Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Eine Predigt über Kain und Abel
von Martin Stöhr

Liebe Gemeinde!

Alle kennen Kain und Abel, die Brüder von damals und viele Kains und Abels von heute. Die Bibel stellt in solch‘ einzelnen Personen Völker und Menschen vor, ihre guten wie ihre schlechten Möglichkeiten. Adam und Eva stehen für die eine Menschheit, die durch Sprachen, Kulturen, Religionen oder Lebenschancen tief gespalten ist.

Mutter Eva und Vater Adam freuen sich über die Geburt. In der Berufswahl gehen die beiden Söhne unterschiedliche Wege. Arbeitsteilung eben. Kain wird Ackerbauer, Abel wird Hirte / Tierzüchter – beides sind Urberufe der Menschheit. Da Menschen religiös sind, bringen beide ein Erntedank-Opfer aus der laufenden Produktion. Entscheidend dabei ist, welchem Gott vertraut wird.

Dann heißt es: „Gott sah auf Abel und Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht.“ Viele Bilder aus Kunstgeschichte und Kinderbibeln lassen den Rauch von Abels Opfer steil aufsteigen, den von Kains Opfer am Boden kriechen. Manche sehen hier eine absolute Willkür Gottes am Werk, der den einen mag und die andere nicht. Davon steht nichts in der Bibel.

Die Sache ist viel einfacher. Mal haben die Ackerbauern gute Ernten und die Viehzüchter Pech. Dann wieder ist es umgekehrt. Entsprechend groß oder klein sind die Abgaben. So ist das in Gottes Schöpfung – damals wie heute.

Die Geschichte geht weiter: „Da ergrimmte Kain, der Bauer, und senkte finster seinen Blick!“ Soviel Ungleichheit im diesjährigen Ertrag lädt Kain auf mit Neid und Wut. Er will zeigen, wer der Überlegene ist, und wer unter ihm steht.

Dieses Verhaltensmuster ist alltäglich brauchbar – für sog. „Arier“ gegen Juden, für Inländer gegen Ausländer, für Starke gegen Schwache, für Große gegen Kleine, für Hellhäutige gegen Dunkelhäutige. Einer ärgert sich voller Grimm und blickt nur noch finster nach unten in die Welt.

Genau da mischt sich Gott ein. Er tut das im Interesse derer, die ganz unten oder bedroht sind.

„Und Gott sprach zu ihm: Warum ergrimmst du? Ist es nicht so, wenn du recht handelst, kannst du frei aufblicken. Handelst du aber nicht recht, dann lauert die Sünde vor deiner Tür. Nach dir steht ihre Begierde. Du aber sollst über sie herrschen.“

Halten wir fest: Es gibt keine Erbsünde, als „erbten“ die Kinder von den Eltern den Zwang, Böses zu tun; als bestimmten allein unsere Gene und Erbanlagen das Handeln. Das wäre hübsch bequem: „Ich bin halt so, ich kann nichts dafür.“ Nein, Gott hat keine biologischen Automaten geschaffen, sondern ansprechbare und entscheidungsfähige Menschen.

Aber es gibt das Böse. Woher es kommt, sagt die Bibel nicht. Sie ist realistisch und weiß: Menschen sind zum Guten in der Lage, sonst hätte Gott nicht die Gebote gegeben und nicht seinen Messias geschickt. Menschen sind zum Bösen fähig, sonst hätte Gott nicht die Gebote gegeben und nicht seinen Messias geschickt.

Es gibt Böses, wenn andere herabgewürdigt werden, wenn Andere durch Ausgrenzung, Ablehnung, Neid, Wut oder Gewalt diffamiert werden. Böses, menschenfeindliches Verhalten kann man lernen, man kann sich verführen lassen, man kann schwach werden, man kann Mitläufer werden, wenn dergleichen attraktiv und trendy ist, vor allem aber, wenn es von oben befohlen ist. Dagegen heißt es: „Du aber sollst darüber herrschen!“

Also: Das Böse ist mit Gott und mit seinen Lebensregeln zurückzudrängen, zu überwinden, auf keinen Fall aber hinzunehmen. Oder, wenn man ihm unterlag, dann kann man von solchem Tun, von solchen Irrwegen umkehren. Ja, es gibt Neuanfänge. Es gibt Vergebung. Und wer kennt nicht solche Niederlagen oder Irrwege, wer kennt nicht Vergebung oder Neuanfänge?

