Wir wollen tun und hören
von Daniel Neumann

Wer heutzutage einer Religion angehört und diese auch mit Überzeugung praktiziert, der muss sich allerlei Vorwürfe anhören. Bei der immer größer werdenden Anzahl von areligiösen oder atheistischen Grundhaltungen steigt dabei die Bandbreite der Vorurteile ebenso wie die Schärfe der Angriffe gegen Religion an sich.
So musste etwa erst kürzlich eine bekennende Katholikin, die in einer Fernseh-Talkrunde ihre Vorstellungen von Diesseits und Jenseits beschrieben hatte, die Beleidigung ihres atheistischen Gegenübers aushalten, dass schon Menschen für weniger in die Psychatrie gekommen seien.
Und der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, der FDP-Abgeordnete Markus Löning, der unter anderem die Aufgabe hat, die Verletzung von Grundrechten in der Welt anzuprangern, publizierte auf seiner Facebook-Seite den Eintrag: „Wenn Du zu dumm bist, Wissenschaft zu begreifen, dann versuche es mal mit Religion.“. Womit er sich jedenfalls nicht gerade als Verfechter eben dieser Menschenrechte empfohlen hat.

Für Juden sind solcherlei Schmähungen eigentlich nichts Neues, denn wir sehen uns bereits seit Jahrtausenden den Angriffen anderer Religionen, Weltanschauungen oder menschenverachtender Ideologien ausgesetzt. Und obwohl wir inzwischen einigermaßen geübt darin sind, das Judentum gegen die unterschiedlichsten Vorwürfe zu verteidigen, werden diese doch immer wieder zum Thema gemacht.

Ein beliebter Vorwurf, der seit seiner Entstehung vor allem vom Christentum benutzt wurde, war es, das Judentum als eine starre Gesetzesreligion zu bezeichnen, die ihren Anhängern so unüberschaubar viele sinnlos Gebote aufhalse, dass eine Befolgung einerseits unmöglich und andererseits unsinnig sei.

Nun gibt es im Judentum bekanntermaßen tatsächlich eine ganze Reihe von Geboten, 613 um genau zu sein, nebst einer immensen Zahl von Vorschriften, wie diese Weisungen im täglichen Leben umzusetzen sind. Aber sind diese tatsächlich so starr und vor allem irrational und sinnlos?

Blenden wir das anklagende Moment und den aggressiven Unterton dieses Vorwurfs einmal aus, dann bleibt eine Frage, die durchaus auch innerhalb des Judentums von anhaltendem Interesse war: Haben die Gebote im Judentum einen Grund? Und gibt es rationale Erklärungen für die Mitzvot, also die Ge- und Verbote?

Es scheint mir bemerkenswert, dass diese Frage und die Vorstellung, rationale Erklärungen für die zahlreichen jüdischen Gesetze anbieten zu sollen, manch einem Juden eher fremd ist. Stattdessen ist in einzelnen Bewegungen des Judentums die Neigung zu beobachten, die Gesetze als Rituale zu verstehen, die nun einmal befolgt werden müssen, ohne dass ihnen eine rationale oder ethische Grundlage innewohne.

Gerade bei sehr frommen Juden besteht die Tendenz, die Gebote ohne jegliche Reflexion
oder jedes Nachdenken auszuführen, eben weil sie von G“tt geboten sind. Erklärungsversuche werden mitunter entschieden abgelehnt, da man befürchtet, dass der g“ttliche Ursprung der Gebote verwässert werden könnte und die Gefahr bestünde, dass am Ende der Mensch und nicht G“tt als Urheber betrachtet werde.

Am anderen Ende des jüdischen Spektrums treffen wir dagegen auf solche Juden, die die Gebote kaum oder überhaupt nicht halten und sich damit rechtfertigen, dass sie als logisch und rational denkende Individuen - jüdische Individuen wohlmerkt - nicht bereit seien, zahllose Rituale auszuführen, deren Grund sich ihnen nicht auf Anhieb erschließe und in deren Befolgung sie keinen tiefergehenden Sinn erkennen könnten.

Und so gegensätzlich diese beiden Ansätze auch sind, so verhängnisvoll sind die Konsequenzen dieser Geisteshaltungen für viele Juden, die weder in einer strenggläubigen noch einer gänzlich areligiösen Umgebung groß werden und deshalb nach einem tieferen Verständnis der Gebote suchen.

Nun haben sich diese Tendenzen in den letzten 2 Jahrhunderten zwar zusehends verstärkt, die Suche nach den Gründen für die Mitzvot allerdings hat viele große Rabbiner und Gelehrte zu allen Zeiten beschäftigt. Dabei war die Frage, ob es überhaupt legitim ist, deren Ursachen zu ergründen, immer auch Gegenstand heftiger rabbinischer Diskussionen.

Mit Blick auf die spärlichen Erklärungen, die in der Tora zu finden sind, meinten die Gegner der religiösen Ursachenforschung, dass der Ewige uns in allen nicht eindeutig mit Gründen versehen Fällen bewusst im Unklaren gelassen habe. Man solle es in diesen Fällen deshalb vermeiden, die tiefgehenden Motive zu ergründen, weil unser Verständnis von G“tt und dessen Willen ohnehin unvollkommen bliebe. Und da er nun mal ein ewiges Mysterium bleibe, müssten wir unseren Gehorsam eben durch die konsequente und unreflektierte Einhaltung aller Vorschriften bezeugen.

