrupt und dekadent gebrandmarkten säkularen Regierungen und die ägyptischen Juden sei der Djihad zu führen.  (1)  1936 riefen die Muslimbrüder zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. 1938 führten sie unter der Parole „Juden raus aus Ägypten“ gewalttätige Aktionen durch. Unter Ausnutzung der Konflikte in Palästina gelang es ihnen die öffentliche Meinung im Nahen Osten dauerhaft gegen die bis dahin in Sicherheit lebenden Juden aufzubringen.
Sayyid Qutb (1906-1966) trat 1951 der Muslimbruderschaft bei. Er ist der einflussreichste islamische Denker des 20. Jh. Sein grundlegender Essay Unser Kampf mit den Juden (1967) findet bis heute millionenfache Verbreitung. Er beschuldigt die Juden einen weltweiten Verfall moralischer und sexueller Sitten in Gang gesetzt zu haben: Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin der animalischen Sexualität steckte ein Jude; und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der heiligen gesellschaftlichen Beziehungen steckte ebenfalls ein Jude.  (2)  Juden seien als Schweine zu verachten, der rituelle Genuss nichtjüdischen Blutes sei bei ihnen Brauch. Palästina war ihm heiliges islamisches Gebiet (Dar al-Islam) und die Vernichtung Israels religiöse Pflicht. Mit Hinweis auf die >Protokolle der Weisen von Zion propagierte Sayyid Qutb den Kampf gegen das Weltjudentum.

Der Propagandist
Amin al-Husseini (1893-1974), der Großmufti von Jerusalem, agierte als Verbündeter der Muslimbrüder. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die antijüdischen Pogrome in Jerusalem 1929. Er ideologisierte den arabischen Kampf gegen die jüdische Einwanderung als islamische Pflicht. Später arbeitete er mit den Nationalsozialisten zusammen und pflegte enge Beziehungen zu Heinrich Himmler. In einem Brief an Hitler (20.1.1941) forderte al-Husseini die Zusage für ein rein arabisches Palästina, dann würden seine Leute auch gegen England kämpfen. 1943 bildete al-Husseini bosnisch-islamische SS-Einheiten aus, insbesondere die Imame, die für die ideologische Ausrichtung der Soldaten zuständig waren. Zur Shoa äußerte er, dass er die Juden am liebsten alle umgebracht sähe.