Ein Beispiel haben wir vorhin in der Lesung gehört. Petrus muss von Jesus hören: Hau ab, du Satan, verschwinde. Du lügst. Du versprichst Dinge, die du nicht hältst. Wir erinnern uns: Jesus ist verhaftet, Petrus flüchtet, will mit Jesus nichts zu tun haben, obwohl er kurz vorher das Christusbekenntnis völlig korrekt aufsagte hat. Aber: Ehe der Hahn dreimal gekräht hat, hat Petrus den verhafteten und gefolterten Jesus verleugnet. Das Erstaunliche ist: Dieser Verrat schadet seiner Karriere überhaupt nicht. Er kann neu anfangen. Er wird aufgenommen unter die wichtigen Apostel, wird Bischof von Rom. Die Katholiken sagen sogar, er sei der erste Papst. Und das, obwohl Jesus ihn einen Satan nannte.

In einer anderen, innerjüdischen Auseinandersetzung mit Pharisäern und Schriftgelehrten nennt der Jude Jesus seine jüdischen Mitstreiter um das rechte Verständnis der Bibel „Satanskinder!“ Es ging in solchen innerjüdischen Auseinandersetzungen nicht zimperlich zu. Aber das Wort „Satan“ merkten sich die Christen und schlugen es den jüdischen Nachbarn gnadenlos um die Ohren Sogar die Nazis druckten Kinderbücher mit diesem Satz. Nur: Der Jude Petrus erlebte Gnade, die Juden Gnadenlosigkeit.

Ein weiteres Beispiel für Irrwege? Ein Historiker der Universität in Tel Aviv (Zwi Bacharach) untersuchte katholische und evangelische Predigten des 19. Jahrhunderts, vor allem die vom Karfreitag. Sein Ergebnis: Die Nazis mussten nicht viel neu erfinden: Was da gepredigt worden war, reichte, um Juden zu hassen, es reichte, um Christen wie Nichtchristen zu suggerieren: „Für Juden muss man sich nicht einsetzen!“ Eine Rassenideologie konnte todsicher auf folgenden Behauptungen aufbauen:  

  • „Die Juden haben Jesus umgebracht“;

  • Die Kirche ist jetzt das „wahre Israel“, das real existierende Israel fiel aus Gottes Heilsplan;

  • „Der eine Judas zeigt: Juden machen alles für Geld, sie verraten auch unseren Herrn Jesus!“;

  • „Das Alte Testament kennt Gott als einen Gott der Rache – Auge um Auge, Zahn um Zahn“;

  • „Das Neue Testament ist das Buch der Liebe!“

  • Und dann der alte Luther empfiehlt – wie viele Kirchenväter vor ihm –Synagogen- und Bücherverbrennung und Zwangsarbeit.

 

Ich sagte, es gibt Umkehr und Erneuerung. Ehe hierzulande Firmen und Vereine ihre antijüdische Gleichgültigkeit und Schuld in der Nazizeit aufarbeiteten, haben die Kirchen ernsthaft in ihre Bibel und Geschichte geschaut und entdeckt: Die genannten Argumente stimmen überhaupt nicht. Sie wurden konstruiert, um sich vom Judentum positiv abzuheben.

