Die Stimme der Geschichte spricht vom Leben
von Klaus Honold

Am 3.2.2013 wurde in der Wilhelm-Glässing-Straße in Darmstadt das neue Jüdische Museum eröffnet. Es ersetzt die Schausammlung jüdischer Erinnerungsstücke, die bislang schon im ersten Stock des Gemeindehauses gezeigt worden war.

Der Holocaust hat dem jüdischen Volk doppelt Unrecht zugefügt. Nicht genug, dass sich Juden beispielloser Verfolgung ausgesetzt sahen. Über das historische Verbrechen hinaus, dem sie anheimfielen, ist ihre Identität nun auf alle Zeit mit dieser Opfergeschichte verknüpft. Von welcher Seite auch immer man sich dem Judentum nähert: Der Weg führt nach Auschwitz.

Welches Verhängnis, dass auf ewig der jüdische Tod sich vor das jüdische Leben stellen wird! Es ist dieses Bewusstsein, das Gespür für das Zwanghafte dieser Sicht, was allmählich ein Umdenken beim Gedenken bewirkt. Und die Museumspädagogik zu neuen Ansätzen bringt, inhaltlich wie konzeptionell. Möglich wurde das vielleicht auch, weil die Erinnerungsarbeit allmählich von einer Sache der Opfer zu einer Sache der Täter wird. Und weil sich die jüdischen Gemeinden nach 1989 füllten – mit Menschen, denen der Holocaust oft ebenso fern war wie die Traditionen jüdischen Lebens, die rituellen wie die familiären.

Die spezifische Wärme, die dieses Leben einst geprägt hatte, gebe es nicht mehr, klagte Hannah Arendt noch 1964. „Dieser Verlust war der Preis der Freiheit“ – der Preis, den jene gezahlt hatten, denen die Emigration gelungen war. Zum Glück behielt Hannah Arendt nicht recht. Wer das umtriebige, vielgestaltige Leben gerade in der Darmstädter jüdischen Gemeinde kennt, weiß, dass diese Wärme wiedererstanden ist – anders, doch nicht weniger familiär. Eine Rekonstruktion.

In diesem Sinne ist auch das neue Jüdische Museum eine Rekonstruktion. So wie die Darmstädter Künstlerin Ritula Fränkel es in zweijähriger Arbeit gestaltet hat, verweist es nicht nur auf den Wert des Gezeigten, sondern auch auf den Wert des Zeigens selbst. Aus der Präsentation von eher zufällig Bewahrtem ist die erläuternde Darstellung der Dinge geworden, deren Zusammenschau anfängt, Geschichte zu erzählen.

Von „stummen Zeugen“ sprach man früher. Bei Ritula Fränkel sprechen die Dinge tatsächlich. Der große Koffer, gefüllt mit den Habseligkeiten der Emigration – Teddybär und Puppenkleid, Niveadose und Judenstern, Nähmaschine und Kopierstift – ist an sich schon berührend. Doch wenn man seine Schubfächer öffnet, meldet sich eine Stimme aus der Gegenwart und berichtet vom Schicksal jüdischer Familien aus Darmstadt.

Ähnlich, wie man es vom Jüdischen Museum in Hohenems kennt – bis heute eins der schönsten im deutschen Sprachraum –, steht nun auch in den Darmstädter Vitrinen nichts mehr für sich allein. Die Art der Hervorhebung bringt die rituellen Gegenstände zum Leuchten, das Widderhorn oder den Zeiger, der beim Deuten in der Tora die menschliche Hand verlängert. Immer aber wird zugleich auf den Gebrauch verwiesen – und jene, denen der Gebrauch vertraut war. Der hohe Haufen Gebetbücher bezeugt religiösen Alltag; weil es aber die vor der Flucht zurückgelassenen Bücher sind, wird zugleich der Menschen erinnert, die gerade nur ihre Haut vor den Deutschen hatten retten können.

Weder der Raum, über den das neue Museum verfügt, noch die Zahl der Exponate ist wesentlich größer geworden. Die ästhetische überzeugende, pädagogisch behutsame Neuordnung aber macht alles anders. So hat Ritula Fränkel fortgesetzt, was ihr am selben Ort 2001 mit der überwältigenden Ausstellung „X-odus“ (gemeinsam mit ihrem Mann Nicholas Morris) gelungen war und sich dann bei der Gestaltung der Gedenkstätte Liberale Synagoge wiederfand: das subtile Spinnen eines Lebenswegnetzes, dessen Fäden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschlagen sind.

Wie reich jüdisches Leben zu jeder Zeit gewesen ist, verdeutlich schlaglicht- und ausschnitthaft die berühmte „Darmstädter Haggadah“, die Erzählung von der Selbstbefreiung des jüdischen Volkes aus ägyptischer Sklaverei, das in jedem Frühjahr zum Pessachfest aufgeblättert wird. Das Original des Prachtbandes von 1430 wird in der Landesbibliothek verwahrt; ein Faksimile war seit je im Jüdischen Gemeindehaus zu sehen.

Ritula Fränkel hat nun Bildfolgen des Codex großformatig auf eine Tapete drucken lassen, die einen kleinen „Time Tunnel“ formt. Je nachdem, welche Treppe der Besucher wählt, betritt oder verlässt er das Museum durch diese Zeit-Passage – staunend über Prallheit, Ungeniertheit, Fröhlichkeit eines mittelalterlichen Alltags, den hier offenkundig Alte und Junge, Männer und Frauen, Christen und Juden gleichberechtigt teilen. Mit diesem visuellen Kniff verwandelt das Museale sich zurück zur Vision.

Darmstädter Echo, 2.2.2013

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