„In jenen Jahren war die Zeit gefroren“ –
ein alter Jude aus Galizien erinnert sich“
von Rainer Alexander Spallek

„Eis, so weit die Seele reichte / von den Dächern / hingen Dolche / die Stadt war aus / gefrorenem Glas / Menschen schleppten / Säcke voll Schnee / zu frostigen Scheiterhaufen / das Eis wucherte / und trieb/ weiße Wurzeln / ins Mark unserer Jahre / Wir erkennen uns nicht / zu weit zwischen uns / die Jahre / Feuer / brannte ein Loch / in die Zeit...“ (Rose Ausländer)

Abgesehen von den Unterbrechungen, die die Kriegszeit erzwang, hat Alfred Schreier seiner Heimatstadt Drohobycz immer die Treue gehalten. Bis zum WK II war sie eine Stadt, wie man sie so häufig im Osten Galiziens antraf: bewohnt zu jeweils einem Drittel von Juden, Polen und Ukrainern.

1934 lebten in Drohobycz noch etwa 15.000 Menschen jüdischen Glaubens, heute sind es 65. Einer von ihnen ist Alfred Schreier, mit 84 Jahren ist er der älteste Jude in der Stadt. Sein großer Erfahrungsschatz über das Schicksal der Ostjuden in Galizien macht ihn zum gefragten Gesprächspartner für Schüler, Studenten, Wissenschaftler, Autoren oder Dokumentarfilmer.

Wir rufen ihn an. Sofort erklärt er sich bereit zu einem Gespräch. Später wird er sagen, dass er sich nach dem Tode seiner Frau vor drei Jahren doch recht oft einsam fühlt, zumal seine beiden Kinder in Frankfurt leben; Geschwister gibt es nicht. Er wohnt allein mit seinem großen schwarzen Kater in einer großräumigen Wohnung in einem alten Haus aus der Habsburger Zeit. Die jüdische Gemeinschaft hier kümmert sich gelegentlich um ihn und seinen Haushalt.

Schreier erinnert sich immer noch sehr genau an die Ereignisse der damaligen Zeit, unlöschbar sind sie eingebrannt in Seele und Gedächtnis. Manchmal bittet er im Laufe des Gesprächs um eine kurze Pause – das Konzentrieren und Erzählen kostet gelegentlich doch mehr Kraft als ihm lieb ist. Sein Kater hat sich direkt neben ihm auf der Sessellehne zusammengerollt. Schreier beherrscht mehrere Sprachen, mit dem Kater spricht er Russisch, Deutsch ist die Sprache unseres Gesprächs.   

Er erzählt von der Zeit im Gymnasium – und sofort kommt er auf einen von ihm sehr verehrten Lehrer zu sprechen: Bruno Schulz. Diesem hochbegabten Pädagogen, Maler und Schriftsteller verdankt das kleine Drohobycz mit seinen heute etwa 30.000 Menschen den Ruf einer Stadt, die Weltliteraturgeschichte geschrieben hat. Schreier nennt Schulz –fast liebevoll-ehrfürchtig- einen „begnadeten Maler-Dichter mit einem unglaublichen Fantasievermögen.“ Der Besuch des Gymnasiums: für Schreier die Zeit der Ruhe vor dem Sturm, der bald darauf Lehrer, Freunde und Verwandte hinwegfegen sollte und ihn allein zurückließ.   

Im August 1942 „machten die deutschen Truppen Ernst in Drohobycz“, wie es Schreier ausdrückt: Aus Berlin vom Wannsee wehte die Losung von der „Endlösung der Judenfrage“ herüber. Etwa 5000 Juden wurden aus der Stadt geschafft und im nahe gelegenen Bronitzer Wald erschossen. Er selbst kam davon: Sein bei Bruno Schulz erworbenes handwerkliches Geschick ließ ihn in den Augen der Besatzer nützlich erscheinen.