Aber die Sünde dieser antijüdischen Denkweise lauerte nicht nur vor unseren Türen. Sie marschierte auf breiter Front durch die Türen der Wohnhäuser, Behörden, Schulen und Kirchen ein. Und noch immer sind wir dabei, solche Vor- und Fehlurteile rauszuwerfen. In Schul- und Lehrbüchern stehen sie zwar nicht mehr. In manchen Köpfen aber immer noch. „Du aber sollst recht handeln und sollst über das herrschen, dich dem nicht unterwerfen, was in dir und vor deiner Tür, in deiner Umgebung lauert!“

Kain ist auf dem besten, genauer auf dem schlechtesten Weg, unrecht zu handeln. Er hört eine Stimme. Es ist die Stimme Gottes. Klipp und klar warnt Gott vor Irrwegen. Er hat doch – wie gesagt - keine Automaten geschaffen, die schlecht handeln müssen. Nein, die Menschen haben Ohren zu hören: haben ein Herz und einen Verstand, zu prüfen, was gut und was böse ist. Sie haben ein Gewissen, das zwar gern verfettet, verführbar oder schläfrig ist, das aber auch geweckt und geschärft werden kann. Es lebt auf, wenn es benutzt wird.

Diese Grundausstattung hat kein Mensch verloren, aus welchem Paradies oder Irrtum auch immer sie / er vertrieben wurde. Das macht unsere Würde aus; unsere menschliche Gottebenbildlichkeit verlieren wir nicht. Wir können unterscheiden und prüfen, was gut und was böse ist. Sünden sind dauernd im Angebot, tausende Sonderangebote als verführerische Möglichkeiten. Damals wie heute.

Angetrieben wird das Böse von dem stärksten Treibstoff, den es gibt, der Gier. Sie gibt es in X Ausgaben, keineswegs nur bei Bankern. Angesichts der Verführungskraft durch Gier – im persönlichen und im Völkerleben - sagt Gott knapp: „Du aber sollst über sie herrschen!“ Das ist eines der ersten Gebote in der Bibel. Sie werden in der Bibel immer weiter „verfeinert“, in neuen Zeiten neu formuliert. Sie tauchen als Doppelgebot der Liebe auf: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du, und liebe Gott mit allen deinen Kräften!“ Ich erinnere an die Zehn Gebote – all das steht schon im Alten Testament. Jesus legt sie in der Bergpredigt neu aus, Paulus in seinen Gemeindebriefen auch. Psalmen und Evangelien erzählen von nichts anderem als von Gottes und seines Messias Wegweisern.

Kain hat das Gebot gehört, doch er ist wild entschlossen, es zu überhören. Solche Abwehrhaltung ist uns nicht fremd. Die Schriftstellerin Christa Reinig beschreibt nach der Erfahrung des Holocaust und nach dem Krieg in einem Gedicht, wie bequem das Überhören geht, obwohl die Gottes Anrufe im Alltag deutlich zu hören sind – auch wenn sie von ganz unvermuteten Menschen kommen.

 

„Gott ruft Kain“
„Als Gott mich suchte, traf er mich nicht auf dem Acker.
Als Gott mich suchte, traf er mich beim Zeitunglesen.
Er kam ganz schwarz, es war ein Kohlenpacker.
Er sprach: Was ist mit Abel gestern los gewesen?
Ich sagte: Ich habe nichts gelesen.
Er sprach: Der Mensch lebt nicht vom Zeitunglesen und vom Essen.
Ich sagte: Sondern vom Vergessen.
Er sprach: Was glaubst du, hast du ein ewiges Gesicht?
Ich sagte: Manchmal glaube ich und manchmal nicht.
Er sprach: Und weißt von nichts und hörtest keinen Schrei?
Ich hörte wohl: Ich ging vorbei.“

Gott zu hören braucht man kein „ewiges Gesicht“, keine spirituelle Erfahrung. Aber was um uns herum passiert, das wahrzunehmen, darauf kommt es an. Mit Christa Reinig weiß ich: Abel und Kain sind meine Nachbarn und ich ihr Nachbar. Alles geschieht in der Öffentlichkeit, das Ausgrenzen und Abholen der Juden. Vorurteile werden auch nicht stumm gehandelt.

