Friedrich Nietzsche
von Klaus-Peter Lehmann

Unterschiedliche Nietzsche-Rezeptionen
Die Philosophie von Friedrich Nietzsche (1844-1900) liefert eine reihe von eingängigen Schlagworten, die beanspruchen, den Beginn eines neuen Zeitalters zu proklamieren: Gott ist tot; Umwertung aller Werte; Philosophie mit dem Hammer. Es gehe um die Befreiung des Menschen von Metaphysik und Moral, um Freiheit ohne vorgegebene höhere Werte oder Gebote. Humanisten, vor allem aber Rassisten nahmen diese Stichworte auf. Denn Nietzsches Rede von der Züchtung des neuen Menschen brachte seine Philosophie in Nachbarschaft zum Nationalsozialismus. Bis heute ist umstritten, ob Nietzsche Antisemit war und ein Vordenker nationalsozialistischer Unmenschlichkeit oder nicht.

Die Umwertung aller Werte: Rom gegen Judäa
Die mit diesem Schlagwort angedeutete kulturgeschichtliche Wende zielt auf ein Loskommen von allen Moralwerten sowie auf das hohe recht und Vorrecht auf Dasein.  (1)  Daß der Mensch besser und böser werden muß, bestimmt Nietzsche zum menschheitsgeschichtlichen Ideal. Es sei nach der Antike nicht wieder erreicht worden, auch nicht in der Renaissance.  (2)  In dem furchtbaren jahrtausendelangen Kampf auf Erden um die endgültige Durchsetzung des aristokratischen Menschentypus, des starken, heiteren und gewissenlosen Übermenschen, stehen sich Rom und Judäa in todfeindlichem Widerspruch gegenüber.
Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen… des Hasses der Ohnmacht festgehalten haben, nämlich die Elenden sind allein die Guten, die Armen, die Ohnmächtigen, die Niedrigen,… die Leidenden, Entbehrenden, Kranken… dagegen ihr Vornehmen und Gewaltigen,… die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, ihr werdet auch die Verdammten sein.
Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt mit den Juden, der Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und… siegreich gewesen ist… Die Erlösung des Menschengeschlechts (nämlich von den Herren) ist auf dem besten Wege; alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends.  (3) 

Befreiung von der Sklavenmoral
Umwertung aller Werte meint die Befreiung der Menschen von dieser durch Juden und Christen zur Herrschaft gebrachten Sklavenmoral. Griechisches und jüdisches Lebensgefühl seien einander wesensfremd. Dem jüdischen Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist, sei der griechische Gedanke, daß auch der Frevel Würde haben könne, nicht nachvollziehbar. Die Sünde sei eine jüdische Erfindung,… das griechische Altertum – eine Welt ohne Sündengefühle.  (4) 
Also sprach Zarathustra ist das berühmte Werk Nietzsches, in welchem er seine Moral der Mitleidlosigkeit in weltgeschichtlich programmatischer Gebärde den Tafeln des Sinaibunde3s entgegenhält: Siehe, hier ist eine neue Tafel… schone deinen Nächsten nicht… ein Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen! Was du tust, das kann dir keiner wieder tun. Siehe, es gibt keine Vergeltung… Ist in allem Leben selber nicht – Rauben und Totschlagen?... Zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten.  (5) 

Antisemitismus als aristokratischer Instinkt
Aus der tiefen Unterschiedlichkeit des griechischen und römischen Lebensgefühls (Frevel = Würde) vom jüdischen und christlichen (Frevel = Sünde) ergibt sich mit Notwendigkeit eine ebenso tiefe, quasi natürliche Abneigung: Die tiefe Verachtung, mit der Christ in der vornehm gebliebenen Welt behandelt wurde, gehört eben dahin, wohin heute noch die Instinktabneigung gegen Juden gehört: Es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden.  (6) 
In der gefühlsmäßigen Abneigung gegen Juden, im antisemitischen Ressentiment sah Nietzsche die Witterung für die Front der Aristokraten im gr0ßen Krieg und Menschheitsdrama Rom gegen Judäa. Das Wissen um die notwendige, natürliche und mörderische Unerbittlichkeit dieses Kampfes verkündet der einsame Prophet, der Philosoph mit dem Hammer.

Der unentbehrliche und unerbittliche Krieg
Nietzsche sah im Zertrümmern der Kultur, im Krieg, das unentbehrliche Mittel, um die Völker zum großen Ideal der Antike wiederaufzurichten.
Der Krieg ist unentbehrlich… Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelentum, von der Menschheit noch viel zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch matt werdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Haß, jene Mörderkaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisierende Glut in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen große Verluste… gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten… stark und sicher mitgeteilt werden könnte.  (7) 

Das Mitleid als letzte Sünde
Aus dieser Weltsicht ergibt sich mit innerer Konsequenz als ethischer Imperativ, dass der Mensch jede mitmenschliche Regung in sich abtöten soll. Nietzsche sieht das Mitleid als die letzte und entscheidende Sünde gegen das Kommen des Übermenschen.
Ich habe als Versuchung Zarathustras einen Fall gedichtet, wo ein großer Notschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen tätig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat – sein eigentlicher Beweis von Kraft.  (8)
Im Völkermord am Judentum durch den deutschen Nationalsozialismus wurde die Mitleidlosigkeit, jene Mörderkaltblütigkeit mit gutem Gewissen, zur Tugend der mordenden SS-Elite erhoben:
Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Das ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.  (9)

(1) Ecce Homo, Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, Hrg. K. Schlechta, 1966, II, 1124
(2) Aus dem Nachlass der achtziger Jahre, III, 595
(3) Zur Genealogie der Moral, II, 779-781, 795
(4) Die fröhliche Wissenschaft, II, 131
(5) Also sprach Zarathustra, II
(6) Aus dem Nachlass der achtziger Jahre, III, 600
(7) Menschliches, Allzumenschliches, I, 687
(8) Ecce Homo, II, 1075f
(9) Aus einer Rede des Reichsführers-SS H. Himmler, s. W. Hofer, Der Nationalsozialismus, 1957, S. 114

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