Nach dem Holocaust
Im November 1945 organisierten die Muslimbrüder umfangreiche antijüdische Pogrome. Am Jahrestag der Balfour-Deklaration, am 2.11.1945 wurden in Kairo, Aleppo und Tripolis Juden überfallen, beraubt und ermordet. In Tripolis starben 130. Der als Kriegsverbrecher gesuchte al-Husseini floh 1946 nach Ägypten. Die Muslimbrüder ernannten ihn 1947 zu ihrem Führer. Auch 1947/48 wurden in Ägypten, Algerien, Irak, Libyen, Marokko, Syrien und Jemen Juden verfolgt und enteignet. Der Irak erklärte Zionismus zum Kapitalverbrechen. Im Jemen fielen 100 Juden Pogromen zum Opfer.
Die Ausrufung des Staates Israel am 14.5.1948 war eine Zäsur. Gegen ihn rief al-Husseini am 22.9.1948 im Gazastreifen eine arabische Regierung für ganz Palästina aus. Dieser Staat, der Jerusalem als Hauptstadt beanspruchte, wurde von Ägypten, Syrien, Libanon, Irak, Saudi-Arabien und dem Jemen anerkannt. Der jordanische König Abdullah ibn Hussein I. ernannte 1951 einen anderen Großmufti für Jerusalem. Noch im selben Jahr fiel er einem Anschlag zum Opfer.
Doch die verheerende Niederlage der arabischen Staaten gegen das junge Israel veranlasste die ägyptische Regierung die Muslimbrüder zu verbieten. Bis heute folgten wechselvolle Jahrzehnte, in denen semi-säkular ausgerichtete arabische Regierungen die im Volk einflussreichen Muslimbrüder mal verfolgten, mal verboten, mal duldeten. Hasan al-Banna fiel den Verfolgungen 1949 zum Opfer. Sayyid al-Qutb wurde unter Nasser verurteilt und hingerichtet (1966). Trotzdem fanden die Gedanken der Muslimbruderschaft massenhafte Verbreitung. So der Essay von al-Qutb Unser Kampf mit den Juden nach dem Sechs-Tage-Krieg (1967). Von 1947 bis 1968 hatten fast alle 75000 ägyptischen Juden das Land verlassen müssen. Die ägyptische Regierung stellte sich nationalistisch, panislamisch und antijüdisch dar. Sie arbeitete mit kommunistischen oder westlichen Regierungen zusammen. Westliche Lebensformen wurden toleriert oder begünstigt. Diese Ambivalenz stieß auf scharfe Abwehr der Muslimbrüder. Sie brandmarkten ihre Regierung als zionistische Agenten und riefen zum Djihad gegen säkulare Muslime. Das tödliche Attentat auf Anwar as-Sadat, der mit Israel einen Friedensvertrag geschlossen hatte (1979), kam aus den Reihen des Djihad Islami (Islamischer Djihad), einem Ableger der Muslimbrüder. Nach den brutalen Verfolgungen und Hinrichtungen Anfang der 90er Jahre unter Mubarak kam es zu einem Kurswechsel. Die Terrorstrategie gegen korrumpierte Regierungen wurde ersetzt durch eine Infiltration der Institutionen.

Heute
Bei den ägyptischen Parlamentswahlen um Winter 2011/12 erhielten die Muslimbrüder bei weitem die meisten Stimmen (Freiheit- und Gerechtigkeitspartei: 235 von 508 Sitzen). Die Übergänge zu den Salafisten  (3)  sind fließend (Partei des Lichts: 123 Sitze). Es gab schon mehrere Anzeichen für öffentlichen Antisemitismus. Drei Tage vor den Wahlen riefen die Muslimbrüder zu einer Versammlung in die Al-Azhar-Moschee.  (4)  Dort kam es zu Reden gegen die „zionistischen Besatzer“, „betrügerische Juden“, die alle erschlagen werden sollten, gegen die „Judaisierung Jerusalems“ und für die Befreiung „ganz Palästinas“. Der ägyptische TV-Sender Kanal 1 strahlte am Freitag, den 19.10.2012 eine Ansprache des Imam Futuh Abd el-Nabi Mansur aus. Er betete für die Vernichtung der Juden und ihrer Unterstützer. Unter den Anwesenden war der ägyptische Staatspräsident Mohammed Mursi.

 

(1) Es handelt sich um eine Gewichtsverlagerung in der allgemein islamischen Lehre vom Djihad (Anstrengung), deren Betonung traditionell auf der alltäglichen Bemühung um ein korangemäßes Leben liegt, aber auch den Krieg gegen die noch nicht vom Islam beherrschten Gebiete, wo die Feinde des Islam leben, bedeuten kann.
(2) Gemeint sind >K. Marx, S. Freud und E. Durkheim.
(3) Als Reaktion auf die Niederlage der säkularen arabischen Regierungen im 6-Tage-Krieg gegen Israel (1967) und der iranischen Revolution (1979) formierten sich  mehrere religiöse Strömungen im Islam. Die meisten charakterisiert ein rigider Konservatismus. Die ultrakonservativen Salafisten (von arab. Salaf = Vorfahren) erstreben einen  Scharia-Staat, der mittels Djihad erkämpft werden soll.
(4) Sie ist die älteste Moschee Kairos und gehört zur gleichnamigen Universität. Die Sunniten betrachten diese als die renommierteste islamische Schule.

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email