Die Einrichtung von Konzentrationslagern stand in den Zeitungen. Der Abtransport der Jüdinnen und Juden geschah auf unseren Straßen und Bahnsteigen. Im Gesang- oder Sportverein waren wie in Schulklassen oder Universitäten plötzlich einige Menschen nicht mehr da. In den Industrie- und Handelskammern genau so wie in den Ärzte- und Handwerkskammern waren die jüdischen Konkurrenten ausgeschaltet. 13% mehr freie Stellen boten zB die Universitäten an für Physiker, nachdem man die jüdischen Physiker entlassen hatte. Da waren doch berufliche Schnäppchen oder Karrieren zu machen.

Je mehr über die damalige Zeit geforscht wird, umso stärker zeigt sich: Man konnte im Alltag mehr wissen und kleine Tapferkeiten tun als viele nach 1945 behaupteten. Da muss ich gar nicht an die großen Namen der Weißen Rose, der Bekennenden Kirche, der Arbeiterbewegung oder des 20. Juli denken. Sie waren wenige. Dass auch sie oft verfolgt wurden, verdanken sie nicht nur den Denunzianten und der Polizei, sondern auch jenen, die wie Kain denken „Soll ich der Mitmensch eines Mitmenschen sein?“ Wieso gerade ich?

Jetzt höre ich eine Stimme, die sagt: Herr Stöhr, urteilen Sie nicht arrogant über die Generation der Großeltern und Eltern. Unehrlich wäre meine Richterpose, wenn sie den Eindruck erweckte: „Mir wäre das nicht passiert!“ Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte.

Wichtig ist der Hinweis auf jene, die halfen. Es gab Christen und Nichtchristen, die geholfen haben, Sie überhörten Gottes Frage nicht; „Wo ist dein Bruder Abel?“ Sie fälschten Pässe, versteckten Juden, machten den Mund auf und machten nicht alles mit, was befohlen und was der dem beruflichen Weiterkommen gut tat. Der Nobelpreisträger für Physik, Max Planck (damals Präsident der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, die heute Max-Plack-Gesellschaft heißt), ging damals zu Hitler und setzte sich für die verjagten jüdischen Kollegen ein. Hitler brüllte ihn an: „Wir kommen ohne Juden aus.“ Und ein anderer Nobelpreisträger schrieb servil das gewünschte Buch „Deutsche Physik“, worin die Namen von Albert Einstein oder Niels Bohr neben anderen Juden fehlten..  

Harter Schnitt.

Locker sagt Kain zu seinem Bruder: „Komm lass uns aufs Feld gehen!“ Dort schlug er ihn tot. Kain will draußen auf dem Acker Zeugen vermeiden.

Gott aber wird Zeuge. Er aber will kein Blutvergießen. (Im Hebräischen steht der Plural von Blut, den wir im Deutschen nicht kennen, wohl aber Mengen von vergossenem Blut) Vergossenes Blut schreit zum Himmel. Ihm sind die Opfer nicht gleichgültig, aber auch die Täter nicht, die Blut vergießen: „Da sprach Gott zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel?“

Das Gedicht von Christa Reinig zeigt: Bei solchen Fragen, wenn ein Mitmensch leidet oder verschwindet, dann läuft der Mensch mit seinen in Ausreden zur Hochform auf. „Soll ich meines Bruders Hüter, meiner Schwester Hüterin sein?“ Wörtlich: Soll ich der Hirte eines Hirten sein? Mit einem frechen Wortspiel im Hebräischen verharmlost Kain die Anfrage Gottes. „Was ist mit Abel gestern losgewesen?“ Weiß ich nicht! Ich lasse Unangenehmes nicht an mich ran. Das tu ich mir nicht an. Ich tu einfach so, als ob ich nicht mitkriege, was nebenan oder in der Welt passiert. Ich geh‘ meinen Weg.