Gleich in der Nähe seiner jetzigen Wohnung lag das jüdische Ghetto. „Ich sehe noch genau die großen Tafeln in den Straßen vor mir: ´Achtung Judenviertel! Betreten unter Todesgefahr!´“, erinnert sich Schreier. Nachdem die meisten Juden liquidiert wurden, kam er mit seiner Mutter in ein Gefängnis. Doch bald arbeitete er wieder in einer keramischen Fabrik – seiner Mutter aber wurde das Leben genommen. Sein Vater starb im gleichen Jahr 1942 in den Gaskammern von Belzec. Da war Alfred Schreier 20.

Doch dann rückten die sowjetischen Truppen näher. Er wurde nach Krakau-Plaszov evakuiert, wo etwa 10.000 Juden inhaftiert waren. Hier brachte ihn das Schicksal in die unmittelbare Nähe der sog. Schindler-Juden. Während diese in Schindlers Emailwaren-Fabrik arbeiteten, wurde Schreier wieder in einer Keramikfabrik beschäftigt.

„Einmal habe ich Oskar Schindler gesehen“, erzählt Schreier. „Doch leider bin ich kein Schindler-Jude geworden.“ Warum leider? „Die hatten es nämlich einfacher gehabt. So gut wie alle haben den Krieg überlebt.“ Vor allem mussten sie nicht die schreckliche Erfahrung eines Todesmarsches machen, die Schreier noch bevorstand und die ihm fast das Leben kostete.

Sechs Monate war Schreier in Plaszov. „Hier gab es keine Hungersnot, hier konnte man noch leben – wenn nicht dieser verrückte Göth gewesen wäre!“ Plaszov war zuerst Arbeitslager, dann KZ – unter dem gefürchteten Lagerkommandanten Amon Göth. „Gottseidank habe ich ihn nur einige Male aus der Entfernung zu Gesicht bekommen“, sagt Schreier leise vor sich hin, „denn dieser Göth vertrieb seine Freizeit damit, aus dem Fenster heraus wahllos auf Häftlinge zu schießen.“ Mit bitterem Lächeln fügt Schreier hinzu: „Wissen Sie, was der Lieblingsspruch dieses Mannes war? ´Wer zuerst schießt, der hat mehr vom Leben`!“

Nach Plaszov musste Schreier in ein KZ mit besonders brutalem Ruf: Gross-Rosen. Doch glücklicher Weise verbrachte er nur wenige Wochen hier. Aber was heißt schon „Glück“ in solchen Zeiten? Je mehr die Rote Armee vom Osten her vorrückte, desto stärker der Drang in die westlicher gelegenen KZ. Im Viehwaggon gelangte Schreier dann im Okt. 1944 in den Block 59, KZ Buchenwald. Doch auch nur für einige Wochen, denn es ging weiter nach Taucha, einem Vorort von Leipzig. „Hier wurden Panzerfäuste produziert: in einer Fabrik, in der vorher Kinderspielzeug hergestellt wurde!“, fügt Schreier ironisch hinzu.

Zu dieser Zeit war Schreier körperlich stark geschwächt - und in Taucha gab es nur wenig zu essen. „Meine Beine wurden dick, voll von Wasser“. Und in diesem Zustand musste er die schweren Kisten mit den Panzerfäusten auf die Waggons laden. Doch dieser Alptraum währte nicht allzu lange: Im April 45 war Schluss: „Man hörte schon vom Westen die amerikanische Artillerie.“ Das Lager wurde aufgelöst. Erlösung?