Die Tora scheint diesen Gedanken in einer Passage im 2. Buch Mose zu bestätigen, die sich abspielte, als Moses dem am Fuß des Berges Sinai ausharrenden Volk die von G“tt offenbarten Worte und Rechte bekannt gab. Darauf antwortete das Volk in Kapitel 24, Vers 4 einstimmig und sprach „Alle Worte, die der Ewige gesprochen hat, wollen wir tun.“
Heißt das also bedingungslose Hingabe ohne jegliches Verständnis?
Nein, nicht ganz.  
Denn wenige Verse später in Kapitel 24, Vers 7 setzt sich die Geschichte fort, konkretisiert sich das Bekenntnis des Volkes.
Dort heißt es, nachdem Moses die Worte des Ewigen niedergeschrieben hatte:
„Er nahm das Buch des Bundes und las es dem Volk vor. Sie sprachen: Alles, was der Ewige gesprochen, wollen wir tun und hören.“ Dieser Absatz und das daraus im Hebräischen als geflügeltes Wort entstandene „naase venischma“, also übersetzt „wir wollen tun und hören“, dokumentieren, dass die natürliche Reihenfolge von Verständnis und anschließender Ausführung auf den Kopf gestellt wurde.
Das jüdische Volk ist bereit, die Einhaltung der Gebote zu versprechen, noch bevor das inhaltliche Verständnis vorhanden ist. Das heißt allerdings nicht, dass auf eine Erklärung verzichtet wird. Aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben!

So sah es dann auch die große Mehrheit der Rabbiner und Schriftgelehrten. Sie pochten zwar auf der Ausführung der Gesetze, Bräuche und Riten, doch sie verstanden gleichzeitig die Bemühung, sich den Geboten nicht nur durch deren bedingungslose Erfüllung zu unterwerfen, sondern eine intellektuelle Annäherung zu suchen. Ihnen war bewusst, dass die Suche nach dem Sinn und Zweck auch  von der Absicht getragen war, den Willen G“ttes so gut wie möglich nachvollziehen zu wollen. Natürlich war ihnen klar, dass der Hauptgrund, aus dem ein frommer Jude die Gebote beachtet, die Ausführung des g“ttlichen Willens reflektiert, wie er sich nun mal im Gesetz niederschlug.
Aber sie verstanden ebenso gut, dass ein tieferes Verständnis von G“ttes Plänen und Zielen für die Welt und das Judentum, dabei helfen kann, dem eigentlichen Zweck der Gebote und damit auch der Absicht des Ewigen näher zu kommen und sich spirituell weiter zu entwickeln.
Ein wesentlicher Wegbereiter dieser Vorstellung war im 12. Jahrhundert Moses Maimonides, der auch unter der Abkürzung Rambam bekannte Rationalist und Rechtsgelehrte.
In seinem religionsphilosophischen Werk „Führer der Unschlüssigen“ schrieb er im 3. Buch, Kapitel 26: "Wir alle, das gewöhnliche Volk wie die Gelehrten glauben, dass es einen Grund für jedes Gebot gibt, obwohl Gebote vorkommen, deren Grund uns unbekannt ist und die Wege g“ttlicher Weisheit uns unverständlich sind...Folglich gibt es einen Grund für jedes Gebot, jede positive oder negative Vorschrift dient einem nützlichen Zweck; in manchen Fällen ist der Sinn augenscheinlich, z.B. das Verbot zu morden und zu stehlen; in anderen nicht so sehr, wie z.B. das Verbot eine Baumfrucht in den ersten drei Jahren zu genießen.“

Aber ist mit dieser Sichtweise nicht eben doch die Gefahr verbunden, dass uns mangelndes Verständnis der Gebote eher abschreckt? Oder dass wir, so wir denn glauben, den Sinn einer Vorschrift verstanden zu haben, diese vielleicht fallen lassen, weil wir meinen, das Ziel auch auf andere Weise erreichen zu können?
Sicher besteht dieses Risiko. Aber gemessen an der Zahl von Juden, die heutzutage in einer säkularen oder nicht religiösen Umgebung aufwachsen und die rationale, intellektuell nachvollziehbare und schlüssige Erklärungen für die Gesetze verlangen, die sie beachten sollen, tritt es in den Hintergrund.
 
Obwohl es uns also nicht immer möglich ist, den Sinn aller Vorschriften zu erfassen, den Grund eines jeden Gebots zu verstehen, soll uns das nicht daran hindern, nach tieferem Verständnis der Mitzvot zu trachten. Unzählige Anhänger des Judentums, ihre Rabbiner und Gelehrten, haben sich in den vergangenen gut 3400 Jahren auf diesen Weg begeben, haben das Gesetz studiert, interpretiert und kultiviert. Sie haben dies unter sich stets verändernden Rahmenbedingungen und quer durch die geschichtlichen Epochen unser Zeit getan und mitunter haben sich die gefundenen Erklärungen, Auslegungen und Interpretationen im Laufe der Zeit auch verändert oder gar widersprochen. Die Unterschiede und die Meinungsvielfalt der Auslegung beschränken die Geltung des Gesetzes dabei nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Sie liefern einen weiteren eindrücklichen Beweis dafür, dass die Tora uns Juden trotz wechselnder Rahmenbedingungen immer als bedeutsamer und dynamischer Lebensquell gestützt hat. Sie bot zu allen Zeiten und in allen Situationen Halt, verlieh Sinn und spendete Kraft. Als ewige Satzung, durch alle Generationen hindurch.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen

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