Die Frage „Soll ich meines Mitmenschen Hüter sein?“ erwartet als Antwort ein klares „Ja!“ Sofort folgen die Fragen: Wer ist denn meine Schwester, mein Bruder, für die ich mitverantwortlich bin? Ich bin doch kein Mörder. Natürlich nicht. Jesus dreht die Frage um: „Wem bin ich der Nächste?“

Aber Töten beginnt mit bösen Gedanken und negativen Urteilen über andere, auch wenn es nie zu Mord und Totschlag kommt. Wir kennen Jesu Auslegung des Gebotes „Du sollst nicht töten!“ in der Bergpredigt: Schon der Mensch tötet, der seinen Bruder, seine Schwester Idiot, Narr, Hohlkopf nennt oder sie hasst. Wer sie verachtet, wer sie als lebensunwertes Leben definiert, wer sie mit Ungeziefer oder einem Krebsgeschwür vergleicht und somit ausschaltet, der tötet.

Ich stelle mir manchmal vor, die vielen Denunzianten, Klatschverteiler und Vorurteilsbesitzer hätten damals, 1933 – 1945, facebook oder ähnliches gehabt. Es wären anonym noch mehr Verfolgte ans Messer geliefert worden.

Die alten Geschichten der Bibel sind unheimlich aktuell, wenn ich nicht - wie Kain - frech jede Verantwortung ablehne für die, die zB als Juden bei ca 20% der Deutschen auf Vorurteile stoßen, als Muslime bei ca 60 – 70% sowie als Roma und Sinti bei ca 90 %. Was geschieht zB in Abschiebhaftanstalten, wo Flüchtlinge einsitzen, obwohl sie kein deutsches Gericht verurteilt hatte. Sie wollten nur vor Hunger, Armut, Bürgerkrieg oder Arbeitslosigkeit in die reichen Länder fliehen.

Die nordafrikanisch-islamischen Staaten, die wir bezahlten und mit Waffen, Stacheldraht oder Nachtsichtgeräten belieferten, halten uns die afrikanischen Flüchtlinge heute nicht mehr vom Leib. Ihr Blut schreit aus dem Mittelmeer, ein riesiger Friedhof ertrunkener Flüchtlinge. Das Blut der Brüder und Schwestern schreit zum Himmel auch von all jenen Orten, wohin wir Waffen liefern.

Und Drohnen will unser Verteidigungsminister jetzt auch noch haben. Er sagt, wir fahren ja auch nicht mehr mit der Postkutsche, sondern mit modernsten Verkehrsmitteln. Ich frage: Brauchen wir auch zur Beförderung vom Leben in den Tod die modernsten Instrumente? Sie seien „ethisch neutral“ und schonten die eigenen Menschenleben. Ist das neutral? War der Stein, mit dem Kain seinem Bruder Abel den Schädel zertrümmerte, neutral? War das Gas für Auschwitz, Belzec, Sobibor usw auch neutral? Oder doch nicht? Die Degesch (Deutsche Gesellschaft zur Schädlingsbekämpfung), eine hundertprozentige Tochter der damaligen IG Farben, steigerte mit ihrem Verkauf des Gases ihre Aktienkurse um mehr als 400%.

Panzer, Drohnen, Nachtsichtgeräte, Kernernergieausrüstung oder Funkgeräte sind nicht neutral. Die Anwender, um das Wort Täter zu vermeiden, und die Opfer, fast immer Zivilisten, sind nicht neutral. Menschen haben die Instrumente in der Hand oder dulden sie, wenn sie sie nicht selbst bedienen. Und Menschen fragen, was rechtes oder unrechtes Handeln ist. Denn keiner ist ohne Mitmenschen. Kein Kain lebt ohne Abel.

Aber so höre ich: Die Produktion und der Export von Waffen und High-Tec bringen uns Wohlstand und Arbeitsplätze. Richtig. Aber anderen bringen sie den Tod. Kain heute liest das in der Zeitung. Er hat abzuwägen, was gut, was böse ist. Uns geht es nicht anders. Blut schreit von unserer Erde überall dort, wo wir menschliches Leben gefährden, wo wir denken, kaputte Beziehungen in Familien oder zwischen Gruppen und Völkern seien am besten mit Druck, Erpressung, Bestechung oder Gewalt zu heilen.