Im Gegenteil! Jetzt erlebte Schreier etwas, das ihm die letzten Reste an Kraft und Energie, also das Leben endgültig zu kosten schien: Jeder der Zwangsarbeiter in Taucha bekam einen Mantel mit eingesticktem „H“ für „Häftling“ und ein Stück Brot: Es begann einer der berüchtigten Todesmärsche. Ohne Ziel zogen etwa 2000 Leute in alle Himmelsrichtungen, eingekeilt zwischen Amerikanern im Westen und Russen im Osten. Wohin? Wie überleben?! Jenseits von Sein und Bewusstsein schleppte man sich, torkelte man orientierungslos mit letzter Kraft durch die Landschaft: Der Hunger und der Schrei nach Essbarem begrub jeden anderen Gedanken unter sich. Es war eine Kolonne der Elenden, die sich von rohem Gemüse und angegartem Pferdefleisch zu ernähren versuchte. Viele überlebten es nicht – kurz vor Kriegsende! Es war die Hölle.

Alfred Schreier weiß nicht, warum man das machte: Warum erschossen die Nazis nicht einfach alle Häftlinge?! Wollte man den Feinden zeigen: schaut her! Für dieses Elend seid ihr verantwortlich?

Im Lager von Taucha sang Schreier gelegentlich leise vor sich hin – das fiel auf; möglicher Weise trug es dazu bei, dass er den Marsch überlebte. Denn irgendwann konnte und wollte er keinen Schritt mehr machen. „Jemand empfahl dem Kolonnenführer, mich zurück zu lassen. Man müsse einen Künstler wie mich schonen, denn schließlich sei ich ja ein bekannter Opernsänger!“, erzählt Schreier leicht schmunzelnd. Da er am Ende der Kolonne ging fiel es nicht weiter auf, als ihn ein Kamerad den lebensrettenden Stoß in den Straßengraben versetzte. Bald wurde er dort von einem Jungen gefunden, der ihn mit dem Fahrrad in sein Dorf fuhr. „Und hier“, so Schreier, „war der Krieg schon zu Ende!“

Aber nicht der Überlebenskampf! Die Russen waren bereits hier und richteten Gefangenenlager ein. Doch auch hier gab es kaum etwas zu essen – wieder begab man sich auf einen Hungermarsch. Doch Schreier war nicht mehr marschtauglich, er konnte nicht mehr, setzte sich einfach in die Ecke eines Bauernhofes und tat nichts mehr. Die anderen zogen los, er blieb. Ein Bauer gab ihm viel zu kleine Schuhe – und ein gekochtes Ei!

Doch immer noch nicht die Wende zum Guten! Bald tauchte ein deutscher Unteroffizier mit Häftlingen auf – und wieder war Schreier Teilnehmer eines Todesmarsches; im Bauernhof jedoch hatte er etwas Kraft sammeln können. Nun ging es nach Freiberg in Sachsen. „Hier waren die Arado-Werke, in denen Kleinflugzeuge hergestellt wurden“, erinnert sich Schreier. Doch längst ging es hier nicht mehr um Rüstungsproduktion – jetzt war es ein Gefangenenlager für Häftlinge aus verschiedenen Ländern, das jedoch von den Deutschen aufgegeben wurde.

Es war der 23. Mai 1945, ein Tag vor Schreiers 23. Geburtstag, als der erste sowjetische Panzer in Freiberg einrückte. Das Ende eines fast dreijährigen Alptraums: „Da habe ich noch 40 kg gewogen“. Das Ende? Noch nicht so ganz. Bis Ende 1945 blieb er in Freiberg, arbeitete als Dolmetscher für die Sowjets. Dann die Anweisung an alle: zurück in Richtung Sowjetunion!

„Wieder verbrachte ich Tage im Viehwaggon. Es ging nach Grodno an der polnisch-weißrussischen Grenze.“ Obwohl Schreier glaubhaft machen konnte, Volljude und Buchenwaldhäftling gewesen zu sein, musste er bis Ende 1946 hier in Grodno in einem Arbeitslager arbeiten.

Dann endlich, endlich: die Freiheit! „Für kurze Zeit dachte ich an eine Auswanderung nach Argentinien, meine Tante lebte dort. Doch dann entschied ich mich für eine Fahrt nach Wilna in Litauen.“ Und hier traf er zufällig einen Akkordeonspieler, er kam aus Drohobycz! So fuhren also der Violonist - denn das Studium der Geige sollte Schreier bald aufnehmen - mit dem Akkordeonisten und dessen Frau zurück in die geliebte Heimatstadt!

Schreier heiratete 1949 und studierte Chor- und Orchesterleitung. Er arbeitete erst einmal als Sänger und Violinist im örtlichen Kinofoyer-Orchester – eine bis 1963 bestehende, einzigartige Sowjet-Tradition in der Kinokulturgeschichte. Und er war 42 Jahre lang im Musik-Lyzeum von Drohobycz tätig. In seinem Wohnzimmer steht ein Klavier, es gehört seiner Tochter, er rührt es nicht an. Er liebt das Spiel mit der Geige – auch heute noch, wenn es z. B. in der jüdischen Gemeinschaft etwas zu feiern gibt.

Noch einmal tauchen wir in die Vergangenheit ein: Er schlägt vor, gemeinsam durch das Ghetto von Drohobycz zu gehen. Doch das Gehen bereitet ihm zunehmend Mühe. Herzprobleme kommen hinzu – eben das Alter. Und dann stehen wir vor dem Platz, an dem der von ihm so bewunderte Lehrer Bruno Schulz erschossen wurde: „Eine rätselhaft wuchernde Frucht mit irritierend-süßem Nachgeschmack“, so charakterisierte ihn einmal der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch.

Schreier erzählt von Schulz` absurdem Tod: Schulz musste damals als „Hofjude“ im Hause eines Nazi-„Herrenmenschen“ namens Landau Dienst tun. Aus Rache wurde er von einem anderen „Herrenmenschen“ erschossen, da Landau zuvor dessen „Hofjuden“ mit einem Schuss tötete.

Wir gehen weiter am eindrucksvollen Holocaust-Denkmal vorbei zu einer ehemaligen Synagoge. „Da muss ich Ihnen noch etwas erzählen“ – wie er das sagt, das lässt nichts Gutes ahnen.

„Der damals noch lebende jüdische Gemeindevorsteher schlug vorsichtig der Gestapo vor, hier in der Synagoge eine Küche und einen Gastraum für jüdische Waisenkinder einzurichten. Ihm wurde mitgeteilt, dass die Entscheidung darüber von höherer Stelle kommen muss. Dann kam die Erlaubnis. Bei einem der ersten gemeinsamen Essen mit etwa 60 Kindern öffnete sich die Türe und ein Erschießungskommando trat ein ... .“

Der Spaziergang ist anstrengend für den alten Mann. Wir gehen langsam zurück zu seiner Wohnung. Er will sich etwas hinlegen. Etwas Schönes erwartet ihn in den nächsten Tagen: Seine Tochter kommt mit ihrem Kind aus Frankfurt zu Besuch. Einen Monat werden sie mit ihm zusammen wohnen – und dem Alleinsein ein vorübergehendes Ende bereiten. Alfred Schreier freut sich sehr darauf.

2012 erschien eine Dokumentarfilm-DVD über das Leben Alfred Schreiers von Paul Rosdy: „Der letzte Jude von Drohobytsch.“ Erhältlich bei Amazon für rund 20 Euro.

Drohobytsch ist eine ukrainische Stadt mit 77.200 Einwohnern. Sie liegt in der Oblast Lwiw südlich der Bezirkshauptstadt Lemberg, die auch die nächste größere Stadt ist. Zur Stadtgemeinde gehört auch noch die Stadt Stebnyk.

Rainer Spallek, Sozialwissenschaftler, Referent (Reisen: Asien und Osteuropa, Buddhismus), Seminarleiter (Burnout, Meditation), Autor (Arbeitswelt, Lebenskunst) in Duisburg info@lernen-und-leben.de

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