Die Bibel denkt da völlig anders. Recht und Gerechtigkeit sind ihre Hauptworte und Haupttaten, dazu gehören Völkerrecht und Menschenrechte, dazu gehört die Verantwortung aller für eine gerechtere Verteilung des Reichtums auf unserer Erde. Daran mit Liebe zu arbeiten, ist für Kain und Abel genau so mühsam wie für uns. Mühsamer als zuzuschlagen oder eine Gleichgültigkeit zu dulden, die schnoddrig oder resigniert sagt „Soll ich verantwortlich sein für meine Mitmenschen?“ Ich kann doch nichts machen. Die christliche Minderheit in unserem Land ist zwar sehr klein, aber sie ist der Mund und die Hand Gottes, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie stiftet Unruhe mit der Frage Gottes. „Wo ist dein Bruder Abel?“

Harter Schnitt.

Noch einmal zurück zur Geschichte von Kain und Abel. Der eine ist tot. Umgebracht in Handarbeit. Wir haben modernere Mittel, wir fahren auch nicht mehr in Postkutschen. Haben wir aber die von Gott angefragte Verantwortung für den Mitmenschen auch schon modernisiert, zB indem wir für mehr Recht und Gerechtigkeit arbeiten als für mehr Rüstung? Wie sieht eine Verantwortung für das 21. Jahrhundert aus, nachdem wir gelernt haben, dass weder Gewalt noch Waffen Konflikte lösen können? - Verantwortung gerade für den, der anders aussieht, anders singt, anders spricht, anders denkt oder anders glaubt als ich selber? Oder sind wir nur moderner als Kain, wenn es um unsere Selbst- und Machtbehauptung geht?

Die Folgen der Vorurteile, die zum Töten führen, zeigt unsere deutsche Geschichte. Die Vernichtung von einem Drittel des jüdischen Volkes in Europa in einem blutigen Weltkrieg - mit Millionen Toten und verwüsteten Städten in ganz Europa - ist noch in lebendiger Erinnerung.

Die Folgen waren auch für Kain hart: Flucht, Vertreibung, Verstecken, keinen festen Wohnsitz, Angst, dass die Folgen seines Tuns ihn einholen. Wo bleibe ich? Habe ich denn einen Mitmenschen? Er wird nachdenklich nach dem Blutvergießen. Erst danach. Auch wir haben erst nach Krieg und Holocaust nachgedacht, wie eine neue Beziehung zum jüdischen Volk aufzubauen wäre, wie eine gute Nachbarschaft mit Frankreich und Polen zu gestalten wäre. Kain verdrängt nichts. Er schreit: „Ich muss unstet und flüchtig sein auf Erden. Es wird mich totschlagen wer mich findet!“

Und was tut Gott? „Und Gott versah Kain mit einem Zeichen, damit ihn keiner erschlüge, der ihn fände!“ Wie das Zeichen aussah, wissen wir nicht. Aber eines ist klar: Mit diesem Zeichen fängt die Feindesliebe an. (Nicht erst im Neuen Testament) Gott macht sie uns vor. Wir haben sie weniger geübt und praktiziert als die Erfindung von Gegnern und falschen Urteilen, was zur Gewalt führen muss.

Es gibt die Menschen, die ohne große Worte verantwortlich für einen oder für viele Abels sind.

Da gibt es jene,

  • die zur Demonstration gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gehen,

  • die einem afghanischen Kind Nachhilfeunterricht geben,

  • die Migranten bei deutschen Behörden helfen,

  • die die heute eindeutigen Worte der katholischen und evangelischen Kirchen ernst nehmen: Keine Waffenexport in Krisengebiete!

  • Da sind jene, die aufstehen und weggehen, wenn Witze über Juden, Türken, „Zigeuner“ oder Polen gemacht werden.

 

Auf die wichtige Frage „Wo ist dein Bruder Abel?“ kann jede und jeder eine persönliche Antwort geben: „Ja, ich bin ein Hüter meines Bruders, meiner Schwester!“  A m e n

Eine Predigt im Februar 2013 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Soden im Rahmen der Ausstellung „Holocaust und Rassismus heute”

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